Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler

Thesen zur materialistischen Bibelexegese

Zum Impressum
1. Die historisch-materialistische Geschichtsschreibung beschreibt Geschichte als Abfolge verschiedener gesellschaftlicher Systeme, in denen kennzeichnend ist, daß gesellschaftlicher Reichtum nicht gleichmäßig an alle Mitglieder verteilt ist, sondern sich in der Verfügungsgewalt einer zahlenmäßig sehr kleinen Gruppe befindet.  Dieser Zustand wird aber von anderen Gruppen der Gesellschaft als sehr unbefriedigend erlebt. Ein großer Teil des öffentlichen Lebens ist von dieser Unzufriedenheit und ihren vielfältigen Äußerungen bestimmt. Die materiellen, genauer: finanziellen und sozialen Lebensumstände prägen den Mitgliedern jeder dieser verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen bestimmten Interessenhorizont ein, der in dieser bestimmten Gruppe allgemein ist, von nahezu allen geteilt wird. Diese Interessengemeinsamkeit wird als Klassenbewußtsein, als Wissen um die eigene Lage und die der eigenen Gruppe im Gesamtzusammenhang der ganzen Gesellschaft, bezeichnet. Die um den gesellschaftlichen Reichtum rivalisierenden Gruppen werden als Klassen bezeichnet und ihr Ringen um Anteile an diesem Reichtum als Klassenkampf. Bisher waren alle Gesellschaftssysteme der Vergangenheit von ungleicher Verteilung der Güter einer Gesellschaft gekennzeichnet und als Folge hiervon von Kämpfen um eine gleiche Verteilung. Diese Kämpfe der Klassen um Anteile am Gesamtvermögen bildeten einen wesentlichen Teil des öffentlichen Lebens, also der Politik. Die Methoden dieser Kämpfe sind sehr verschieden und äußerlich oft kaum gewalttätig: Handelsgepflogenheiten, Marktgesetze, militärisch-polizeilicher Zwang, Aufruhr, moralische Apelle, Verhandlungen, Diebstähle, Streik, Tarifabkommen sind nur einige          der Kampfformen des Klassenkampfes. Daneben wirken auf einer ideologischen Ebene die Legitimation der eigenen Forderungen und die Bestreitung jeder Berechtigung der Forderungen der jeweils entgegengesetzten Klasse vorbereitend für eine Eskaltion der Auseinandersetzungen auf der Ebene direkter Gewalt. - Dies ist, sehr verkürzt dargestellt, der Ansatz einer materialistischen Geschichtstheorie, der in Auslegung und Verständnis der Bibel fruchtbar gemacht werden soll.

2. Wenn alle bisherigen Gesellschaftsformen von der Urgesellschaft über Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus bis zum Kapitalismus von ungleicher Verteilung der Reichtümer bestimmt waren, wenn bisher jedes gesellschaftliche System von Kampf um diese Verteilung geprägt war, so ist auch die Bibel, geschrieben in der Zeit der antiken Sklaverei, davon nicht unberührt geblieben. In der Bibel spiegelt sich dieser Kampf wieder. Er ist aber selten explizit thematisch, wiewohl doch die Themen der biblischen Erzählungen bestimmend und durchwirkend. Beispiele für die Unzufriedenheit der unterdrückten Klassen, die unter massiver sozialer Not leiden, sind: Der Mose-Aufstand in Ägypten, die Landnahme, die Sorgepflichtgesetze des Pentateuch gegenüber "Fremden", die Skepsis Jothams bei der Königswahl, die Inthronisation Sauls mit vieler Kritik, die feinen Spitzen gegen David in den Samuelbüchern, die massiven Klagen der Propheten gegen Königshof und Reiche, besonders Jesaja, Jeremia, Hosea, Amos. Im NT ist insgesamt ein Zug Jesu zu den sozial Schwachen und eine Beheimatung der Jesusbewegung in der stark ausgebeuteten Provinz Galiläa zu erkennen. Besonders Lukas betont diese Vorliebe Gottes zu den Armen und Unterdrückten. Auch der Jakobusbrief enthält massive Anklagen gegen die Reichen. Lediglich Paulus versteht, sich mit der gegebenen Ordnung zu arrangieren.
3. Die Bibel als von Menschen geschriebenes Wort Gottes nimmt teil an den Auseinandersetzungen um eine gerechte Verteilung der Güter. Daher bildet der Begriff Gerechtigkeit eine so wesentliche biblische Kategorie. Weltgericht als Umkehr der bisherigen Sozialordnung (Lazarus) wird in der Apokalyptik immer mehr zur erhofften Lösung der Frage, wieso Gott als Garant der Gerechtigkeit den Sünder ungestraft weiter Geld scheffeln läßt, während er den Frommen mit Schicksalsschlägen straft, obwohl dieser die sehr sozial ausgerichteten Regel der Tora einhält. Jubeljahr und Halljahr etwa waren Maßnahmen, die im Namen Gottes als Gegensteuerung gegen die beginnende Konzentration von Landbesitz in der Hand geschäftstüchtiger Hofbeamter Jerusalems gedacht waren. Das Schlüsselerlebnis Israels, der Auszug aus der Sklaverei Ägyptens, beschreibt Gott als Befreier. Die Botschaft der Propheten beschreibt Gott als Kläger gegen die Reichen, die solche geworden sind durch unmenschliche Ausbeutungspraktiken gegen Leibeigene oder Sklaven. In allen Klassengegensätzen läuft als ein Tenor die Parteinahme Gottes für die Schwächsten dieser Auseinandersetzungen durch die Texte. Im Handeln Jesu und der Apostel gewinnt diese Parteinahme für die unterdrückten Menschen die Gestalt der diakonischen Hinwendung zu den Schwachen. Dabei konvergiert Unterdrücktsein nicht immer mit Armsein. Jesus verkehrt auch mit den Zolleintreibern und römischen Besatzungsoffizieren. Sein Verständnis von Unterdrücktsein ist sehr differenziert und überschreitet einen allzu eng gefaßten Klassenbegriff, nach dem vielleicht nur Fischer und Kleinbauern als wirklich arme Klasse Palestinas gelten könnten. Dennoch ist seine Grundhaltung gegenüber Reichen entschieden ablehnend. Die Briefe des NT setzen die Schärfung des Bewußtseins für die gegenseitige soziale Verantwortung fort und erträumen ein Bild der Gottesherrschaft, in der die Menschen nicht mehr wegen ungleicher Verteilung der Güter verfeindet sind.

