Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge, Pfarrer, Gestalttherapeut, Religionsphilosoph, Religionswissenschaftler
fußnotenloser Auszug aus:
"Wachstum der Gestalttherapie und Jesu Saat im Acker der Welt. Psychotherapie als Selbsthilfe"
Lang-Verlag Frankfurt, 1997 824 Seiten ISBN 3-631-32666-1

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    Seite 120-217

    1.2.1.6 Ich-Struktur, Über-Ich und Gesellschaft. 120

    Zum Impressum

    1.2.1.6.1 Erste Topik: Wunsch, Realität, Zensur und intrapsychische Rollen 120

    1.2.1.6.2 Idealisierung der Eltern und Gewissensbildung 121

    1.2.1.6.3 Entdeckung des Ödipuskomplexes in der Selbstanalyse 125

    1.2.1.6.4 Generalisierung des Ödipuskomplexes und seine Bewältigung 129

    1.2.1.6.5 Mord am Urvater als phylogenetischer Urmythos ödipaler Schuld 131

    1.2.1.6.6 Genese sozialer Identität: Innenstruktur durch Identifizierung 140

    1.2.1.6.7 Ich, Es und Über-Ich der zweiten Topik als Rollenmodell 143

    1.2.1.6.8 Virtuelle Kulturfeindlichkeit der menschlichen Triebe 148

    1.2.1.6.9 Psychoanalyse als Anpassungshebel an die Kultur? 157

    1.2.1.6.10 Perls' Ersatz moralischer Introjektion: biologische Selbstregulation 159

    1.2.1.7 Therapie als Ich-Bildung 161

    1.2.1.7.1 Realitätsprüfung und Denkabwehr des Real-Ich gegens Lust-Ich 161

    1.2.1.7.2 Reale Außenwelt und neurotisches oder psychotisches Lust-Ich 166

    1.2.7.1.3 Das Ich als Kontaktgrenze des Leib-Es zur Welt 170

    1.2.1.7.4 Konfliktmittlerschaft und Abwehrfunktionen des Ichs 173

    1.2.1.7.5 Widerstand und Verdrängung als Desymbolisierung 175

    1.2.1.7.6 Projektion und Paranoia als Abwehrformen 180

    1.2.1.7.7 Übertragung als Symbolbildung: Die Trauerarbeit der Metapher 183

    1.2.1.7.8 Übertragungsneurose und die Sehnsucht des Symptoms 187

    1.2.1.7.9 Hypnose, Suggestion, Katharsis und Abstinenz als Unterwerfung 189

    1.2.1.7.10 Gegenübertragung und Projektionen des Analytikers (I) 194

    1.2.1.7.11 Verschmähte Liebe und Ambivalenz im analytischen Machtkampf 196

    1.2.1.7.12 Erziehungsziele des Analytikers: Bekehrung zur Realität 198

    1.2.1.7.13 Disziplinierung und Disziplin der Analytiker-Horde 201

    1.2.1.7.14 Gegenübertragung als Erkenntnismodell (II) 204

    1.2.1.7.15 Sinndeutung des Entstellten als dektivische Suche nach Wahrheit 205

    1.2.1.7.16 Die Beerbung der Freudschen Technik durch Perls 209

    1.2.1.6 Ich-Struktur, Über-Ich und Gesellschaft

    1.2.1.6.1 Erste Topik: Wunsch, Realität, Zensur &intrapsychische Rollen

    Hatte Freuds erste Topik der Systeme Unbewußtes, Vorbewußtes und Bewußtsein mit den beiden Zensurschwellen und der schützenden Fähigkeit der Verdrängung sich noch weitgehend an der neurologischen Energetik des Reiz-Reflex-Apparats orientiert, so ist in der zweiten Topik von »Das Ich und das Es« 1923 die Verschiebung des Schwerpunkts der Deutung vom Verdrängten auf das Verdrängende erreicht. Freuds Augenmerk gilt weniger den Reizleitungen des psychischen Apparats, der innerpsychischen Signalverarbeitung, als mehr den äußeren Konstitutionsfaktoren, die maßgeblich für dessen Präfiguration sind. Sicher wäre es übertrieben, von soziologischer Kehre in seinem Denken zu sprechen. Denn auch in seiner Theorie über Kunst und Religion als symbolischen Wunscherfüllungen analog denen der Träume bilanziert er Kulturerscheinungen ökonomisch hinsichtlich ihrer Lust-Unlustkosten. Aber neben dem Wunsch steht künftig die Repräsentanz der Realität. Die verdrängende Instanz der Autorität als des in gesellschaftliche Herrschaft aufgehobenen und in ihr zugleich gebrochenen Naturzwangs begegnet dem hilflosen Säugling in der Not seiner primären Bedürfnisse zunächst als nahezu allmächtige Hilfsinstanz zur Triebstillung und zur Überlebenssicherung, darin Urmodell von dem, was theologisch später als Gnade Gottes bezeichnet wird. Dieser gewährenden Bedürfnisstillung der helfenden primären Sozialisationsagenten gesellt sich aber schon früh auch das fordernde und einschränkende Moment der Sanktionen, das Tabu hinzu.(1) Die früheste Form der sozialen Zelle, die familiale Triade, verleiht der sozialen Wahrnehmung des Kindes ihre fundamentale Formbestimmung. Alle weitere »Kultur« wird erlebt nach dem Modell, welches sich in dieser primären Sozialisationstriade konstituiert hat. Der Wunsch als Spiegel der inneren Not erfährt seine Grenze an der Macht des Verdrängenden als dem Spiegel äußerer Not. Die Macht des Anderen beginnt ihm einzuwohnen in ihrer Ambiguität von Bergung und Bedrängung. Freud belegt diese engrammierte Generalisierung des Anderen(2) mit dem Begriff Über-Ich. Identifikation mit dem idealisierten Vater, Introjektion seines Verhaltens führen zur Bildung einer »Instanz« im eigenen beseelten Leib.

    Im Begriff der »Zensur« ist Freud freilich immer schon die politische Dimension der Abwehr der Triebregungen vom Bewußten und Motilen deutlich gewesen. Ihre Relevanz gerät in der zweiten Topik nur stärker ins Blickfeld. »Die 'Instanzen', von denen nunmehr die Rede sein wird, sind weniger 'Orte' als 'Rollen' in einer Personologie. Ich, Es, Über-Ich sind Variationen über das Personalpronomen oder das grammatische Subjekt; worum es geht, ist die Beziehung vom Persönlichen zum Anonymen und Überpersönlichen in der Person.«(3) Mit dem Instanzenmodell intrapsychischer Rollenmanifestationen gewinnt zugleich der Begriff der Szene, etwa in der entdeckten Relevanz der »Urszenen«(4), für die Konstituierung psychischer Struktur erheblich an Bedeutung.(5)

    Die Verlagerung der topischen Termini markiert sachliche Unterschiede. Ist das Bewußtwerden der Ort, an dem sich die Beziehungen zur Außenwelt sowohl in Kontrolle der Motorik als auch der Überprüfung der sensorischen Reize auf Realitätszeichen hin zentrieren, so ist das Ichwerden der zweiten Topik mehr als nur synthetische Einheit der Apperzeption(6): es ist Emanzipation aus der dreifachen Dienstbarkeit gegenüber Trieben, Realität und deren Introjekt in Form des eigendynamisch gewordenen Über-Ich. Ichwerden heißt: Herr über Triebe Lebensnöte und Gewissensbisse werden wollen und noch im reifesten Stadium die narzißtische Kränkung erfahren müssen, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.«(7) Weder der Neurotiker mit seinem verselbständigten Symtom noch der moralisch Integere wird je die volle Schlüsselgewalt zum eigenen Es bekommen.

    1.2.1.6.2 Idealisierung der Eltern und Gewissensbildung

    Auf ähnliche Weise ist der Begriff des Ich-Ideals in seiner Bedeutung verlagert. Die erste Stufe in »Zur Einführung des Narzißmus« bezeichnet 1914 eine Ersatzbildung für den Verlust der narzißtischen Grandiosität, in der das Ich sich selbst Ideal genug war. Das zum Ideal des Ich erhobene Triebobjekt wird vergrößert(8); das Gewissen mißt als zensorische Instanz kritisch beobachtend die stetige Differenz des Ich zu seinem Ideal; je kleiner sie ist, desto größer das Selbstgefühl.(9) »Die Institution des Gewissens war im Grunde eine Verkörperung zunächst der elterlichen Kritik, in weiterer Folge der Kritik der Gesellschaft«.(10) Zugänglich wird die hypostasierte Entwicklungsgeschichte des Gewissens aus den klinischen Formen regressiver Pathologien: den paranoiden Stimmen beim Beobachtungswahn, die dem Ich vernichtende Abwertung einflüstern, oder aus der grausamen Selbstverachtung des Melancholikers.(11) Freud unterscheidet dabei die zensorische Gewissensinstanz deutlich vom Ich-Ideal als dem Maßstab. Das Gewissen richtet, das Ideal ist sein Gesetz.

    Am Ende seines Narzißmus-Aufsatzes verweist Freud schon auf die Implikationen, die er 1921 in »Massenpsychologie und Ichanalyse« als Hörigsein des Verliebten, als Gefügigkeit in der Hypnose und schließlich als unbedingten Führergehorsam im Kollektiv analysiert und in all diesen Formen die Grundlage der Massenbildung entdeckt: Das kollektive Ideal ist normiert, bei jedem Einzelnen der Masse identisch. Erreicht wird dies durch vorgängige Identifizierung mit einer Person oder Sache, die allen gemeinsam ist. »Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.«(12)

    Freud erkennt dabei die Funktionsweise des normativen Rollenverhaltens: »Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder Einzelne hat so Anteil an vielen Massenseelen«.(13) Was soziologisch als Rollenkonflikt erscheint, ist in der Psychoanalyse die Verschiedenheit der Identifikationen, aus der sich die Verschiedenheit der Ideale des Ich ableitet.

    Das Ideal ist also ursprünglich eine andere Person. Der mimetische Impuls führt zur Bemühung um Verkörperung dieser anderen Person als Derivat des Einverleibungswunsches des Liebenden. Es ist dabei noch klar vom Ich geschieden. Die kritisch beobachtende Gewissensinstanz ist wiederum vom Ideal deutlich geschieden als eine Sonderform der Ichfunktionen, wie sie etwa auch in der Realitätsprüfung zu finden ist.

    In »Das Ich und das Es« setzt Freud das Ich-Ideal mit dem erstmalig so benannten Über-Ich gleich.(14) Die Idealbildung durch Identifikation mit den Eltern wird mit der kastrativen Tabuierung des Ödipalgelüstes vereint. Neben der Mahnung, genau wie der Vater sein zu sollen, steht auch das Verbot, so eben doch nicht sein zu dürfen, nicht alles, was er tut, tun zu dürfen, manches bleibt ihm vorbehalten.(15) Das »Doppelangesicht des Ichideals«(16) - als streng strafendes Gewissen und »kategorischer Imperativ« der moralischen Bonität hat beide Funktionen in einer Instanz vereinigt.

    Eine letzte Stufe der kategorialen Scheidung des Über-Ichs wird Freud in der »Neue(n) Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« 1932 erreichen: »Kehren wir zum Über-Ich zurück! Wir haben ihm die Selbstbeobachtung, das Gewissen und die Idealfunktion zugeteilt.«(17) Gegenüber der Version von 1923 hat die am weitesten ausgearbeitete Fassung der »Neuen Folge« mit den drei Funktionen des Über-Ichs die Aufgabe des Gewissens noch einmal differenziert in die der kritischen Selbstbeobachtung, einer sublimen Form der Realitätsprüfung, und dem eigentlichen Gewissen, welches durch Schuldgefühle streng und grausam das Verhalten des Ich verurteilt. Das Ideal als Leitbild des auf Vervollkommnung erpichten moralischen Eifers ist so hoch gesetzt, daß es realistisch gesehen kaum erreicht werden kann.

    Reformatorische Theologie unterschied den bürgerlichen und geistlichen usus legis, »primum coercendi delicta, et deinde ostendendi delicta«(18), Strafe und Offenbarung der Sünde. Das Gewissen in Freuds Theorie hat die gleiche Aufgabe: die kritische Beobachtung stellt die sündige Unzulänglichkeit heraus (ostendendi delicta) und versucht durch strenge Selbstbestrafungen und peinigende Schuldgefühle, die Triebe in Schach zu halten (coercendi delicta). Die hohe moralische Anforderung des Gesetzes, des Ideals, garantiert die permanente Übertretung.

    Der geistliche Sinn des Gesetzes liegt ja gerade nicht alttestamentlich in seiner Friedensordnung, sondern in der Überführung des Menschen als strukturell nicht gerecht sein Könnendem, als dem, der immer in Gnadenbedürftigkeit lebt. Diese »Propädeutik« für die Gnadenbotschaft kann aber das Über-Ich des Zwangsneurotikers oder Melancholikers nicht fruchtbar machen; es bleibt incurvatus in se, gekrümmt in der selbstzerstörerischen Dynamik einer unüberbrückbaren Diastase zwischen Ich und Idealbild, Sein und Sollen, kritisch überwacht und streng verurteilt in einem.

    In Beobachtung, Gewissen und Ich-Ideal als Funktionen des Über-Ichs vereinigen sich Polizei, Richter und Gesetzbuch. »Der Zugang mittels der Pathologie offenbart die zunächst verfremdete und verfremdende Situation der Moralität; eine 'Pathologie der Pflicht' ist ebenso instruktiv wie eine Pathologie des Wunsches; die erstere ist letztlich nur die Fortsetzung der letzteren. In der Tat befindet sich das vom Über-Ich unterdrückte Ich diesem inneren Fremden gegenüber in einer ähnlichen Situation wie das dem Druck seiner Wünsche ausgesetzte Ich; durch das Über-Ich sind wir uns zunächst selber 'Fremde': so spricht Freud vom Über-Ich als vom 'inneren Ausland'.«(19) In diesem Ausland des Ichs haben sich die Staatsgewalten der Exekutive (Beobachtung), Legislative (Ideal) und Jurisdiktion (Gewissen) zu einer dikatorischen Trinität liiert. Das macht die Arbeit der Ermäßigung so zäh und mühevoll.(20)

    Die bis hierher beschriebenen Stadien der Uminterpretation der alten Topik anhand der Begriffspaare Bewußtsein neben Ich, Ich-Ideal neben Über-Ich, haben die stetige Verlagerung von Funktionen des ehemals als Sekundärsystem bezeichneten »Wahrnehmungssystem Bw« an das Über-Ich skizziert. Dabei kann Freud das Phänomen des Über-Ichs nicht deskriptiv klinisch begründen, sondern nur erschließen aus Phänomenen wie der negativen therapeutischen Reaktion aus Schuldgefühl heraus und dem Behandlungswiderstand gegen das Bewußtwerden peinlicher Erinnerungen oder Affekte. Damit ist die Gefahr der Konstruktion auf dem Plan.

