Kurzbiographie Victor Krafts

Victor Kraft wurde am 4. Juli 1880 in Wien geboren. (Die folgenden Ausführungen folgen in erster Linie Kainz 1976.) Der Vater war Lehrer, ebenso der der Großvater mütterlicherseits. Im Jahre 1899 legte er sein Abitur ab und studierte anschließend Geographie und Geschichte. Kraft strebte zunächst eine Lehrerlaufbahn in diesen Fächern an. Daneben hörte er Vorlesungen in Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Geologie und Botanik. Die Philosophie, jenes Fachgebiet auf dem Kraft später bekannt werden sollte, wurde ihm zunächst durch die Philosophische Gesellschaft seiner Heimatstadt unter Alfred Höfler und in privaten Diskussionszirkeln nahe gebracht. So diskutierte er mit Otmar Spann in der Buchbinderwerkstatt von dessen Vater mit Otto Weininger, Oskar Ewald, Hermann Swoboda und Emil Lucka. So sehr sich diese damals noch jungen Männer später in ihren philosophischen Ansichten unterscheiden sollten, so sehr eint sie eine kritische Distanz zum damaligen Empiriokritizismus und Positivismus wie er von Avenarius und Mach vertreten wurde. Die dezidiert kritische Haltung gegenüber Mach kommt bereits in Krafts Dissertation "Die Erkenntnis der Außenwelt" zum Vorschein. Dort entwickelt er eine realistische Position, die er Zeit seines Lebens nie verlassen sollte. Im Anschluss an seine philosophischen Studien studierte er ein Semester in Berlin bei Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Carl Stumpf und Heinrich Wölfflin. Im Anschluss daran bereitete Kraft seine Habilitation vor, diese Anstrengungen wurden aber durch Krankheit mehrfach unterbrochen, so dass er sich erst 1914 bei Adolf Stöhr (als Referenten), Friedrich Jodl und Alois Höfler habilitierte. Als Grundlage diente ihm sein Buch „Weltbegriff und Erkenntnisbegriff“ aus dem Jahre 1912. Die Professoren Jodl und Laurenz Müllner bezeichneten Krafts Plan einer akademischen Karriere als aussichtslos, so dass er zum Broterwerb 1912 als Praktikant in die Wiener Universitätsbibliothek eintrat. Damit setzte eine Doppelbelastung ein, denn Kraft war

„lange Jahre hindurch Vorstand der Vereinigung österreichischer Bibliothekare und deren Vertreter in der Gewerkschaft der wissenschaftlichen Beamten, desgleichen Vortragener bei den Kursen zur Heranbildung der wissenschaftlichen Bibliothekare und staatlicher Prüfungskommissar bei der Fachprüfung für den höheren Bibliotheksdienst“ (Kainz 1976:523).

Trotz dieser Belastung arbeitete er an einem Buch, welches zwar allgemeine Anerkennung erhielt, ihm aber Kraft nicht die erhoffte Professur verschaffte: „Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden“. Im gleichen Jahre erhielt er den Titel eines „außerordentlichen Universitätsprofessors“ verliehen. Die Verleihung dieses Titels ist im Zusammenhang mit dem Scheitern zur Erlangung einer ordentlichen Professur zu sehen – die Kanzel des verstorbenen Wilhelm Jerusalem wurde, weltanschaulich motiviert, mit Hans Eibl besetzt: Das Unterrichtsministerium wünschte sich einen Lehrstuhlinhaber, der die in der Universität gewünschte Philosophie vertritt. „Der Fall Eibl/Kraft [...] dokumentiert somit en nuce die Präferenz des Unterrichtsministeriums und der Mehrheit der Professorenschaft für eine scholastische Weltanschauungsphilosophie“ (Stadler 1997:573, vgl. auch Kraft 1973:5).