4. Gewiß ist die Bibel mehr als ein Buch über arm und reich. Dennoch hieße, diese Dimension als Nebensache abzutun, die von den biblischen Menschen behauptete Sichtbarkeit der Gerechtigkeit und des Friedens Gottes, auf die zu hoffen Glaube kennzeichnet, zu bestreiten und eine Spiritualisierung der Bibel zu betreiben, die so damals nicht gemeint war.

5. Die Erzählungen der Bibel gehen in der Schilderung von Klassenkampf nicht auf. Sie setzen diese Situation als Selbstverständichkeit voraus, um sie zu überschreiten. Die biblische Hoffnung ist auf ein Leben gerichtet, in dem die bisher Unterdrückten zu besondern, ausgleichenden Ehren kommen und so für ihr anfängliches Leiden entschädigt werden. Kirche wird bei Lukas in der Kraft des Heiligen Geistes als ein urkommunistisches Miteinander beschrieben: alles gehörte allen. In diesem Motto ist auch die Lebenseinstellung Jesu getroffen oder die des Paulus: Alles ist euer, ihr aber seid Gottes.  Die Bibel ist nicht von Gott geschrieben, sondern mit Gottes Hilfe. Sie ist Selbstoffenbariung Gottes durch Menschen.

6. Diese Selbstoffenbarung Gottes durch die biblischen Akteure und Schreiber hat keine in sich widerspruchsfreie Eindeutigkeit und Einstimmigkeit, sondern geschieht durch viele Wiedersprüche hindurch. Für die Zusammensteller der biblischen Texte zu einem einheitlichen und verbindlichen Kanon waren sie aber in ihrer Widersprüchlichkeit vereinbar. Erst das neuzeitliche, von der aristotelischen Logik geprägte Denken erlebt die biblischen Widersprüche als Beleg für die Unangemessenheit der Bibel als Auskunft über Gott.

7. Der Historische Materialismus versteht die biblischen Widersprüche als Zeugnisse entweder von verschiedenen Klasseninteressen (z.B. Ja oder Nein zum Königtum) oder als Zeugnisse verschiedener geschichtlicher Stadien einer sich wandelnden Auffassung der biblischen Autoren über die Seinsweise Gottes. Die Theologie spricht hier von einer Glaubensgeschichte im Verlauf der Geschichte Israels. Die innere Bewegung dieser Glaubensgeschichte läßt sich als ein Reinigungsprozeß der Aussagen über Gott verstehen.

8. War anfangs Gott noch für Kriege verantwortlich und befahl, alle Kriegsgefangenen zu töten (Bann), so ist die prophetische Friedensbotschaft mit diesem Kriegsgott schlicht unvereinbar geworden. Die Verfriedlichung des Gottesbildes in der biblischen Glaubensgeschichte gipfelt im Handeln und Denken Jesu, hinter dem die apostolischen Brief erheblich hinterherhinken, und welches Johannes mit dem zentralen Satz begriffen hat, der das kürzeste Bekenntnis zu Jesus und seinem Werk ist: Gott ist Liebe.