    Die von Freud breit angelegte Genetik der Moralität im Menschen versucht, die gesellschaftlich besorgte Produktion von Moral am Paradigma der Produktion subjektiver Struktur in der Kinderstube zu exemplifizieren, und diese erschlossene Ontogenese der Moral beim einzelnen Kind zu übertragen auf die Phylogenese der Moral.

    Aus dieser wechselseitigen Interpretation der Kulturgeschichte nach dem Modell der Kinderstube und der Kinderstube nach dem zeitrafferhaft wiederholten Modell der Phylogenese resultiert eine ökonomisch orientierte Kulturtheorie. Sie arbeitet wiederum mit dem Rekurs auf die Energetik: Kultur wird daraufhin gesichtet, wie sie zum Triebhaushalt als äußere Verlängerung der Ich- und Über-Ich-Funktionen regulativ hinzutritt. In dieser genetischen Interpretation ist der konkrete Einzelfall jeder Primärsozialisation eines Kindes begriffen als Verlängerung eines allgemeinen, überindividuellen Schicksals: »So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.«(21)

    Hier ist ein gewichtiger Anknüpfungspunkt der Skripttheorie Eric Bernes: Sowohl vom Kindheits-Ich als auch vom Eltern-Ich der Eltern finden Transaktionen von »Botschaften« statt an die gleichen Instanzen der Kinder. Diese vererben die oft in sich widersprüchlichen »Skripts« wiederum an die nächste Generation. Dabei wäre der gesamte Skript-Umfang als »Über-Ich« zu verstehen.(22)

    Das Musterbeispiel der unter dem gemeinsamen Nenner der Triebökonomie vollzogenen wechselseitigen Interpretation der Ontogenese durch eine »Ethnologie aus zweiter Hand«(23) und der Kulturgeschichte aus dem Paradigma des psychischen Apparats mit seinen Ventilen ist die Entwicklung der Theorie vom Ödipuskomplex.

    Freud begründet das erschlossene Phänomen Über-Ich als individuelles Schicksal aus der soziologischen Konstitution der familialen Kerntriade und ihrer patriarchalisch-autoritativen Struktur; Ontogenese des Untergangs vom Ödipuskomplex somit durch die Phylogenese des Inzesttabus.

    Aber der phylogenetische Rekurs auf eine oft recht phantastische Ethnologie (Frazers) psychologisiert soziale Strukturmerkmale lediglich, statt sie als soziologische Begründungselemente für die Produktion individueller Struktur anzulegen. »Eines frappiert jeden Leser der ersten Schriften Freuds, nämlich das Blitzartige der Entdeckung des Ödipuskomplexes, der mit einem Schlag voll erkannt wurde, als individuelles Drama und als kollektives Schicksal der Menschheit, als psychologische Tatsache und als Quelle der Moral, als Ursprung der Neurose und als Ursprung der Kultur. Individuell, persönlich, intim, erhält der Ödipuskomplex seinen 'geheimnisvollen' Charakter durch die Entdeckung, die Freud im Laufe seiner Selbstanalyse von ihm machte.«(24)

    1.2.1.6.3 Entdeckung des Ödipuskomplexes in der Selbstanalyse

    Im Mai 1997 schickt Freud an Fließ »einige bei dem letzten Schub ans Ufer gespülte Brocken«: »Eine Ahnung sagt mir noch, als ob ich es schon wüßte - ich weiß aber gar nichts - daß ich nächstens die Quelle der Moral aufdecken werde.«(25) Interessanterweise bemerkt Freud Zeilen später völlig beiläufig, mit Hauptinteresse an einer Traumlogik von Wortassoziationen: »Unlängst träumte ich von überzärtlichen Gefühlen für Mathilde«, seine damals neunjährige älteste Tochter.(26)

    Im beigefügten Manuskript taucht erstmalig das Motiv der Sexualrivalität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil auf: »Die feindseligen Impulse gegen die Eltern (Wunsch, daß sie sterben mögen) sind gleichfalls ein integrierender Bestandteil der Neurose. Als Zwangsvorstellung kommen sie bewußt zu Tag... Es scheint, als ob dieser Todeswunsch bei den Söhnen sich gegen den Vater, bei den Töchtern gegen die Mutter kehren würde. Ein dienendes Mädchen macht davon die Übertragung, daß sie der Dienstfrau den Tod wünscht, damit der Dienstherr sie heiraten kann. (Beob. Traum von Lisel mit Bezug auf Martha und mich.)«(27)

    Freud gibt ebendort als »Definition von 'Heilig'« eine geniale Kurzfassung seiner gesamten späteren Kulturtheorie, in der keimartig alle Momente von »Die Zukunft einer Illusion« und »Das Unbehagen in der Kultur« zusammenschießen: »'Heilig' ist, was darauf beruht , daß die Menschen zu Gunsten der größeren Gemeinschaft ein Stück ihrer sexuellen Perversionsfreiheit geopfert haben. Der Abscheu vor dem Inzest (ruchlos) beruht darauf, daß infolge der sexuellen Gemeinschaft (auch in der Kinderzeit) die Familienmitglieder dauernd zusammenhalten und des Anschlusses an Fremde unfähig werden. Er ist antisozial - Kultur besteht in diesem fortschreitenden Verzicht.«(28)

    Weil der Inzest als natürliche Reaktion zu einer Abschottung der Familie gegen den Rest der Gesellschaft führen würde, was den nur kollektiv möglichen Überlebenskampf des Gemeinwesens gefährden würde, wird die inzestuöse Selbstgenügsamkeit des Familienverbands also aufgesprengt durch das Inzesttabu und die Weisung, durch Sexualkontakte auch zu anderen Familien Verbindung herzustellen. Antisozial nennt Freud hier nicht den Einzelnen mit seiner destruktiven Triebkonstitution, sondern den inzestuösen Clan, der per Inzest auf sich selbst beschränkt bleibt.

    Inzest ist damit aber auch die ursprünglichere Form sexueller Neigung: xenophob wird primär Kontakt zum Vertrautesten gesucht. Kultur entsteht durch ein Opfer »sexueller Perversionsfreiheit«: Verzicht auf Endogamie und dadurch wachsende interfamiliale Vernetzung, fortschreitende Vergesellschaftung, durch soziale Bündnisse, die den Familienverband überlagern. Interessant ist, daß hier der sexuellen Öffnung zu außerfamilialen Personen hin kulturstiftende Potenz zugesprochen wird. Antisozial meint damit die sexuelle Verweigerung gegenüber außerfamilialen Kontakten. Die Macht der sexuellen Liebe verbindet die Gesellschaft. So wird in der Tat das Inzesttabu als Quelle der Moral konstitutiv für die kulturelle Entwicklung. Der Gedanke von »Totem und Tabu« ist damit schon 15 Jahre vor der Entstehung dieser Schrift entwickelt.

    Monate später schreibt Freud an Fließ über »das große Geheimnis..., das mir in den letzten Monaten langsam gedämmert hat.«(29) In der Zeit seiner eigenen, stagnierenden Selbstanalyse, mit der er sich von seiner mit Stimmungsschwankungen, Todesangstanfällen und Reisefieber etwa 10 Jahre virulenten Angsthysterie(30) zu heilen sucht, macht er bei seinen Klientinnen die überraschende Entdeckung, »daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte,... während doch solche Verbreitung der Perversion gegen Kinder wenig wahrscheinlich ist« und außerdem »die sexuelle Phantasie sich regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt.«(31)

    Die Annahme einer Verführung der Tochter durch den Vater ist für Freud offensichtlich trotz zwingender Beweise nicht so ganz glaubhaft; die Verführungstheorie war immer mit Zweifeln behaftet, trotz seiner eigenen Gelüste auf seine Älteste. Er vermutet, »daß erst spätere Erlebnisse den Anstoß zu Phantasien geben, die auf die Kindheit zurückgreifen.«(32) Diese Vermutung einer »Deckerinnerung«, die zeitlich spätere real erlebte sexuelle Szenen auf sehr frühe, noch nicht in dem Maße sexuelle Urszenen »aufpfropft«, entwickelt Freud 1899 in einem fingierten Dialog mit einem angeblichen Patienten, der in Wirklichkeit er selbst ist in seiner Selbstanalyse.(33)

    Daß die Umstülpung der Verführungstheorie zum Ödipuskomplex für Freud eine Krise des Erfolgs heraufbeschwor, bekennt er in »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« 1914: »Unter dem Einfluß der an Charcot anknüpfenden traumatischen Theorie der Hysterie war man leicht geneigt, Berichte der Kranken für real und ätiologisch bedeutsam zu halten, welche ihre Symptome auf passive sexuelle Erlebnisse in den ersten Kinderjahren, also grob ausgedrückt: auf Verführung zurückleiteten. Als diese Ätiologie an ihrer eigenen Unwahrscheinlichkeit und an dem Widersprüche gegen sicher festzustellende Verhältnisse zusammenbrach, war ein Stadium völliger Ratlosigkeit das nächste Ergebnis. Die Analyse hatte auf korrektem Wege bis zu solchen infantilen Sexualtraumen geführt und doch waren diese unwahr. Man hatte also den Boden der Realität verloren. Damals hätte ich gerne die ganze Arbeit im Stiche gelassen«.(34) Für Hysteriker sind aber auch erfundene, phantasierte Traumen real wirkend. Und Tatsache bleibt, »daß sie solche Szenen phantasieren, und die psychische Realität verlangt neben der praktischen Realität gewürdigt zu werden. Es folgte bald die Einsicht, daß diese Phantasien dazu bestimmt seien, die autoerotische Betätigung der ersten Kinderjahre zu verdecken«.(35)

    In der »Selbstdarstellung« äußert Freud noch 1925 Zweifel an dem Quid pro quo von Deckerinnerung und Urszene: Er meint, »daß die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpfen, sondern an Wunschphantasien... Ich glaube auch heute nicht, daß ich meinen Patienten jene Verführungsphantasien aufgedrängt, 'suggeriert' habe. Ich war da zum ersten Mal mit dem Ödipuskomplex zusammengetroffen, der späterhin eine so überragende Rolle gewinnen sollte, den ich aber in solch phantastischer Verkleidung noch nicht erkannte. Auch blieb der Verführung im Kindesalter ihr Anteil an der Ätiologie, wenngleich in bescheidenerem Ausmaße, gewahrt. Die Verführer waren aber zumeist ältere Kinder gewesen.«(36)

    Über die tatsächliche Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs ist Freud sich selten ganz klar gewesen.(37) Er beginnt jedenfalls 1897 die Verführungen für Deckerinnerungen an etwas zu halten, was gerade nicht passiert, aber umso mehr gewünscht worden war: die Verliebtheit in die Mutter hatte deutliche sexuelle Züge. Er schreibt an Fließ, »daß später (zwischen 2 und 2 1/2 Jahren) meine Libido ad matrem erwacht ist, und zwar aus Anlaß der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien, auf welcher ein gemeinsames Übernachten und Gelegenheit, sie nudam zu sehen, vorgefallen sein muß«.(38)

    Nicht nur die Mutter, auch die alte diebische Kinderfrau war für Freud als Kind »Liebesobjekt«, der er reichhaltig »Mittel zum Leben und Weiterleben« verdankt.(39) Sie war seine »Lehrerin in sexuellen Dingen und hat geschimpft weil ich ungeschickt war, nichts gekonnt habe (die neurotische Impotenz geht immer so zu; die Angst vor dem Nichtkönnen in der Schule bekommt auf diese Weise ihren sexuellen Untergrund).«(40) Bei seiner Selbstanalyse, der »Lösung der eigenen Hysterie«(41), sind ihm die Potenzängste gegenüber der Gouvernante der Schlüssel für sein »heutiges Unvermögen als Therapeut«.(42) Die Selbstzweifel des Therapeuten an seinen Fähigkeiten korrespondieren der negativen Reaktion des Patienten, »seine(m) Willen, krank zu bleiben«.(43)

    Eifersucht auf das neue Brüderchen(44) und die ambivalente Rivalität mit dem etwas älteren Neffen John bilden das infantile Muster, nach dem die Männerbeziehungen Freuds später so »neurotisch und intensiv« abgelaufen sind(45), voller Zärtlichkeit, die aber schnell in Feindseligkeit umschlagen konnte, wie etwa bei Joseph Breuer(46), Wilhelm Fließ selbst(47) und später bei Alfred Adler(48), Wihelm Steckel(49), Carl Gustav Jung(50) und Sandor Ferenczi.(51)

    Die Mischung von Liebe und Haß ist konvertierte Ambivalenz zum Vater Jakob Freud, der durch seinen Wollhandel wenig präsent war und dessen Position durch den genau 20 Jahre älteren Halbbruder Philipp sowie die außerordentlich innige Beziehung zum Neffen John ersetzt zu sein schien.(52) »Bis zu meinem vollendeten dritten Jahre waren wir unzertrennlich gewesen, hatten einander geliebt und miteinander gerauft, und diese Kinderbeziehung hat, wie ich schon einmal angedeutet, über all meine späteren Gefühle im Verkehr mit Altersgenossen entschieden. Mein Neffe John hat seither sehr viele Inkarnationen gefunden... Er muß mich zeitweilig sehr schlecht behandelt haben, und ich muß Mut bewiesen haben gegen meinen Tyrannen«.(53) Die Verbindung »intimer Freund und ein gehaßter Feind« waren für Freud, möglichst noch in einer Person vereint, als Wiederholung der infantilen Fixierung psychische Konstitutiva.(54) In diese Beziehungen hatte sich die Ambivalenz zum Vater verschoben.(55) Die verdrängte Eifersucht auf den wirklichen Vater entdeckte Freud erst 1897 wieder.(56)

    Zum Durchbruch gelangt die Einsicht in den persönlichen, eigenen und auch erstmals als solchen bezeichneten Ödipuskomplex wenige Wochen nach den ersten Zweifeln an der Verführungstheorie: »Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit, wenn auch nicht immer so früh wie bei den hysterisch gemachten Kindern... Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte..., aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt.«(57)

    Fast wörtlich nimmt Freud diese Formulierungen auf in der »Traumdeutung«, die zur selben Zeit in Arbeit war, aber erst 1900 herausgebracht wurde. »König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit... Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben.«(58)