Mit der Berufung von Moritz Schlick im Jahre 1922 begann in Wien sich der so genannte Wiener Kreis zu konstituieren. Kraft hingegen wahrte gegenüber dem Wiener Kreis sowohl eine inhaltliche als auch eine eine politische Distanz: Seine nüchterne Art zu Philosophieren und die Berücksichtigung vielfältigster Wissenschaften, wie in der 1925 erschienen Monographie beeindruckend dokumentiert, boten zwar Berührungspunkte, aber sein offenes Eintreten für den Realismus und seine Distanz gegenüber dem alten Positivismus, der mitunter neu (d.h. logistisch) wiederbelebt wurde, ließen ihn seine eigenständige Position wahren. Politische Ambitionen waren ihm fremd. Seine etwas randständige Position im Wiener Kreis deutet sich auch darin an, dass er als einziges Mitglied dieses Zirkels eine Monographie zur praktischen Philosophie verfasste (Kraft 1937). (Zu diesem Thema finden sich von anderen Mitgliedern des Wiener Kreises vereinzelt Publikationen, doch Kraft nimmt diesbezüglich eine Ausnahmestellung ein. Vgl. Hilgendorf 1998) Diesem 1937 erschienen Buch sollte allerdings so gut wie keine Wirkung mehr beschieden sein, da im darauf folgenden Jahre die Schriften des Wiener Kreises verboten wurden. Kraft war bereits 59 Jahre alt, als er zwangspensioniert wurde. Aufgrund der jüdischen Konfession seiner Gattin galt er gemäß den „Nürnberger Rassegesetzen“ als „versippt“. Bereits im Jahre 1938 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen. Die durch diese prekäre Situation gewonnene Zeit nutzte er zu einer Reihe von Arbeiten zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Mathematik und Physik. Eine Reihe von Abhandlungen und Rezensionen in der schwedischen Zeitschrift „Theoria“ legen von diesen Anstrengungen ein Zeugnis ab. Nach dem Kriege, die unmittelbare Nachkriegszeit in großer Not darbend, wurde er 1947 zum Generalstaatsbibliothekar ernannt, allerdings nach drei Monaten wieder pensioniert. Die große Not der damaligen Zeit zeigt sich auch darin, dass ihm Karl Popper aus Neuseeland ein Hilfspaket hat zukommen lassen; in Briefen an Popper zeigt er sich diesem sehr dafür erkenntlich (Hacohen 2002:236). Im Jahre 1947 wurde er wieder zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt, im Jahre 1950 erhielt er den Titel eines ordentlichen Professor und wurde Mitglied des Vorstandes des Philosophischen Instituts. Kraft, formal nun auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, war bereits 60 Jahre alt. 1947 erschien eine Studie die Kraft (Kraft 1947) während des Krieges angefertigt hat, deren ursprüngliches Manuskript allerdings verloren ging, so dass er weitgehend von neuem beginnen musste: das Büchlein „Mathematik, Logik und Erfahrung“. In gedrängter Form legt Kraft hier seine eigenständige Position dar. Von ca. 1948 bis 1954 wurde von in Wien ein Diskussionskreis, unter der Schirmherrschaft des „Österreichischen College“ etabliert, der talentierten Studenten, bemerkenswerterweise vornehmlich naturwissenschaftlicher und ingenieurwissenschaftlicher Fachrichtung, ein Podium für erkenntnistheoretische und methodologische Diskussionen bot: der bekannteste Teilnehmer dieses Kreises war Paul Feyerabend. In den 1950er Jahren schrieb Kraft eine „Einführung in Philosophie“, das Buch aus dem Jahre 1937 erlebte eine zweite (aktualisierte) Auflage und Kraft schrieb eine Monographie zum „Wiener Kreis“. Dieser Monographie ist es geschuldet, dass Krafts Nähe zum Wiener Kreis oft überbetont wird: Zum einen entspricht die Ansicht, dass es eine philosophische Position im Wiener Kreis gegeben hat nicht der Wirklichkeit und zum anderen hat Kraft eine Position vertreten, die mit der Position der Hauptprotagonisten (Carnap, Neurath, Schlick) nicht übereinstimmt (vgl. Kraft 1960:V). 1960 widmete er sich sein Hauptwerk, die „Erkenntnislehre“, zum 80. Geburtstag, 1968 erschien „Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral“ und die Bücher aus dem Jahre 1925 und 1947 erlebten eine Neuauflage. Im Grunde stellen die Zweitauflagen angesichts der umfangreichen Umarbeitungen eigenständige Abhandlungen dar. Die Fülle der Monographien darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kraft miterleben musste, dass es auch im Nachkriegsösterreich nicht möglich war, eine an wissenschaftlichen Standards orientierte Philosophie zu etablieren. Am 3. Januar 1974 starb Victor Kraft, der Briefwechsel mit Karl Popper belegt, dass er bis zuletzt an philosophischen Problemen gearbeitet hat.

Betrachtet man Krafts Leben rückblickend, so muss auffallen, dass es ihm erst sehr spät gelang, eine seinen Fähigkeiten entsprechende Position zu erlangen. Die glückliche Fügung auch im höchsten Alter nichts an geistiger Schaffenskraft eingebüßt zu haben und Krafts lebenslanges Ringen mit philosophischen Problemen trugen mit zu Krafts eigentümlicher, präziser Art des Philosophierens bei. Krafts späte Schriften sind an Dichte, Klarheit und Präzision schwer zu übertreffen. Dabei vermied er eine formalistische Ausdrucksweise. Weiterhin ist auffällig, dass er in der Diskussion mit Wissenschaftlern der jeweiligen Disziplin suchte und anhand konkreter wissenschaftlicher Probleme seine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie entwickelte: Jodl war nicht nur ein herausragender Philosoph, sondern auch der Autor eines umfänglichen „Lehrbuches der Psychologie“, welches übrigens Kraft mit anderen Gelehrten nach Jodls Tod nochmals herausgab. Ausgehend von seiner geographischen Ausbildung verfasste Kraft einige kurze Abhandlungen zur Methodologie der Geographie. Eindrucksvollstes Zeugnis dieser Art des Philosophieren ist Krafts Buch über die wissenschaftlichen Methoden (Kraft 1925/1973). Dabei betreibt er keineswegs etwas, was man heute unter dem Begriff der science studies subsumieren würde, er war sich der Grundlagen seiner eigenen Disziplin durchaus bewusst. Erst dieses Denken von den eigenen Grundlagen bis hin zu den feinsten Problemverästelungen macht es möglich, ein Buch mit dem Titel „Erkenntnislehre“ zu verfassen – ein Unterfangen, welches wohl in der heutigen Wissenschaftslandschaft wohl kaum noch unternommen werden würde.

Der „bodenlosen“ philosophischen Spekulation erteilt Kraft damit eine Absage, und so lobt er bei aller Distanz Mach dann doch noch für dessen Versuch, Philosophie mit der Rückbindung an die Wissenschaften zu betreiben (Kraft 1966). Kraft war also keinesfalls ein „Denker im Lehnstuhl“ und dennoch zeugen Biographie und Werk davon, dass er die kontemplative Kraft und Ruhe gefunden hat, philosophische Probleme anzugehen. Wenn es eine Veränderung in Krafts Position gegeben hat, so besteht sie in der immer besseren und präziseren Formulierung seiner bereits in den frühsten Schriften angelegten Position. Das bedeutet keinesfalls intellektuellen Stillstand, denn die betreffenden Wissenschaften, die Kraft seiner Arbeit ja zugrunde legt unterliegen einem Wandel und zudem zeugt es von großer geistiger Anstrengung, seine Position immer wieder neu zu formulieren und zu verbessern.

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