    Schon von der Tragödie des Sophokles an ist der Vatermord und der Inzest mit der Mutter verkoppelt mit der Verdrängung, erzählt der Mythos Übertretung und Wiederherstellung des Inzestverbotes durch die Aufrichtung des Gewissens.(59) »Die Ödipus-Fabel ist die Reaktion der Phantasie auf diesen beiden typischen Träume 'Begehren der Mutter, Tod des Vaters', und wie die Träume von Erwachsenen mit Ablehnungsgefühlen erlebt werden, so muß die Sage Schreck und Selbstbestrafung in ihren Inhalt mit aufnehmen.«(60) Für Freud ist die kulturelle Dimension des Inzestverzichts abgeblendet; offensichtlich möchte er sie als transkulturelle Invariante über alle besondere neurotische oder hysterische Prägung stellen, sie als »Allgemeingültigkeit der besprochenen Voraussetzung aus der Kinderpsychologie«(61) in Traumbeispielen vom Tod geliebter Personen zum universellen Schicksal erheben, dessen gemäße Aussageform einzig der Mythos ist.(62)

    1.2.1.6.4 Generalisierung des Ödipuskomplexes und seine Bewältigung

    In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« bekräftigt Freud die invariante, übergeschichtliche Allgemeingültigkeit des Mythos; allerdings lassen sich drei Stufen erkennen. Zunächst: Die »Inzestschranke« »ist vor allem eine Kulturforderung der Gesellschaft, welche sich gegen die Aufzehrung von Interessen durch die Familie wehren muß, die sie für die Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht«.(63) Im Zusatz von 1915 ergänzt Freud diese, der Definition von 'Heilig' aus den Fließ-Briefen entsprechende, familiale Selbstgenügsamkeitstheorie wie folgt: »Die Inzestschranke gehört wahrscheinlich zu den historischen Erwerbungen der Menschheit und dürfte wie andere Moraltabus bereits bei vielen Individuen durch organische Vererbung fixiert sein... Doch zeigt die psychoanalytische Untersuchung, wie intensiv noch der einzelne in seinen Entwicklungszeiten mit der Inzestversuchung ringt und wie häufig er sie in Phantasien und selbst in der Realität übertritt.«(64)

    Die erste Stufe war die soziologische Erwägung der gesellschaftlichen Vernetzung durch Exogamie. Nun gesellt sich das historische Moment des archaischen Erbes in der psychischen Strukturbildung hinzu. Diese zweite Stufe der Erwerbungs- und Vererbungsperspektive wird im Zusatz von 1920 universal ausgeweitet zum generellen Apriori des Ödipuskomplexes: »Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist, das wesentliche Stück im Inhalt der Neurose darstellt. In ihm gipfelt die infantile Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität des Erwachsenen entscheidend beeinflußt. Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose verfallen.«(65) Damit ist zugleich jede Neurose als Scheitern dieser kulturgeschichtlich universal gewordenen Lebensaufgabe des Kindes zu verstehen, seine primäre Liebesbindung an die Eltern zu ersetzen durch eine befriedigende exogame Objektwahl. Der Erkenntnisweg Freuds hierbei ist die klinische Erfahrung; von der besonderen Disposition der Neurose schließt er auf das Allgemeine der in ihr gestellten, aber gescheiterten Kulturaufgabe. Die Ablösung von den Eltern als Autoritäten und inzestösen Liebesobjekten ist »eine der bedeutsamsten, aber auch schmerzhaftesten, psychischen Leistungen der Pubertätszeit«.(66) Bleibt die Libido unter der Versagung des Inzestverbots, als »Inzestscheu«, infantil fixiert auf die Eltern, oft zu deren großer Freude und oft bei Mädchen, so bleiben diese Heranwachsenden »sexuell anästhetisch«.(67) »Für die Mädchen mit übergroßem Zärtlichkeitsbedürfnis und ebensolchem Grausen vor den realen Anforderungen des Sexuallebens wird es zu einer unwiderstehlichen Versuchung, sich einerseits das Ideal der asexuellen Liebe im Leben zu verwirklichen und andererseits ihre Libido hinter einer Zärtlichkeit, die sie ohne Selbstvorwurf äußern dürfen, zu verbergen, indem sie die infantile, in der Pubertät aufgefrischte Neigung zu Eltern oder Geschwistern fürs Leben festhalten.«(68)

    Freud führt die Thematik der ödipalen Inzestliebe in zwei Dimensionen weiter. Einmal in »Totem und Tabu« als Erbe des archaischen Mordes am Hordenvater, mit dem die Söhne sich Zugang zu ihren Müttern verschaffen. Neben dieser phylogenetischen Perspektive von 1912 gibt es die andere, später verfolgte klinische Ontogenese kindlicher Geschlechtsrollenentwicklung von 1923 - 1925.

    Das Tabu, »seiner psychologischen Natur nach doch nichts anderes als der 'kategorische Imperativ' Kants, der zwangsartig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt«(69), besteht noch in jedem irrationalen Ausgrenzungsverfahren fort, nach dem sich Recht, Moral und die Inhalte des psychisch zu Verdrängenden bemessen. Seine Urform, quasi Urszene von Ausgrenzung und Wunschverdrängung überhaupt ist die sogar bei den »armen, nackten Kannibalen«(70) Australiens vorfindliche Inzestscheu. Archaische, wenig vergesellschaftete Naturvölker, von Freud noch mitleidvoll als die »zurückgebliebensten, armseligsten Wilden«(71) durchaus im arroganten Getue des Papalagi(72) diskriminiert, strafen Inzest mit dem Tod.(73) Freud beruft sich auf J.G. Frazers »Totemism and Exogamy«(74) und geht im Rahmen seiner Regressionstheorie davon aus, daß es zwischen Kindern, Wilden und Neurotikern massive Parallelen gibt, die die Übertragung der Erkenntnisse vom phylogenetisch Frühen aufs ontogenetisch Frühe und das regressiv Fixierte gestatten.(75) Die Ambivalenz von Inzestverlangen und -verbot als Kernkomplex der Neurosen ist neben der Kinderanalyse, etwa in der Ambivalenz des »kleinen Hans« zu seinem Vater(76), im quasi phylogenetischen Infantilismus der Naturvölker besonders deutlich zu beobachten. Gerade weil »den Seelenregungen der Primitiven überhaupt ein höheres Maß von Ambivalenz zuzugestehen« ist als dem heutigen Mann ohne Eigenschaften, ist das begrenzende Tabu als »Kompromißsymptom des Ambivalenzkonfliktes« überlebenswichtig; der Neurotiker hat eine gleichsinnige »archaistische Konstitution als atavistischen Rest« in seiner malignen Regression reproduziert.(77)

    1.2.1.6.5 Mord am Urvater als phylogenetischer Urmythos ödipaler Schuld

    Die Inzestschranke und damit die Definition des Tabubereichs der Exogamie wird bestimmt durch die Geltung des Totem, meist ein Tier, welches verehrt wird und als besonderer Stammesgenosse das Markenzeichen des Stammes bildet, das so die Stammes-Zugehörigkeit durch die Gemeinschaft seines Verehrerkreises bestimmt.(78) Mitglieder desselben Totems dürfen miteinander keinen Sex treiben.(79) Reale Blutsverwandtschaft ist ersetzt durch Totemverwandtschaft. Statt spontaner, freier Sexualität wird das Lustverlangen kanalisiert und geschützt durch soziale Bindungen.(80) Die »Gruppenehe«, sexuelle Promiskuität wird ersetzt durch eine spezifisches System sozialer Klassifikation als Prämisse sexueller Lust: die Verwandtschaftsmatrix.(81)

    Zum Wesen des Tabu gehört die Gefühlsambivalenz des zugleich Verbotenen und Verlockenden: »Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußten fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene.«(82) Die Macht des im Tabu verdrängten Wunsches ist an der Schärfe der Strafandrohung abzulesen, die dem Übertritt folgen soll. Seine Permanenz, die nicht erlischt mit dem Fortschreiten der kulturellen Entwicklung, zeugt von der »Unzerstörbarkeit und Unkorrigierbarkeit unbewußter Vorgänge aus sehr frühen Zeiten«.(83) Freud interessiert hierbei zunächst in keiner Weise die verbietende Instanz, das soziale Moment der »Kulturschöpfung« in den korrespondierenden Formen kollektiver Strafvollstreckung und den »sozialen Trieben« des Gehorsams, sondern lediglich die Analogie zur Zwangsneurose, die ökonomische Verarbeitung der Ambivalenz durch Gegenbesetzung wie Abscheu, Ekel und das Moment des - hier noch keineswegs topisch aufgefaßten - Gewissens als »innere Wahrnehmung von der Verwerfung bestimmter in uns bestehender Wunschregungen«.(84) Das »Tabugewissen« ist Ursprungsform des Gewissens überhaupt; axiomatisch nicht von Anderem deduzierbar erscheint es subjektiv als Apriori und unabweisbarer Zwang. Aus der Analogie der Neurose entwickelt Freud hierbei den Charakter der Kompensation im Gewissen als »Reaktionssymptom gegen die im Unbewußten lauernde Versuchung«.(85) Sobald der Wunsch der Verdrängung unterliegt, wandelt sich seine Triebqualität von Libido in Angst, so die alte Erklärung Freuds vor 1926, wo der Mechanismus von Widerstand und Gegenbesetzung schließlich entwickelt wird.(86)

    Im Mörder, wie im Richter und Henker, ist der archaische Impuls, zu töten(87), gleichermaßen unbewußt und so stark wie das verbietende Gegenmoment des Gewissens selbst.(88) Die Vollstreckung der Strafe erneuert die Verdrängung des »sich in allen Gesellschaftsgenossen« gleichermaßen regenden Begehrens; »und um diese Versuchung niederzuhalten, muß der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen.«(89)

    Die sündliche Polarität der archaischen Gefühlsambivalenz ist die von Liebe und Haß, Inzestverlangen und Mordlust. Schon hier also ist das Thema Eros und Todestrieb angelegt. Träume Gesunder als phantastische Wunscherfüllung bestätigen diese mächtigen Gelüste, deren Folgen, so Freud, die Gesellschaft so sehr gefährden, daß sie moralischem Verdikt, der Tabuierung unterliegen. Die gemeinschaftliche Kompensation »eines brutalen Egoismus«(90) durch Gegenbesetzungen und soziale Normen, die es nicht zur gegenseitigen Zerstörung kommen lassen, ist der Beginn von Kultur überhaupt.

    Freud konstruiert den aller bisherigen Logik seiner Argumentation zuwiderlaufenden und metatheoretisch auch unhaltbaren Begriff der »sozialen Triebe«, »die durch die Rücksicht auf den anderen bestimmt werden«.(91) Diese sozialen Triebe stehen im Gegensatz zum Sexualtrieb, entstammen allerdings selbst einem »Zusammentreten von egoistischen und erotischen Komponenten«.(92) Selbsterhaltung und Sexus speisen im Triebgemisch die Sozialfähigkeit des Menschen, die vom sexuellen Begehren allein gerade nicht getragen werden kann. »Das Sexualbedürfnis ist eben nicht imstande, die Menschen in ähnlicher Weise wie die Anforderungen der Selbsterhaltung zu einigen«.(93)

    In einer Reihe mit der Mordlust subsumiert Freud hier Sexualität als deren eigentlichen Gegenpol unter die »asoziale Natur der Neurose«, die »sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt« flüchten will und damit subversiv wirkt gegen die von der »Gesellschaft der Menschen... gemeinsam geschaffenen Institutionen; die Abkehrung von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft.«(94) Der Triebboden der menschlichen Natur, der sich in unverblümter Form beim Kind, beim Primitiven oder Wilden und klinisch beim Neurotiker zeigt, ist der hochgradig kriminelle und asoziale Wunsch nach freier Sexualität und freiem Amoklauf. Diese traurige Wahrheit begründet für Freud die Härte der menschlichen Institutionen, die Brutalität der Todesstrafe bei Inzest, die väterliche Kastrationsdrohung. Es scheint der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, die Moral nicht eben besser zu sein als das, wogegen sie geschaffen ist.

    Freud ist nicht imstande, den Nachweis zu erbringen, daß das Tabu und sein rüder Strafvollzug mehr Einheit im Geist schaffen als das schreckliche Phantasma unzensierter Lust und Aggression. Der familiale Inzest wäre, verglichen mit den hochtechnisierten Massenvernichtungskriegen unserer Zivilisation, immer noch ein Übel, aber möglicherweise das kleinere. Der Kulturbegriff Freuds ist selbst das, was er kritisch der Religion als die Qualität der Illusion attestiert.

    Der Weg, der introjizierten Autorität innezuwerden, führt paradoxerweise über die Extrapolation des inneren Geschehens nach außen. Im Animismus, dem präreligiösen System der Beseelung der gesamten Umwelt mit Geistern und Dämonen(95), findet eine Projektion eigener Verfaßtheit auf die Umgebung statt.(96) Das Fremde der Naturvorgänge, Tiere, Pflanzen usw. wird nach dem Modell menschlicher Reaktion gedeutet und behandelt. Magische Praktiken reichen von Imitation(97) über kontagiösen Fetischismus(98) bis zur vollends anthropomorphen und dialogischen Beeinflussung der Geister in der Zauberei durch Gebete und Rituale.(99) Sind Inszenierungen einer Realität des wünschenden Als ob, die sich der faktischen Realität bemächtigen soll. Sie sind eine den Gedanken Allmacht oder Seinsmächtigkeit zuschreibende Form des Wunschspiels.(100)

    Auf diese Erkenntnis hat Freud der »Rattenmann« gebracht, der ebenfalls seinen Wunschvorstellungen magische Kräfte zuschrieb.(101) Solche Grandiosität des eigenen Größenselbst macht den Animismus entwicklungspsychologisch dem Narzißmus analog, während die nächste Stufe, die Religion mit dem Übergang der Allmacht an Gott der Entstehung von Objektlibido und der Bewunderung der Eltern vergleichbar macht. Der dritten Stufe der Kulturgeschichte, der Verwissenschaftlichung entspricht die Ichbildung im Individuum, das zur Vernunft reifend seine Objekte realitätgerecht in der Außenwelt sucht.(102) Im Animismus und der Religion ist die projektive Beseelung der Welt mit eigenpsychischen Qualitäten »das ökonomische Mittel, durch das ein intrapsychischer Konflikt wo nicht gelöst, so doch leichter wird; die Äußerlichkeit der Autorität scheint wirklich irreduzibel zu sein«.(103)

    Im vierten und letzten Kapitel von »Totem und Tabu« über die »infantile Wiederkehr des Totemismus« trägt Freud Bausteine zu einem ausgesprochen unhaltbaren Versuch zusammen, den Ödipuskomplex als ethnologischen Mythos protologisch anzusiedeln: Am Anfang war der Vatermord in der Urhorde. Von Frazer und Wundt übernimmt er die Motive der Totemexogamie, also das Verbot, das Totem zu töten und das Verbot, die Frauen des Totemkollektivs zu heiraten. Er schließt vom Verbot zurück auf den zugrundeliegenden starken Wunsch zu beidem.(104) Von Darwin und Atkinson übernimmt er die Theorie einer Urhorde, in der das älteste und stärkste Männchen eifersüchtig die jüngeren Rivalen vertrieb oder gar tötete, um die zu enge Inzucht zwecks Erbmassenschonung zu verhindern.(105) Von Robertson Smith übernimmt er die Theorie der israelitischen Opferrituale als festlicher Totemmahlzeiten, in denen das Opfer brutal exzesshaft abgeschlachtet wurde, anschließend mit ebensolcher Intensität von Trauer beweint und beklagt wurde und gemeinschaftlich als Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gott verzehrt wurde, darin die Verbundenheit untereinander und mit Gott erneuernd und bestätigend, der Herr über alles Leben ist.(106)

    Der problematischste Baustein ist die Übertragung der Tierphobien auf die Totembehandlung. An der Ambivalenz des »kleinen Hans« gegen den Vater, in der Bewunderung und Rivalität, Liebe und Todeswunsch gemischt sind, konstatiert Freud als Inhalt der Ambivalenz den Ödipuskomplex als den Kern aller Neurosen und den Mechanismus der Verschiebung der am Vater direkt nicht ausagierbaren Ambivalenzkonflikte auf das Pferd.(107) Ähnlich konnte Ferenczi am »kleinen Arpad« die Hühnerphobie als Kastrationskomplex ausmachen, dem beim Urinieren im Hühnerstall ein Huhn ins Glied beißen wollte.(108) Aus dieser Verkopplung von Kastrationsangst und Ambivalenz gegen das Tier schließt Freud schließlich von der Ambivalenz gegen das Totemtier der Urhorde auf eine vorhergehende Kastrationsdrohung, die von diesem oder dem Stammesvater ausgegangen sein muß, wobei damit zugleich die Verschiebung greift und das Totem als Ersatz für den Stammesvater enttarnt wird.(109)

    Nun ist aber der äußere Grund der Ambivalenz die Kastrationsdrohung, die der Vater repräsentiert und die verinnerlicht erst zur Feindseligkeit gegen ihn motiviert. Würde er alle Regungen der Kinder gestatten, gäbe es keinen Grund für Feindseligkeit, also den einen Pol der Ambivalenz; diese entfiele damit. Die Verschiebung der Ambivalenz auf das Tier begründet Freud ebenso mit der Macht des Vaters; wäre es möglich, die Feindseligkeit an ihm effektiv auszuagieren, wäre keine Verschiebung notwendig. Sowohl Ambivalenz als auch Verschiebung weisen also doppelt auf die Drohmacht des Vaters hin. Wenn er in der Urszene der Totemmahlzeit, der archaischen Ermordung durch die Söhne, entmachtet worden wäre, wäre die symbolische Erinnerung als Fortsetzung der Gegenwart und Macht des Ermordeten ökonomisch unverständlich. Eigentlich würde man zu hören geneigt sein: Und der böse Vater war tot und alle freuten sich und lebten voller Lebensfreude.

    Doch so leicht tritt der Vater seine Macht nicht ab, trotz Mord. Er lebt in seinen Mördern weiter, wird Zensor. Beweis für den »nachträglichen Gehorsam« und das reuige Schuldbewußtsein der Brüderhorde(110) werden die klinischen Berichte der Identifikation mit dem gefürchteten Tier, sowohl beim »kleinen Hans«, als auch beim »kleinen Hahnemann Arpad«, die allerdings Identifizierungen mit dem Verschiebungsobjekt und nicht mit dem Vater selbst waren.(111) Kommt es damit nicht zu einer eher konstruierten Projektion des Ödipuskomplexes in eine ethnologische Protologie des urzeitlichen Vatermords?(112)

    Aber selbst der Vatermord ist anscheinend kein Mittel der Entmachtung, der Abwendung der Kastrationsdrohung. Sie wird ins Innere der eigenen Seele hineingenommen und bildet den historischen Schnittpunkt zwischen animistischem Narzißmus eigener Allmacht mit seiner projektiven Beseelung des Universums und der Religionsbildung, bei der die väterliche Kastrationsdrohung als Kernbotschaft seiner realen Übermacht ins Ich introjiziert wird und sich im Inneren eine eigene Instanz aufbaut, die die Übermacht des Vaters und seine Forderung nach Unterwerfung repräsentiert.

    Die archaische Drohmacht des eifersüchtig seine Frauen monopolisierenden Hordenvaters ist die Urszene, die der gesamten psychischen Strukturbildung in Wunschinstanz (Es), Verbotsinstanz (Über-Ich) und einer diesem Konflikt mittels der Vernunft emanzipatorisch sich entwindenden Autonomieinstanz (Ich) ihren Stempel aufprägt. Dieses Psychodrama des Ödipuskonflikts mag so konstruiert sein wie ethnologisch unhaltbar als Transkription eines tragischen Mythos der Sexualverdrängung in die phylogenetische Vorzeit; dennoch enthält er paradigmatisch und genial alle Elemente der auch entwicklungspsychologisch auffindbaren und in der Regression der Neurose offensichtlichen Elemente psychischer Strukturwerdung.

    Die Imitation und Identifikation mit dem lebenden, starken Vater ist durchaus einsichtig. Der nachträgliche Gehorsam, klinisch nur aufweisbar beim »kleinen Hans«(113) und der »Teufelsneurose« des paranoiden Malers Christoph Haintzmann(114) und der Mechanismus »narzißtischer Identifizierung mit dem Objekt« beim Melancholiker(115), muß indessen keineswegs auch den Kannibalen angehaftet haben; wären doch sonst all ihre verzehrten Feinde mächtig über sie geworden. Der Verzehr des Getöteten soll nicht seinem Machtzuwachs, sondern seiner Entmachtung dienen. Die reuige Wiederaufrichtung des Inzesttabus durch die skrupelhaft gewordenen Kannibalen als Wurzel von Religion, Moral und Kultur mutet doch eher wenig kannibalistisch an. Wären die Kannibalen so neurotisch skrupulös wie die gehemmten Wiener Akademiker und ihre Kinder gewesen, sicherlich hätten sie sich erst gar nicht an den Hordenvater herangetraut.

    Zu Freuds circulus vitiosos in diesem mythologischen Konstrukt(116) gehört die unzulässige Übertragung neurotischer Verhaltungsweisen auf die Reaktionen der scheinbar sehr gesund reagierenden Wilden, die dann auch noch alle als Kannibalen vorgestellt werden, weltweit. Gerade die Härte des Inzesttabu weist auf die unneurotische psychische Strukturierung hin, die zu kompensieren es bemüht ist. Die Brüder zeigen nach dem Vatermord eben ein Zuwenig an Verzichtsbereitschaft in ihren sexuellen Diadochenkämpfen um den Gesamtbesitz aller Clan-Frauen, den Freud als seinen Grund für die Aufrechterhaltung des Inzesttabus postuliert. Wären sie zum skrupulösen nachträglichen Gehorsam innerlich getrieben, wäre die Härte der wiederaufgerichteten Inzestschranke ökonomisch überflüssig, weil dann in der Tat inzestuöse Entsagung als »Gehorsam«, als Teil des Gewissens entstanden wäre und nicht mehr als äußerliches Gesetz. Es mutet skurril an, ein wie hohes Maß an plötzlich aufkeimender Verinnerlichung und Strukturbildung Freud gerade in der mordlustigen Urhorde veranschlagt, sagt doch schon seine Traumalehre, einen wie langwierigen Weg mit wie vielen wiederholten Stimuli der Aufbau seelischer Struktur verlangt, phylogenetisch umso mehr noch als ontogenetisch.

    »Die Gesellschaft ruht jetzt auf der Mitschuld an dem gemeinsam verübten Verbrechen, die Religion auf dem Schuldbewußtsein und der Reue darüber, die Sittlichkeit teils auf den Notwendigkeiten dieser Gesellschaft, zum anderen Teil auf den vom Schuldbewußtsein geforderten Bußen.«(117) Wie viel von einem aus Mitschuldbewußtsein an gemeinsam verübten Verbrechen als Faktor der Kultur zu halten ist, konnte Freud vor Anbruch der Judenvergasungen und ihrer genialen »Bewältigung« durch allgemeines Verschweigen noch nicht erkennen. Kultur nach Auschwitz hat aus dem Verbrechen absolut keine Intensivierung der Über-Ich-Funktionen ihrer »Teilnehmer« erfahren können.(118) Ebenso zeitigen erfolgreiche Putsche kaum spätere Verehrung des gestürzten Diktators. Statt einer »Erhöhung des einst gemordeten Vaters zum Gott, von dem nun der Stamm seine Herkunft ableitete«(119), ist mit mehr historischem Recht die postmortale Deifikation des heldenhaften, beliebten und Freiheit gebenden Stammesvaters(120) sehr viel einleuchtender. Der Vatermord des Ödipus ist eine tragische Ausnahme und die Entstehung des Über-Ichs nicht Effekt des Vatermords, sondern umgekehrt der völligen realen Unfähigkeit zu diesem. So klar im Bild Gottes das des Stammesvaters engrammiert ist, so unglaubhaft ist archaische Rebellion mit nachträglichem Blindgehorsam, weil immer wieder Revolten gegen Stammesführer, Könige und Götter einen Kampf um ökonomische Verteilung von Macht und Gütern austrugen, selbst wenn der eine mögliche Ausdruck der Macht die Verfügung über die damalige Ware Frau gewesen ist.

    Eine weitere Inkonsistenz in der Instanz des verbietenden Vaters ist die Kastration. Das Überleben des Stammes wäre mit der Kastration seiner Söhne auf Dauer gefährdet. Kein Pascha würde seine eigenen Söhne zu Kastraten machen. Der Penis des Sohnes ist die Hoffnung auf Enkel. Die Sohneskastration dürfte ethnologisch gesehen selten vorkommen. Die Annahme eines kollektiven Unbewußten(121), in dessen Urphantasien sich phylogenetische Realerfahrung engrammiert hat(122), nimmt jedenfalls da Wunder, wo ein Akt gespeichert ist, der, wäre er historisch passiert, zu fragen Anlaß gibt, wie die kastrierte Urhorde nach Tod des Hordenvaters sich noch weiter mehren konnte, wie also die Menschheit dieses Eifersuchtsspektakel überlebt hat.

    Malinowski hat, von Bachofens Mutterrechtsforschung herkommend, in Untersuchungen matriarchalischer Gesellschaftssysteme den Ödipuskomplex in der Doppelheit von Inzestwunsch und Feindseligkeit gegen den Vater als verbietende Autorität nicht bestätigen können.(123) Zwar gibt es in Matriarchaten Ambivalenz gegen den verbietenden Onkel: Das Gewissen »wird am Mutterbruder erfahren. Seine Tötung hat nichts zu tun und kann nichts zu tun haben mit der Rivalität um die Mutter«.(124) Die aggressive Abwehr gilt vielmehr seiner »Autorität, die das Kollektivgesetz vertritt«.(125) Sie mag im weitesten Sinne mit sexueller Unterdrückung zu tun haben, ist aber auf diese nicht fixiert wie in Freuds Beobachtungsbereich. So ist das Vatermordmotiv wohl primär ein Machtproblem und keines der Eifersucht und Rivalität um die Mutter. Ebenfalls ist das Kastrationsmotiv, vom rituellen Menschenopfer des Saisonkönigs matriarchaler Fruchtbarkeitskulte abgesehen, niemals ein so phallisch zentriertes Problem gewesen wie in Freuds Wiener Bürger-Beobachtung, deren alttestamentliche Bindung an das Isaak angedrohte Moloch-Opfer das Modell der Kastration als wirkliche Todesdrohung stiftet, die erst in späterer Zeit aufs Tier übertragen wurde.

    Gewissen aus Kastrationsangst hat aber auch hier kaum evidente sexuelle Motive, sondern soziale im weitesten Sinne. »Die patriarchale Kastration hat zwei Formen, die der Gefangenschaft und die der Bessenheit. In der Gefangenschaft bleibt das Ich in totaler Abhängigkeit vom Vater als dem Vertreter der Kollektivnorm, d.h. es identifiziert sich mit dem unteren Vater und verliert so den Anschluß an das Schöpferische. Es bleibt traditions-, moral- und gewissensgebunden und existiert so konventionell und kastriert... Die andere Form... ist umgekehrt die Identifizierung mit dem göttlichen Vater. Sie führt zur Besessenheit der Himmelsinflation in der 'Vernichtung durch den Geist'.«(126) Beidemale verhindert die Fixierung auf den Geist den Zugang des Sohnes zur »fruchtbaren weibliche(n) Seite, an das schöpferische Unbewußte«.(127)

    Solch ein symbolisch zu verstehender Kastrationsbegriff ist denn auch »niemals personal, sondern immer transpersonal«, läßt die persönlichen Eltern Inkarnationen von archetypischen Elternbildern sein, in denen der moralische Grundkonflikt primär nicht nur einer der sexuellen Freiheit ist, sondern einer der umfassenden Selbstbestimmung des Sohnes und der Tochter.(128) Die Symbolik der Kastration mag im Sinne von Jungs Archetypenlehre durchaus die verbietende soziale Instanz und ihr das Ich des Kindes bedrohendes Wirken der Kollektivnorm beschreiben. Aber ein archaischer Vatermord oder eine reale Kastration durch den eifersüchtigen Vaterrivalen entspringt weniger der Urgeschichte der Menschheit als vielmehr dem Familienroman der Neurotiker, projiziert auf die Urzeit: die Darwinsche, phylogenetisch spät datierende patriarchale »Urhorde« scheint dem Hühnerstall des »kleinen Arpad« oder den Hengstkämpfen des »kleinen Hans« abgeborgt zu sein.

    1.2.1.6.6 Genese sozialer Identität: Innenstruktur durch Identifizierung

    Neben dieser phylogenetischen Perspektive der Vorzeitbeerbung findet sich die eher klinisch orientierte Linie der biologischen Entwicklung des Kindes. »Die infantile Genitalorganisation«(129) entwickelt Freud 1923 als eine Stufentheorie weiter, von kannibalischer Oralität(130) über sadistische Analität(131) bis zum ödipalen Höhepunkt, wo nur der Phallusbesitz zählt: »der Gegensatz lautet hier: Männliches Genitale oder kastriert«.(132) Die Wichtigkeit des »Wiwimachers«, von Phallusbesitz oder Kastriertsein veranschaulicht Freud hier wieder am »kleinen Hans«, an dem er sie entdeckte.(133) »Der Untergang des Ödipuskomplexes«(134) in einer präpuberalen Latenzperiode(135) kommt einer Verdrängung durchaus gleich. Er vollzieht sich beim Knaben im verzichtenden Ablassen von der Mutter angesichts der nicht nur väterlichen »Kastrationsdrohung«(136) und der biologischen Unfertigkeit zum intravaginalen Phalluseinsatz(137) bei der Mutter. Narzißtische Organlust und libidinöse Besetzung der Eltern werden aufgegeben, um sich wenigstens den Penis zu bewahren und eine gemilderte Form der liebevollen Zuwendung der Eltern obendrein.(138) »Die Objektbeziehungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzungen versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht, zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt.«(139)

    Beim kleinen Mädchen macht Freud schließlich einige »psychischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«(140) geltend, denen wesentlich ist, daß die Kastrationsphantasien beim Mädchen die inzestuöse Aufmerksamkeit allererst auf das väterliche Objekt lenken, weil es den so sehr vermißten Phallus hat, also den Ödipuskomplex und die Inzestliebe schüren, statt, wie beim Knaben, zu ermäßigen. »Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen gleitet - man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung - vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären.«(141)

    Soviel zum strukturbildenden Effekt des Ödipuskomplexes, der deshalb so eingehend behandelt ist, weil er für Freud den wesentlichen Kern der gesamten Neurosenlehre und das mythisch-szenische Paradigma der zweiten, rollenmäßigen Topologie der Psychostruktur ist. Seine Verallgemeinerung auf jede soziale Schicht und jede Kultur schaffte die Problematik, ihn als Projektion und Konstruktion der beschränkten Freudschen Klinik zu begreifen. Dies macht im Nachgang die Kritik von Perls noch einmal verständlicher und triftiger, daß Freud unter einer Reduktion sämtlicher seelischer Phänomene auf das ihnen zugrunde gelegte sexuelle Paradigma leide.(142)

    Freud hat die psychosexuelle Entwicklung thematisiert von Beginn der Säuglingstätigkeit an, ja noch das Trauma der Geburt mit Rank als erste Angstsituation der Trennung vom allmächtigen nährenden Mutterobjekt beschrieben.(143) Die von totaler Konfluenz geprägte, vor allen physiologischen Möglichkeiten zerebraler Speicherung gelegene, uterinale Mutter-Kind-Dyade fällt aus der Theorie und der klinischen Aufmerksamkeit heraus. Die Einheit mit der verschlingenden Urmutter als früheste Stufe der Psychogenese(144) ist quasi ebenso naturbelassen geblieben, also unreflektiert, wie die Rezeption der historisch frühesten matriarchalen sozialen Stadien. Denn die Bewußtseinsfähigkeit und damit die historische Dokumentation der alten Kulturen datiert meist auf schon patriarchale Stadien sozialer Entwicklung.(145) Die matriarchale »Kastration« durch Geburt(146), Brustentzug(147), Kotforderung in der Reinlichkeitsdressur(148), das »Ausmelken« des priesterlichen Penis in der ero' g1mo'(149) oder familial schlicht durch die ewigen Nörgeleien, die dem Weiblichen mit Erfüllungseffekt zugesprochen werden, kann Freud indes nicht als Konversionen der Kastrationslust des Weibes aus Penisneid heraus verorten, weil er konkretistisch Kastration als Penisverlust begreift.(150) Er kann deshalb die Dialektik der immissio membris als Mannbarkeit und Entmannung, Potenz und Hingabe, Kraft und Entkräftung nicht erkennen. Der Orgasmus ist als Wandlung männlicher Aktivität des penetranten Gliedes in weibliche Passivität des entladenen Gliedes in der bergenden Konfluenz uterinaler Regression für Freud anfangs nur Triebentladung. Später ist er auch primärmasochistischer Ausdruck des Todestriebs, dennoch immer Dokument phallischer Kraft und nicht ebenso der Kastration selbst.(151) Seine phallistische Version des Penis als Symbol der Macht mag nachträglich Kastration zum Symbol des Verlustes von Autarkie, Autonomie, Macht und triebsyntoner Selbstbestimmung deutbar machen. Als solche wird sie die Genese des Über-Ichs aus der Enge der Phallusfixierung befreien. Und doch mahnt der archaische Begriff der Kastration zugleich, mehr als revisionistische Milieutheorien(152), an die tödliche Strenge der gesellschaftlichen Institutionen, deren Transmission der Vater bewußtlos leistet. Folter, Schauhinrichtungen und Flächenbombardements mit Punktzielwaffen haben ihre Emanationen in die tagtäglich konsumierten Morde der Filmbranche gefunden und zelebrieren die objektive Wertlosigkeit jedes einzelnen Lebens jedem kleinen Fernsehzuschauer. Dagegen war Kannibalismus nur eine unbedeutende Vorstufe und wirklich noch skrupulöser als die heute universaler als jeder Ödipuskomplex verbreitete Freizügigkeit mit dem Tod trotz aller humanitärer Beteuerungen.(153)

    1.2.1.6.7 Ich, Es und Über-Ich der zweiten Topik als Rollenmodell

    Freud entwickelt die Gestalt des Über-Ichs in »Das Ich und das Es« 1923 aus bereits bekannten früheren Motiven: aus dem Ideal-Ich als verschobenem Narzißmus(154), aus dem in charaktereologische, sublimierte Strukturbildungen untergegangenen Ödipuskomplex(155), aus der kritischen zwischen Ideal und Real-Ich messenden Instanz der Beobachtung oder Zensur(156) - und schließlich aus der Identifizierung als einer Introjektion des geliebten, aber entzogenen Objekts im Modus des Trauerns.(157) Ist das nicht nur durch Mimesis der Eltern, sondern Introjekte der gesamten Kultur, Mode und öffentlichen Meinungsindustrie konstituierte Ich-Ideal die Ersatzbildung für den Grandiosität erheischenden Narzißmus, so ist die Identifizierung Ersatzbildung für den Verlust des eben doch nicht allmächtigen Objekts. Verschobener Narzißmus und verschobene Objektlibido koinzidieren quasi in jenem Dritten, welches weder die eigene Person noch die Person des Anderen ist, sondern die Verschiebung des Anderen in die eigene Person, die Verlängerung des Objekts ins Ich.

    Den Vorgang der Identifizierung arbeitet Freud 1921 im VII. Kapitel von »Massenpsychologie und Ich-Analyse« erstmals in seiner Verbindung von Verlustreaktion und ödipaler Bewunderung des Vaters, dem ontogenetischen »eritis sicut deus«, heraus. War die Bewunderung noch getragen von der Libido des Habens, der Anteilhabe an der väterlichen Allmacht, so wandelt sich diese primärnarzißtische Objektbesetzung in der Identifizierung zum Wunsch, zu sein wie der Vater. »Man erkennt nur, die Identifizierung strebt danach, das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere zum 'Vorbild' genommene.«(158) An der Hysterie der »Dora«, die des Vaters Husten nachhüstelt(159), macht Freud die aufschlüsselnde Entdeckung, »die Identifizierung sei an Stelle der Objektwahl getreten, die Objektwahl sei zur Identifizierung regrediert.«(160) Dies sind drei Formen der Identifizierung: die primärnarzißtische Identität mit dem allmächtigen Mutter-Objekt: Anteilhabe. Zweitens die die Objektbindung regredient ersetzende Introjektion des Objekts in Ich: melancholisch 'mißlungene' Trauerarbeit. Drittens die »psychische Infektion«, bekannt als empathisches Mitleiden mit dem Titelhelden der Dramen und Spielfilme, aber auch die Einfühlung des Therapeuten und Dialogpartners, Basis menschlicher Beziehungsfähigkeit.(161)

    In seiner zweiten Topik 1923 ersetzt Freud den Begriff des Ubw durch den des »Es«, darin Georg Groddecks Aufnahme dieses Begriffs von Nietzsche folgend.(162) Darin begreift er das Chaos, den »Kessel voller brodelnder Erregungen«(163) der Triebe und zugleich auch das Verdrängte, dem Bewußtsein und der Motilität unter Einwirkung gesellschaftlicher Zensur Entzogene. Zugleich ist auch das Ich diffus ins Es hineinreichender Teil des Es. Die Deutlichkeitsskala der Bewußtseinsstufen des Ich reicht vom dunklen Chaos übers Vorbewußte bis ins Wahrnehmungsbewußte. Das hirnanatomisch gedachte Schaubild in Kapitel II(164) wird erst in der 31. Vorlesung der »Neuen Folge« um das unbewußt gewordene Introjekt des Über-Ichs erweitert, als Gegenspieler des Verdrängten.(165) Der Keil zwischen Ich und Verdrängtem gemahnt an eine äußerlich zugefügte tiefe und lange Stichwunde, eine tiefe Traumatisierung, die bei Freud unbemerkt in anatomische Invarianz umzuschlagen droht, als gehöre der Riß im Selbst zwischen Ich und Es zur Naturwüchsigkeit und nicht vielmehr zur Verstümmelung der Persönlichkeit durch äußere Gewalteinwirkung, zu der Erziehung oft gerät.(166)

    Der mimetische Impuls der Nachahmung des Geliebten erfährt durch den Liebeskummer, den Schmerz über den Verlust des geliebten Objekts, eine ungemeine Verstärkung. Statt realer Beziehungserfahrung tritt eine imaginierte Imitation, ein Sich-gleich-Machen mit dem verlorenen Geliebten ein. Damit ist das der Realerfahrung entzogene Objekt im Innern der eigenen Person aufgehoben. Mimesis als innerer Impuls korrespondiert mit dem äußeren Impuls der erziehenden Eltern, mit dem sozialen Zwang und Druck. Freud blendete die soziale Dimension vollständig aus, um jene innere Dimension des sehnenden Menschen umso genauer zu verstehen. In Wahrheit ist die Introjektion jedoch nur der eine Part des multifaktoriellen, überdeterminierten Geschehens der Identifikation: ich mache mich nicht nur gleich, ich werde auch gleich gemacht, durch soziale Repression dahingehend stimuliert, daß ich die Rollenmuster der Erziehungsagenten übernehme. Autoplasis und Alloplasis durch die Eltern und andere Bezugspersonen weben das gleiche Tuch der Charakterstruktur. Die Beschränkung auf den Innenaspekt erspart Freud den Blick auf die Pädagogik.

    »Soll oder muß ein... Sexualobjekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht selten die Ichveränderung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich wie bei der Melancholie beschreiben muß... Vielleicht erleichtert oder ermöglicht das Ich durch diese Introjektion, die eine Art von Regression zum Mechanismus der oralen Phase ist, das Aufgeben des Objekts. Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte aufgibt.«(167) Freud hat den Begriff der Introjektion von Ferenczi übernommen.(168) Urmodell der Introjektion ist denn auch der Kannibalismus: »Die Identifizierung ist eben von Anfang an ambivalent... Sie benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches vernichtete. Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt stehen«.(169)

    Die Rücknahme der Objektlibido in der strukturbildenden Introjektion der Elternimagines zur Über-Ich-Instanz ist so ambivalent wie der Verzehr des gemordeten Vaters im Totemmahl: Aufhebung als Vernichtung seiner Real-Existenz für das Ich und zugleich Bewahrung seiner Interaktionsfiguren, seiner Moralität und Charakterstrukturen. Zugleich werden die introjizierten Interaktionsfiguren der Eltern mit der Energie libidinös besetzt, die vormals inzestuös den Eltern als Objekten galt.

    Die ehemaligen Objektgelüste werden desexualisiert und gelten nun dem Ideal, wie Vater oder Mutter zu sein. »Die Umsetzung von Objektlibido in narzißtische Libido, die hier vor sich geht, bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehender Behandlung würdige Frage, ob dies nicht der allgemeine Weg zur Sublimierung ist, ob nicht alle Sublimierung durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht, welches zunächst die sexuelle Objektlibido in narzißtische verwandelt, um ihr dann vielleicht ein anderes Ziel zu setzen.«(170)

    So kommt es zum sekundären Narzißmus, in dem die per Identifizierung introjizierten Objektmerkmale, die sublimiert zu Charakterstrukturen des Ich geronnen sind, die Libidobesetzung bekommen, die vormals dem grandiosen Größenselbst (inclusive seiner dyadischen Verlängerung in die Mutter) und danach den inzestuösen Objekten galt.(171) Von der introjizierten mütterlichen Brustwarze und ihrer nährenden Milch als der Ureinheit, der als grandiose Identität erlebten Primäridentifizierung, führt die Entwicklung zur inzestuösen Objektbesetzung und als deren Untergang dann zur zugleich sublimierenden, auf Inzest verzichtenden, und autoplastisch identifizierenden Aneignung des Objekts.

    Komplizierend kommt die Divergenz der Objekte hinzu. Nicht nur die Mutter, auch der Vater und andere Bezugspersonen haben ihre doch je eigene Charakterstruktur, Moralität, Reaktionsweise. Deren seelischer Wiederhall in der mimetischen Einholung ins Innere mag denn auch bis zum Äußersten unvereinbar sein.(172) Das Kind hat keine Möglichkeit, sie zu einem konhärenten Über-Ich strukturell zu integrieren. Es ist den divergenten Interaktionsfiguren hilflos ausgeliefert und kann nur separate Introjekte aufrichten. »Es kann zu einer Aufsplitterung des Ichs kommen, indem sich die einzelnen Identifizierungen durch Widerstände gegeneinander abschließen, und vielleicht ist es das Geheimnis der Fälle von sogenannter multipler Persönlichkeit, daß die einzelnen Identifizierungen alternierend das Bewußtsein an sich reißen. Auch wenn es nicht so weit kommt, ergibt sich das Thema der Konflikte zwischen den verschiedenen Identifizierungen, in die das Ich auseinanderfährt, Konflikte, die endlich nicht durchwegs als pathologisch bezeichnet werden können.«(173)

    Was in der Schizophrenie als völlige Verselbständigung der Rollenmuster zu kompletten Persönlichkeiten ausgeformt ist(174), gehört ansatzweise zur Integrationsaufgabe eines jeden Menschen. Melanie Klein hat darum zu Recht von den Fragmenten, den Introjekten der »guten« und der »bösen Mutter« in der präödipalen Phase genauso einschlägige Effekte behauptet wie von der ödipalen Introjektion des sadistisch gestrengen Vaters.(175) Die Ambivalenz von Liebe und Haß führt sowohl im Objekt als auch im Ich nach Klein ab dem 4. Monat zur einer Spaltung, die erst später integriert werden kann.(176)

    Diese Multiplizität der Introjekte könnte ein »Doppel-Über-Ich« ergeben, Vater und Mutter stehen im Konflikt und gewinnen alterierend im Ich die Oberhand.(177) Die Übertragung der bösen, verfolgenden oder verlassenden Mutterbrust auf immer neue Situationen schafft so eine paranoide (Dis)Position, die auch in der Therapie, in der Wiederholung der infantilen Neurose(178), zur Projektion der bösen Introjekte auf den Analytiker führt(179), der seinerseits eine Doppelmoral vertritt, wo er als Anwalt der Triebansprüche des Analysanden eigene Bedürfnisse abstinent ignoriert.(180)

    Freud begreift die Doppelheit der Introjektionen unter dem Satz vom »vollständigen Ödipuskomplex« dahingehend, daß das bisexuelle Kind zu beiden Elternteilen sowohl die Appetenz des Inzestes aufrichtet als auch die eifersüchtige Feindseligkeit des Sexualrivalen aufgrund des vereitelten Inzestes, womit also beiden gegenüber die Ambivalenz von Liebe und Haß sowie die Neigung zur Introjektion als Ersatz für den Sexualverzicht besteht.(181) Die Ambivalenz zu zwei Personen ergibt »vier in ihm (dem Ödipuskomplex; M.L.) enthaltene Strebungen«, die »irgendwie miteinander vereinbart« werden müssen.(182)

    Damit hat Freud personologisch formuliert das vorweggenommen, was später als familiale Matrix zur grundlegenden Perspektive der Familientherapie werden sollte - jedoch mit der ihm eigenen Beschränkung auf die Binnensituation des »psychischen Apparats«. Die Liebe führt zur Identifizierung, der Haß zur Gegenidentifikation: »Das Über-Ich ist aber nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen des Es, sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung gegen dieselben. Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in der Mahnung: 'So (wie der Vater) sollst du sein', sie umfaßt auch das Verbot: 'So (wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten.'«(183) Freud spricht vom »Doppelangesicht des Ichideals«.(184)

    Die Introjektion des sadistischen Vaterimagos als »bösem Objekt« ist bei den Mißhandlungsexzessen in unseren Kinderstuben durchaus realitätsgerecht und nicht in der Grauzone des Phantastischen, das dem Imago-Begriff anhaftet.(185) In der Tat introjiziert das Kind Vaters Aggressivität.(186) »Das Kind wird den Charakter des Vaters bewahren«.(187)

    1.2.1.6.8 Vituelle Kulturfeindlichkeit der menschlichen Triebe

    Wurzel der Identifizierung ist aber nicht nur die Rücknahme libidinöser Besetzungsenergie bei Objektverlust, sondern Freud nennt endlich auch jene andere, von seiner Tochter Anna als »Identifizierung mit dem Angreifer«(188) bezeichnete Reaktion: »Da die Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt sich eine Identifizierung mit dem anfänglichen Rivalen her.«(189) Damit stimmt die einfache Herleitung aus der rückgenommenen Inzestliebe nicht mehr, die »das Über-Ich als Anwalt der Innenwelt, des Es« dem Ich als »Repräsentant der Außenwelt, der Realität« kontrastiert.(190) Der Konflikt Realität versus Triebwelt scheint nach dieser Gleichung das Über-Ich auf der Triebseite zu verorten, das Ich auf der Realitätsfront. Welche eigenartige Verkehrung der Rollen! Ist doch gemeinhin die strafend-verbietende Instanz kaum als Anwalt der Triebe kenntlich, sei sie, wie alles Psychische, auch noch so energetisch gespeist von der Kraft des Es und sei sie - als selbst teils unbewußte(191) - auch noch so intimer Kenner der unbewußten Wünsche: der Ausdruck Richter träfe besser als der des Anwalts. Das Inzesttabu als Basis des »Objektverlustes« und des Unterganges des Ödipuskomplexes in psychische Strukturbildung ist wie alles Strafen und Verbieten »Außenwelt«. Ohne massive repressive Eingriffe der »Außenwelt« würde es sicherlich immer noch zu freundlichen Imitationen kommen, aber nicht zu dem Sadismus des Über-Ichs, den Freud klinisch immer wieder in Melancholie und Zwangscharakteren vor sich hatte.

    Weil die Triebnatur bösartig zum Tode krankt, muß die Gesellschaft sie bändigen - so lautet die Freudsche Version des Trieb-Moral-Konfliktes, auf ihren harten Kern gebracht. Er kann den sadistischen Introjekten des Über-Ichs wenig Ich-Schädigendes abgewinnen, sind sie doch ökonomisch vom Todestrieb des Es gespeist. Damit ist die Trieblehre nur der eine Teil, dessen Kehrseite eine Gesellschaftstheorie ist, deren oberstes Ziel die Bändigung der Seele ist. So weitet sich seine anatomistische Psychohydraulik schon mit »Totem und Tabu«(1913) und »Massenpsychologie und Ich-Analyse«(1921), vollends aber mit »Die Zukunft einer Illusion«(1927)(192) und »Das Unbehagen in der Kultur«(1930)(193) zu einer sozialpsychologischen Kulturtheorie.

    Freud begreift die Instanzen der individuelle Freiheit begrenzenden Gesellschaft als Kultur. »Die menschliche Kultur - ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet - und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen - zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfaßt einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln.«(194)

    Freuds Kulturbegriff deckt sich also sachlich mit dem Marxschen Arbeitsbegriff als eines Stoffwechsels mit der Natur, als gesellschaftlicher Naturbeherrschung zwecks Bedürfnisbefriedigung, zu welcher als Überbau die Gestaltungen der Pro- und Reproduktionsverhältnisse gehört. Während bei Marx Kultur lediglich eines der Überbauphänomene ist, umfaßt der Begriff bei Freud Basis und Überbau, Arbeit und Interaktion.(195)

    Freud sieht auch die dialektische Interdependenz von ökonomischer Basis der Arbeit mit ihren technisch fortschreitenden, das Maß der Bedürfnisbefriedigung bestimmenden Produktivkräften einerseits und den die Güterdistribution regulierenden Produktionsverhältnissen des Überbaues menschlicher Interaktion anderseits. »Die beiden Richtungen der Kultur sind nicht unabhängig voneinander, erstens, weil die gegenseitigen Beziehungen der Menschen durch das Maß der Triebbefriedigung, das die vorhandenen Güter ermöglichen, tiefgreifend beeinflußt werden, zweitens, weil der einzelne Mensch selbst zu einem anderen in die Beziehung eines Gutes treten kann, insofern dieser seine Arbeitskraft benützt oder ihn zum Sexualobjekt nimmt, drittens aber, weil jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur ist, die doch ein allgemeinmenschliches Interesse sein soll.«(196) Freud benennt damit das Phänomen des Warencharakters von Arbeitskraft und sexueller Attraktivität, ja menschlicher Beziehungen generell. Die Menschen benutzen einander. Sein Objekt-Begriff, der anstelle des Begriffes der Beziehung steht, hat diesen Sachverhalt schon von den Anfängen seiner Theorie an markiert.(197) Freud generalisiert damit den Warencharakter von der Arbeitskraft auf den gesamten Interaktionsbereich(198), auch noch im Eheleben begegnen sich Menschen als Objekte, als Waren, die nach handelsüblichen Marktgesetzen miteinander umgehen.(199)

    Die psychische Verelendung(200) führt Freud, durchaus der »Unzulänglichkeiten der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln«(201), bewußt, nicht als vermittelte Folge von sozialer Ausbeutung und der Härte der Lohnarbeit, sondern ohne jede klassenspezifische Differenzierung als generellen Grundkonflikt zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip durch. Die Triebdisposition ist virtuell antisozial und muß kulturell gebändigt werden. Unabhängig von der ungleichen Güterverteilung und ungleichen Arbeitssituationen bedeutet für jeden Menschen gesellschaftliches Sein Triebverzicht. An dieser Stelle klafft eine zentrale Differenz zwischen Freud und Marx.(202)

    Der Antagonismus ist nicht einer zwischen sozialen Klassen, nicht wesentlich der Distributionskonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital, sondern über die Klassengrenzen hinaus das Motivationsproblem der Menschengattung, der nicht der paradiesische Status der Tiere vergönnt ist: aus ihrer instinktuellen Konstitution unmittelbar zum Überleben zugerüstet zu sein. Als Ersatzbildung für die fehlende Instinktausstattung sind die Institutionen der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, die durch zwischenmenschliche Herrschaft konstituierten Produktionsverhältnisse eingetreten.

    Freud bezeichnet diese als »schwer drückende« Zumutungen der Kultur: »Die Kultur muß also gegen den Einzelnen verteidigt werden und ihre Einrichtungen, Institutionen und Gebote stellen sich in den Dienst dieser Aufgabe; sie bezwecken nicht nur, eine gewisse Güterverteilung herzustellen, sondern auch diese aufrechtzuerhalten, ja sie müssen gegen die feindseligen Regungen der Menschen all das beschützen, was der Bezwingung der Natur und der Erzeugung von Gütern dient.«(203)

    Nicht Ungleichheit der Struktur einer »gewissen« Güterverteilung und der Arbeitsteilung ist für Freud die Ursache von Feindseligkeit, sondern Fabriken, Wissenschaft und Technik müssen gegen die Arbeiter geschützt werden, weil sie so »leicht zu zerstören« sind.(204) Auflehnung und Zerstörungssucht der Kulturteilnehmer sind ein Übel jeder Gesellschaft, eine Invariante jenseits aller Klassenantagonismen.

    Zwar konstatiert Freud, daß dem Fortschritt der Produktivkräfte und damit dem der Naturbeherrschung kein ebensolcher der »Regelung der menschlichen Angelegenheiten« gefolgt ist.(205) Selbst wenn aber die Zwangsmaßnahmen, die Triebunterdrückung restlos beseitigt wären, wenn also ein saeculum aurelium des sozialen Friedens geschaffen wäre, bliebe die große Skepsis bestehen, daß eine geradezu urwüchsige Destruktivität der Menschen den sozialen Frieden und den reibungslosen Ablauf der Produktion von Lebensgütern behindern würde. In einer Gesellschaft ohne Zwang käme keiner zur Arbeit.

    Der Mensch ist für Freud das faule Tier, der Oblomow, der noch dazu gefährliche Destruktionstendenzen triebhaft auszuleben hat. »Es scheint vielmehr, daß sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muß; er scheint nicht einmal gesichert, daß beim Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf. Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und daß diese bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen.«(206)

    Darum ist auch nach Aufhebung des Privateigentums mit menschlicher Aggressionslust zu rechnen, ja selbst wenn »das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen«(207) ist, durch »völlige Befreiung des Sexuallebens«, durch Beseitigung der Familie als »Keimzelle der Kultur« die Utopie eifersuchtsfreier Liebe gewährleisten würde: »es läßt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, daß der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.«(208)

    Die Triebhaftigkeit der Massen gleicht der des Es im intrapsychischen Instanzenmodell, während die Ich-Instanz gewissermaßen Aufgabe der politischen Führer ist. Darum ist es mit gerechter Verteilung der Lebensgüter und der Beteiligung an der Macht noch lange nicht getan: »Ebensowenig wie den Zwang zur Kulturarbeit kann man die Beherrschung der Masse durch eine Minderzahl entbehren, denn die Massen sind träge und einsichtslos, sie lieben den Triebverzicht nicht, sind durch Argumente nicht von dessen Unvermeidlichkeit zu überzeugen und ihre Individuen bestärken einander im Gewährenlassen ihrer Zügellosigkeit. Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie als ihre Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entsagungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist.«(209)

    Den kulturellen Organen kommt dabei die Aufgabe der Verteidigung der Kultur gegen ihre Teilhaber zu: »Mit der Erkenntnis, daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht und darum unvermeidlich eine Opposition bei den von diesen Anforderungen Betroffenen hervorruft, wurde es klar, daß die Güter selbst, die Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das Wesentliche oder das Alleinige der Kultur sein können.

    Denn sie sind durch die Auflehnung und Zerstörungssucht der Kulturteilhaber bedroht. Neben die Güter treten jetzt die Mittel, die dazu dienen können, die Kultur zu verteidigen, die Zwangsmittel und andere, denen es gelingen soll, die Menschen mit ihr auszusöhnen und für ihre Opfer zu entschädigen. Letztere können aber als der seelische Besitz der Kultur beschrieben werden.«(210) Sowohl das Schwert der Obrigkeit als auch das Zuckerbrot kollektiver Wunschphantasien der Religion sind Abwehrinstanzen gegen die Aggression des Einzelnen,die ihrerseits noch einmal erheblich geschürt wird durch die Pressionen der Kultur.

    Kultur hat also dem Einzelnen gegenüber als Selbstkonstitution der Gattung drei Funktionen: A) Sie verlängert den Naturzwang in Gestalt des Arbeitszwanges als Not des Lebens, die zur Beschaffung von Lebensmitteln aller Art nötigt, um das Leben des Einzelnen wie auch der Gattung insgesamt fortzusetzen. Sie unterdrückt zu diesem Behufe die unmittelbaren Triebregungen des Einzelnen und kanalisiert seinen Protest gegen die Unterdrückung in produktive Bahnen, die nicht auf eine Selbstdestruktion der Gattung hinauslaufen. B) Sie bietet andererseits aber auch die zur Fortsetzung des Lebens nötigen Güter und reguliert ihre Distribution. C) Schließlich bietet sie als »seelischen Besitz« jenen Trost der Religionen, der die Trieblast erleichtert, die Versöhnung mit diesem unumgänglichen Schicksal des irdischen Jammertales mythisch-rituell gestaltet und den Einzelnen entschädigt für all seine Opfer und Entbehrungen in der Härte des Lebens.(211)

    Freud sieht in den Entbehrungen und Versagungen, die alle betreffen, nämlich in dem Verzicht auf die ältesten Triebwünsche Inzest, Kannibalismus und Mordlust, der zur Herauslösung der Gattung aus ihrem animalischen Urzustand nötig war, den »Kern der Kulturfeindseligkeit«.(212) Zu der Emanzipation der Seele aus ihrer animalischen archaischen Triebhaftigkeit rechnet Freud die phylogenetische Bildung des Über-Ichs, die ontogenetisch quasi im Zeitraffer wiederholt wird. »Es liegt in der Richtung unserer Entwicklung, daß äußerer Zwang allmählich verinnerlicht wird, indem eine besondere seelische Instanz, das Über-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt... Das Erstarken des Über-Ichs ist ein höchst wertvoller psychologischer Kulturbesitz.«(213)

    Je hochgradiger nun diese Verinnerlichung des ehemaligen, gesellschaftlich vermittelten Naturzwangs ins Über-Ich, umso niedriger kann der tatsächliche gesellschaftliche Zwang gehalten werden. Die Möglichkeit äußerer Freizügigkeit beruht auf innerer Zwanghaftigkeit. Das große Reservoir von Deliquenz markiert diese generelle Stufe des Konfliktes von Trieb und Moral. »Das meiste, was man von der moralischen Unzuverlässigkeit der Menschen erfährt, gehört hierher. Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den Anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können.«(214)

    Demgegenüber ist der Antagonismus der Klassen ein abgeleiteter. Klassenherrschaft als ungleicher Tausch ist nur eine besondere Form, in der sich die generelle Not des Lebens äußert, die kulturelle Fortsetzung des blinden Naturzwangs. »Es steht zu erwarten, daß diese zurückgesetzten Klassen den Bevorzugten ihre Vorrechte beneiden und alles tun werden, um ihr eigenes Mehr von Entbehrung los zu werden. Wo dies nicht möglich ist, wird sich ein dauerndes Maß von Unzufriedenheit innerhalb dieser Kultur behaupten, das zu gefährlichen Auflehnungen führen mag. Wenn aber eine Kultur es nicht darüber hinaus gebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl, zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwärtigen Kulturen der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur eintwickeln, die sie durch ihre Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben. Eine Verinnerlichung der Kulturverbote darf man dann bei den Unterdrückten nicht erwarten.«(215)

    Wenn Freud sagt, in diesem Fall könne es nicht zu einer Internalisierung, Verinnerlichung und Identifikation mit den Normen und Werten dieser Kultur kommen, so verkennt er, daß - mit Marx gesprochen - die proletarische Kritik an der Ausbeutung durch die Bourgeoisie sich gerade auf diejenigen Werte der bürgerlichen Traditionen universalisierend beruft, mit denen diese einst ihren blutigen Kampf um eigene soziale Vormachtstellung legitimierte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese »Ideale« gehören ebenfalls unter die Illusionen, die »psychischen Besitztümer« der Kultur, nicht nur die von Freud gut beobachtete kollektive narzißtische Befriedigung der industriellen Reservearmee über ihre grandiose Volkszugehörigkeit, die sie für ihr sonstiges Elend entschädigt.(216)

    Freud zeigt hier volles Verständnis für die sozialistische Option des Proletariats: »Die Kulturfeindschaft dieser Klassen ist so offenkundig, daß man über sie die eher latente Feindseligkeit der besser beteiligten Gesellschaftsschichten übersehen hat. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.«(217)

    Mit dieser Differenzierung von generellen Triebverzichten und klassenspezifischen vermag Freud letztlich dann doch die psychischen Anteile in der Struktur des Klassenkampfes zu beschreiben und den Protest der sozial depravierten Schichten als spezifische und realitätsgerechte Kritik der Kultur gelten zu lassen. Das Versagen der normalen Identifikation des Über-Ichs mit der kulturellen Tradition ist in diesem Falle Zeichen einer Legitimationskrise der gesamten gesellschaftlichen Verfaßtheit, der offenen Diskrepanz von tatsächlicher Sozialordnung und gepredigter Werteordnung.

    Der Neid der Ausgebeuteten gegen die ökonomische Aristokratie will nicht blindwütig die Destruktion aller Werte, Normen und Tauschverhältnisse, sondern baut sogar auf ihnen auf, aktiviert die utopischen Gehalte der Illusionen, der religiös-moralischen Traditionen als kollektive Wunschvorstellungen. Soziale Gerechtigkeit gehört zu den kulturellen Überlieferungen eben jener Führer, die für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit politisch Sorge tragen.(218) Die sozial-religiösen Theokratiebilder der Religion formulieren Ideale als eine Art »Phantastik des Über-Ichs«.(219) Sie sind aus Wünschen gewebt, stehen aber im Gegensatz zur »psychiatrischen Wahnidee« nicht immer kontrafaktisch zur Realität, sondern als Utopie auch hoffend ungleichzeitig und kritisch träumend.(220)

    Natürlich ist Freud dem rationalistischen Szientismus seiner Zeit treu: »Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann.«(221) Die Realitätsprüfung des vernünftigen Ichs in der Wissenschaft überwindet schließlich jene mythischen Phantasievorstellungen, »in denen das Lust-Ich seinen Traum von der Allmacht und der Unsterblichkeit weiterträumt«.(222) Die soziale Nützlichkeit des kontrollierenden allmächtigen Vaters im Himmel liegt allerdings auf der Hand: Die Angst vor seiner Strafe garantiert die Einhaltung der moralischen Standards; Atheismus brächte ungehemmtes, angstfreies, asoziales Chaos.(223) Angstvolle Moralgarantie und tröstliche Phantasieerfüllungen machten einmal die Religion pragmatisch nützlich und quasi zum Mittel kultureller Realitätsgestaltung.(224)

    Für »die große Masse der Ungebildeten, Unterdrückten, die allen Grund haben, Feinde der Kultur zu sein«, gibt es nicht die wissenschaftliche Vernunft als ethisch beerbbares Regelsystem, sie bedürfen staatlicher Niederhaltung, wenn der Glaube an Gott vergeht(225), der tröstlich Leid und Sinnlosigkeit minimierte(226), aber um den Preis der Krankheit: »Die Religion wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung.«(227)

    Religiöse Erziehung als »Unterwerfung unter die Religion«(228) hemmt durch religiöse und sexuelle Denkverbote Intelligenzbildung überhaupt(229) und narkotisiert(230) zum perennierenden Infantilismus.(231) Der religiöse Massenwahn erspart dann die individuelle Neurose.(232) Die Unerforschlichkeit göttlichen Ratschlusses »als letzte Trostmöglichkeit und Lustquelle im Leiden« dünnt allerdings aus in »bedingungslose Unterwerfung«.(233)

    Was aber, wenn sie entfällt aufgrund eigener Absurdität? Der »Gott l7go'« tröstet weder, noch entschädigen seine wissenschaftlich-technischen Errungenschaften; erst recht ist an einer Humanisierung der sozialen Institutionen durch die Vernunft nach Auschwitz erheblich zu zweifeln.(234) Die Emanzipation von der Übermacht der Natur hat fast alle Märchenwünsche erfüllt und dennoch kein Mehr an Glück gebracht, an Lust und Leidminderung.(235) Ein gebändigter Destruktionstrieb könnte die Naturbeherrschung mehren.(236)

    Kultur als Kampf von Eros und Todestrieb(237) macht die Beherrschung des Aggressionstriebes zur »Schicksalsfrage der Menschheit«.(238) Eine Kultur der Nächstenliebe fordert triebmäßig Unerfüllbares(239), wenn auch der franziskanische Weg desexualisierter, zielverhemmter und auf alle Menschen promiskuitiv universalisierter Libido die inzestuöse Selbstgenügsamkeit der Familie transzendieren kann.(240) Der Abzug von Energie aus sexueller Zweisamkeit auf Arbeitsbündnisse, Freundschaften, soziale Bindungen und »Kulturarbeit« führt zum großen Ärger vieler vernachlässigter Frauen(241) zur Beschädigung des Sexuallebens, ja führt möglicherweise zu organischen Rückbildungen der Genitalien, analog der Glatze und dem desolaten Zustand unserer Zähne.(242)

    Nächstenliebe als Ethik scheitert neben der narzißischen Unlust, sich mit unähnlichen Objekten vertraut zu machen und ihre Störung hinzunehmen, die sie schon apriori eher zu Feinden macht, daran, daß sie nicht erwiedert wird(243): darum hält das Christentum immer auch das Schwert bereit gegen die gebürtige »wilde Bestie«: Homo homini lupus.(244) Hat sie aber einen Sündenbock außerhalb, ein schönes Feindbild gefunden, auf das sich die kollektive Wut sammeln kann, bleibt die Binnenstruktur einer Gruppe stabil und konsolidiert sich aggressionsfreier.(245) Dieser faschistische, im Antisemitismus eindrücklich illustrierte Weg der paranoiden Kultur läßt die Frage entstehen, wieweit nicht alle bisherige Kultur als Pathologie, als Gemeinschaftsneurose beschrieben zu werden verdient(246), deren Heilung zu einer versöhnten Gesellschaft kaum noch erwartet werden kann.(247)

    Ein letztes Mittel der Beherrschung der Aggression sieht Freud in der Aufrichtung des Über-Ichs, die er als »Introjektion der Aggression« beschreibt: »Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als 'Gewissen' gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; es äußert sich als Strafbedürfnis.«(248)

    Die aggressive Energie des Über-Ichs speist sich aus zwei Quellen: »Sie setzt einfach die Strenge der äußeren Autorität, die von ihr abgelöst und teilweise ersetzt wird, fort.«(249) Als »Angst vor der äußeren Autorität« aus der Angst vor dem Verlust ihrer Liebe verinnerlicht, begegnet der introjizierte Teil der Aggression dem inneren Protest gegen die Autorität, der Wut gegen die Versagung der inzestuösen Triebbefriedigung. Die Zeitfolge ist: a) Triebverzicht aus Strafangst und Angst vor Liebesverlust, b) Aufrichtung des Gewissens, c) Triebverzicht aus Gewissensangst, die schon die Absicht, nicht erst die Ausführung straft mit innerpsychischem Unbehagen und Strafbedürfnis.(250) Freud kann hier tatsächlich als erste Wurzel des Sadismus im Über-Ich den familial vermittelten Einfluß der Gesellschaft bestimmen: »Die Aggression des Gewissens konserviert die Aggression der Autorität.«(251)

    Erst in zweiter Linie, als Gegenreaktion des eingeschränkten Selbst, taucht Aggression auch im enttäuschten Kind auf. »Gegen die Autorität, welche das Kind an den ersten, aber auch bedeutsamsten Befriedigungen verhindert, muß sich bei diesem ein erhebliches Maß von Aggressionsneigung entwickelt haben... Notgedrungen mußte das Kind auf die Befriedigung dieser rachsüchtigen Aggression verzichten. Es hilft sich..., indem es diese unangreifbare Autorität durch Identifizierung in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird und in den Besitz all der Aggression gerät, die man gern als Kind gegen sie ausgeübt hätte.«(252) Diese Wut gegen die verbietende Instanz kann aber dort nicht abgelassen werden, weil der Verbieter zu mächtig ist oder weil er zu liebevoll tut, so daß Wut unangemessen böse erscheint.

    Einer Anregung Franz Alexanders folgend, sieht Freud auch im »übermäßig weiche(n) und nachsichtige(n) Vater« einen Grund für ein überstrenges Über-Ich, »weil diesem Kind unter dem Eindruck der Liebe, die es empfängt, kein anderer Ausweg für seine Aggression bleibt als die Wendung nach innen.«(253) Die antiautoritäre Attitüde indes ist reine Makulatur; verdeckt sie doch, daß auch hier verboten und versagt wird, also Triebe unterdrückt werden.

    Darin besteht auch das ekklesiologische Dilemma: Je mehr die Liebe hervorgekehrt wird, umso stärker wird der Haß verdrängt und muß sich gegen das eigene Ich richten. Wird auch diese Retroflexion noch verdrängt, weil die Wahrnehmung des eigenen Hasses unerträglich und mit dem Ich-Ideal des güten Vaters unvereinbar ist, so kommt es zum unbewußten Schuldgefühl (254), dem Teufelskreis eines Heiligen, dessen rumorende Wut sich heimlich im Über-Ich sammelt, um dort melancholische Kriege mit dem Lust-Ich und den Trieben selbst zu führen, aus denen es allererst seine Energie bezieht.(255) Freud weiß das Über-Ich als »eine von uns erschlossene Instanz«.(256) Das Schuldgefühl, ursprünglich nur unter Präsenz der Strafmacht akut, wird hier chronisch in die Strenge des zensorischen Gewissens instituiert.(257)

    1.2.1.6.9 Psychoanalyse als Anpassungshebel an die Kultur?

    Eine letzte Dimension der Verschränkung von Allgemeinem und Besonderem, Gesellschaft und Individuum entwickelt Freud durch die Kategorie des Kultur-Über-Ichs. »Man darf nämlich behaupten, daß auch die Gemeinschaft ein Über-Ich ausbildet, unter dessen Einfluß sich die Kulturentwicklung vollzieht.«(258) Dessen Idealbilder sind »Menschen von überwältigender Geisteskraft oder solche, in denen eine der menschlichen Strebungen die stärkste und reinste, darum oft auch einseitigste Ausbildung gefunden hat.«(259) Als Beispiel solcher kulturbildender Über-Ich-Ideale nennt Freud den Nazarener. Der Gedanke ist bereits vertraut aus dem Führer-Modell der »Massenpsychologie«, gewinnt hier jedoch eine wegweisende Bedeutung für die Konstitution von Moral im Individuum: Der archaische Urhordenvater erweist sich als Konstrukt, denn viel offensichtlicher sind die manifesten Hordenväter der Kultur, die Helden und Heiligen, die Stars und theatralisch aufgeputzten faschistischen Führer, oft wesentlich mehr vergöttert am heimischen Volksempfänger oder TV als jemals das unscheinbare Elternpaar.

    Freud zieht minutiöse Analogien zwischen der individuellen und der kollektiven Konstitution des Über-Ichs. Beide stellen strenge Idealforderungen auf, deren Nichtbefolgung durch Gewissensangst bestraft wird. Die kollektive Gewissensinstanz verhängt allerdings ihre Strafen nicht unbewußt, sondern im Gerichtssaal oder im Gerücht. Der Inhalt des Ideals aber konvergiert bei beiden. »An dieser Stelle sind sozusagen beide Vorgänge, der kulturelle Entwicklungsprozeß der Menge und der eigene des Individuums regelmäßig miteinander verklebt.«(260)

    Wie das Über-Ich des Einzelnen in der Strenge seiner Forderungen der triebdynamischen Konstitution des Menschen in der Rigorosität der Verleugnung und Bestrafung von Sexualität und Aggressivität unangemessen ist und daher pathogene Abspaltungen von Libido ins Symptom und von Aggression ins Schuldgefühl produziert, so schädigt auch das Kultur-Über-Ich. »Wir sind daher in therapeutischer Hinsicht sehr oft genötigt, das Über-Ich zu bekämpfen, und bemühen uns, seine Ansprüche zu erniedrigen. Ganz ähnliche Einwendungen können wir gegen die ethischen Forderungen des Kultur-Über-Ichs erheben.«(261) Eine solche realitätsgerechte und triebgerechte Kritik der Moral der Nächstenliebe im Sinne des pecca fortiter weitet die Verantwortung der Therapie zur Gesellschaftskritik, zur Ideologiekritik und zur Kritik der religiösen Moral des Abendlandes.

    Nicht der zur harte oder weiche Vater, nicht die böses Brust ist das ätiologisch zentrale Übel, sondern die moralische Atmosphäre, innerhalb derer die böse Brust entzogen oder aufgezwungen wird und die Wahl der Schlaginstrumente für die häusliche Prügel statthat. Durch die besondere Einmaligkeit jeder Familie vermittelt sich das Allgemeine der Gesellschaft. »Individuelle Strukturen - Es, Ich, Über-Ich - müssen als 'hergestellt' begriffen werden, wobei zu zeigen ist,... daß auch dort, wo die individuelle Struktur noch nicht mehr als Niederschlag sein kann, dieser Produkt eines gesellschaftlich organisierten Handelns im Sinne von Arbeit ist: Auseinandersetzung innerhalb der Mutter-Kind-Dyade als Auseinandersetzung mit Natur und d.h. Teil der Produktivität der Produzenten der Gesellschaft.«(262)

    So ist das Intimste des Individuums ein genuin sozial Vermitteltes, nicht Ergebnis invarianter Naturgegebenheit, sondern mit recht wenig feinsinnigen Methoden äußeren Zwanges von außen im Innern produziert, es ist wahrhaft in seinen Vorstellungen, Repräsentanzen, Symbolen und desymbolisierten Klischees ein extra nos. »Kritik des Überichs müßte Kritik der Gesellschaft werden, die es produziert; verstummt sie davor, so wird der herrschenden gesellschaftlichen Norm willfahrt... Das Gewissen ist das Schandmal der unfreien Gesellschaft.«(263)

    1.2.1.6.10 Perls'Ersatz moralischer Introjekte: biologische Selbstregulation

    Perls nimmt im Wesentlichen Freuds Kulturkritik unverändert auf. Er bezeichnet Moral und Religion wie Freud als kollektive imaginäre Realität, die aus Projektionen besteht.(264) Er nennt Religion eine »Als-ob-Fiktion«, einen »Wahn« aus »Dauerprojektionen«: »Die Religion tendiert dazu, das Erwachsenwerden der Menschen zu verhindern und die Gläubigen in einem infantilen Zustand zu halten.«(265) Oder nennt sie Kollektivneurose: »Die meisten Menschen haben nur die Wahl zwischen individueller oder kollektiver Neurose (z.B. Religion), individueller und kollektiver Kriminalität (Verbrechertum, Hitlerfaschismus) oder einer Mischung aus beidem«.(266) Wer dem Zeitgeist nicht willfahrt, hat realen Grund zur Paranoia: »Die Gemeinschaft verhält sich aggressiv gegenüber demjenigen, der ihre Idelogie anzweifelt, und sie tut das Äußerste, um ihm zu schaden.«(267)

    Die moralische Starre, mit der Gut und Böse situationslos dogmatisch fixiert werden und sich im Gewissen ablagern, hat ihr Maß am narzißtischen Unlustaufkommen des Mächtigen oder der Funktionsstörung der Institutionen.(268) Von der Exkommunikation der Katholischen Kirche führt ein gerader Weg in die Konzentrationslager der Nazis.(269) Den Projektionsmechanimus der Kriminalisierung hatte bereits Freud eindrücklich beschrieben. Perls stellt der moralischen Regel als einzige sinnvolle Alternative die an der biologischen Basis des Menschseins orientierte Organismische Selbstregulation entgegen.(270) Aus den unmittelbaren Bedürfnissen des leiblichen Seins (Hunger, Wärme, Gemeinschaft, Sexualität) lassen sich durchaus sinnvolle Menschenrechte ableiten. Leider deutet Perls diese alternative Konstitution von Moral nur an, ohne sie zu entfalten.

    Vom Über-Ich redet Perls fast nur als »Gewissen«.(271) Die Wendung der aufbegehrenden Wut auf die Unterdrücker und Herrschenden - hier nimmt Perls Freuds »Mann Moses« auf - wird unter der Beißhemmung verbotener Gegenwehr als Retroflexion gegen den eigenen Körper gerichtet und damit autodestruktiv.(272) Damit löst Perls Freuds strenges Über-Ich, die Problematik des unbewußten Schuldgefühls der Melancholie in dentale Aggressionshemmung auf. Dies führt ihn direkt zur Kritik an jeder Introjektion, die fremdes Gut unzerkaut verinnerlicht.(273)

    Perls spitzt die Kritik der mit dem Ideal der Nächstenliebe eindeutig überfordernden Kultur(274) auf die Kritik der Introjektion überhaupt zu: Freud übersähe »den Umstand, daß Introjektion bedeutet, die Struktur von Dingen zu erhalten, die man in sich aufgenommen hat, während der Organismus ihre Zerstörung fordert.«(275)

    Perls verkennt dabei - und hier zeigt sich die Problematik seines oralen Paradigmas der Assimilation überdeutlich -, daß ohne Introjektionen der Mensch überhaupt nicht lebensfähig wäre. Von der unzerkauten Säuglingsmilch abgesehen vermitteln sich durch die Introjekte der Gesellschaft, die sich zunächst im halbfremden Zustand des Über-Ichs sedimentieren, die grundlegenden Sprachspiele und die generative Sprachgrammatik, mit der Welt produktiv im Kontext der jeweiligen Kultur kollektiv angeeignet werden kann. Die über die Mütter vermittelten Interaktionsformen und Sprachformen sind wesentlicher Teil der kommunikativen Realität. Und die Basis jeder Verständigung ist eine möglichst naturbelassene Introjektion, eine unveränderte Erinnerung, eine korrekte Imitation.

    Die Idee einer partiellen Introjektion dürfte wohl letztlich der realistische Aspekt zum sinnvollen Umgang mit Außenwelt sein: Weder gibt es je eine totale Zerstörung der Natur beim Kauen noch wäre je eine Imitation oder Introjektion das getreue Abbild des Leitbildes. Assimilation ist immer eine Mischung von Veränderung und Belassung des Objekts der Verinnerlichung. Der Grad der Veränderung allerdings konvergiert mit dem der Individuation, die ihr Extrem in der total asozialen Isolation hat, auf die unsere Gesellschaft mit ihrer universalen Verwaltung archaischer Hilflosigkeit zusteuert und damit den paranoiden Projektionen realen Grund gibt.

    Die Funktion der Erinnerung ist konstitutiv für die Soziabilität des Menschen und seine Auseinandersetzung mit der Natur. Erinnerung und Gedächtnis aber funktionieren nach dem Muster von Introjektion und machen speichernd Vergangenheit lebendig in jeder neuen Gegenwart: Kommunikative Kompetenz ist die optimale Sythesis perzipierter Introjekte. Die konsequente Ausmistung des Augiasstalls der traumatischen Vergangenheit(276) wird als Durcharbeiten der Erinnerung nicht die Gedächtnisfunktion zerstören, sondern nur die Denk- und Motilitätshemmung, die mit der Unlusterinnerung assoziiert ist.

    So endet Perls' problematische Kritik der Introjektion wesentlich differenzierter: »Durch die Behandlung wird das introjizierte Material... differenziert in assimilierbares Material, das zur Entwicklung der Persönlichkeit beiträgt, und in einen emotionalen Überschuß, der abgeführt oder sinnvoll eingesetzt werden muß.«(277)

    1.2.1.7 Therapie als Ich-Bildung

    Die bisherige Diskussion der Zweiten Topik hat das Ich ausgespart, um es gesondert in der Ziel-Taxonomie des endlichen bis unendlichen Analyseprozesses zu verhandeln. Es gilt Freuds Motto der Therapie, »das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.«(278)

    1.2.1.7.1 Realitätsprüfung und Denkabwehr des Real-Ich gegens Lust-Ich

    Das Ich beschreibt Freud im 3. Teil vom »Entwurf einer Psychologie«(279) als Realitätsprüfer, der die der Befriedigung wunschgemäß zustrebenden Vorstellungen des Primärvorgangs auf »Qualitätszeichen« über die Herkunft des sie hervorrufenden Reizes, ob von der Innen- oder Außenwelt her, abtastet und die Erregungsdynamik noch vor der (Un)Lustentbindung hemmt, um anstelle halluzinatorischer Regression auf die Erinnerungsspur die motilen Aktivitäten durchzuführen, die der realen Befriedigung des Wunsches dienen. Aufmerksamkeit, Beobachtung und qualifizierende Besetzung der Wahrnehmungsreize und -bilder durch imitativ assoziierte »Sprachabfuhrzeichen«, Abkömmlinge der ersten »Schreinachricht« des hilflosen Säuglings(280), schaffen mittels des Gedächtnisses von Unlustszenen ein Arsenal primärer Abwehr derjenigen halluzinatorischen oder motilen Impulse, die auf eine Unlustentbindung hinauslaufen würden.(281) Die Benennung dient der Unlustmeidung, Erkenntnis der Sprachsubjekte dient deren Wohl. Unter Einströmen neuer Wahrnehmungsreize hält Denken die gestörte Wunschbesetzung aufrecht und sorgt für die Kontinuität des drängenden Wunsches durch die Irritationen der »Seitenbesetzungen«.(282) Es hält am Ziel der Identität von Wunsch und Wirklichkeit fest, will die Erfüllung des Wunsches praktisch, auch wenn es selbst nur Planung bleibt, die in Vorstellungen inszenierte Wunscherfüllung nur erst das praktische Wissen für die reale Aktion liefert.(283)

    Das Realgedächtnis reproduziert die Erinnerung vergangener Lust- oder Unlusterfahrung als »Vorbedingung jeder Prüfung des kritischen Denkens«(284), assoziiert mit den »eigenen Affekt- und Abwehräußerungen«.(285) Dabei werden unlustentbindende Erinnerungen »gebändigt«, affektiv geschwächt, indem »eine Beziehung zum Ich oder zu Ichbesetzungen Macht über die Erinnerung bekommt.«(286) Nicht nur der primäre Erregungsablauf der Neuronen, auch der Denkablauf kann gehemmt werden, würde er zur Unlustentfesselung führen.(287) Die Abspaltung der denkenden Urteilsbildung von der unmittelbaren Körpersensation durch die Symbolbildung von Dingen und Eigenschaften in multiplen Zuordnungsrastern erspart die jeweils sonst nötige Prozedur der eigenen sensorischen Realitätsprüfung und damit Energie; sie macht aber den Irrtum möglich: ignorante, unvollständige Aufmerksamkeit.(288) Aus der ausbleibenden Befriedigung bei Irrtümern, die eben nicht zur wunscherfüllenden Aktion geführt haben, lernt der Mensch und komplettiert sein Arsenal praktischen Wissens, wird vernünftiger.(289) Die »Unlustdrohung« des Schmerzes »bleibt das einzige Erziehungsmittel«(290), erzieht zur »Vernunft«, künftig Szenen zu meiden, aus denen Unlust resultiert: Das Lustprinzip ist mehr Peitsche als Zuckerbrot.

    Endlich sorgt das kritische, nachprüfende Denken für logische Widerspruchsfreiheit, will synthetische Einheit, die mögliche intellektuelle Unlust vermeidet(291), indem es »in einem solchen Material Ordnung zu schaffen, Relationen herzustellen, es unter die Erwartung eines intelligiblen Zusammenhangs zu bringen«(292) sucht. Im Handeln wird der durch Denkhemmung gebundene Zustand des »Bewegungsbildes« durch »Vollbesetzung« in die motile Erregung abgeführt, wobei immer wieder das geplante Bewegungsbild mit den sensorischen »Bewegungsnachrichten« verglichen wird und Korrekturen bis zur Identität von Plan und Ausführung fortwährend stattfinden.(293) Das Ich wird hierbei als Akkumulator der Konzentration auf Handeln hin, als letzte Bastion des Seele vor dem Output der Motilität angesehen, welche denkend gesteuert wird.(294)

    Dabei weisen Freuds Aussagen über den sensomotorischen Gesamtprozeß eine hohe Affinität zur Gestaltpsychologie auf: »Das Stück Denkablauf von der Wahrnehmung bis zur Identität durch ein Bewegungsbild läßt sich auch herausheben und liefert ein ähnliches Ergebnis, wenn dann die Aufmerksamkeit das Bewegungsbild fixiert und es in eine Assoziation mit den gleichfalls wieder fixierten Wahrnehmungen bringt.«(295) Diese Anatomie der Reiz-Reaktions-Dialektik läßt sich durchaus als geschlossene Gestalt bezeichnen.(296) Hier liegt der erste Ansatzpunkt für eine gestalttheoretische Sicht der Ich-Funktionen.

    Das mit dem Sekundärvorgang des Denkens im »Entwurf« eingeführte Überprüfen der Reize auf ihre endogene oder äußerliche Herkunft und der Eingriff in den Halluzinationsmechanismus der Regression zur Lusterinnerung belegt Freud in den »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens« mit dem Begriff des Realitätsprinzips.(297) Das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung nach der Halluzination brachte den psychischen Apparat auf die glorreiche Idee, stattdessen »die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzustreben.«(298) Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Urteilsfällung münden in Handeln oder Denken.(299) Zum Denken, verstanden als »Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben«(300), gehört neben der Realitätsprüfung auch Phantasieren, Tagträumen und Wünschen.(301)

    Freud versteht diese Funktionen als Polarität von Lust-Ich und Real-Ich. »Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust auszuweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun, als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern.«(302) Es findet seinen kulturellen Niederschlag in den Triebaufschub belohnenden Religionen, der Wissenschaft und der Kunst, wissend, daß unmittelbare Befriedigung oft wenig nachhaltig ist. Zugleich korreliert der genetische Zuwachs vom Lust-Ich zum Real-Ich mit der Erweiterung des Narzißmus zur Objektliebe, die auch nachhaltigere Befriedigung verspricht als der private Organreiz.(303) Freuds Fokus des Apparats kann wenig dialektische Verschränkung mit der Realität einfangen. Daher gerinnen die vielfältigen Beziehungen des Ichs zur Realität oft ins Stereotype der »Instanz«, sowohl das Ich als auch die Realität. 1924 kontrastiert er in »Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose« das Es und die Realität als »topisch verschieden«, nimmt die Realität also ins Modell so auf wie das Es.(304)

    Ist die Neurose »der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt«(305), so ist Psychose nicht nur Realitätsverlust, sondern der innere Aufbau eines Ersatzes für die verleugnete, abgelehnte Außenwelt. Die Neurose vermeidet fluchtartig die Realität, verleugnet sie nicht, sondern »will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.«(306)

    Mit Ferenczi nennt Freud den Realitätsverlust durch innere Veränderung autoplastisch, während Veränderung der Realität durch Motilität (Arbeit) alloplastisch ist.(307) Der Ersatz für die unlustbringende Realität ist eine Phantasiewelt, ein Gebiet, das »seinerzeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der realen Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer 'Schonung' von den Anforderungen der Lebensnotwendigkeit freigehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich ist.«(308)

    So ist Realität das Andere von Halluzination, Phantasiewelt und Traum. Sie ist zeitlich, Außenwelt, sozial geprägt und perpetuiert den Naturzwang, die Lebensnot, 2n1gkh. Am Ende steht drohend der Tod, der der Geliebten und der eigene.(309) »Erziehung zur Realität«(310) ist für Freud postreligiös mit dem »Gott l7go'«(311) die trostlose Einsicht, daß hinterm Sternenzelt kein mächt'ger Vater wohnt(312), eher vom Himmel hoch Satellitengeschosse zu erwarten sind. Die Todesangst leitet Freud dennoch vom archaischen Hordenvater ab, man kann »also die Todesangst wie die Gewissensangst als Verarbeitung der Kastrationsangst«(313) auffassen. Nicht Gold, nicht Silber sind im »Motiv der Kästchenwahl« Tor zur Welt, sondern das dritte mit Blei, welches zugleich die Schönste und Begehrenswerteste verheißt.(314) Aber die schönste Frau bringt zugleich das Verhängnis, die Vereinigung mit der Großen Göttin ist der Tod des Jahreskönigs in »Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt«.(315) Auch das vermeintlich Rettende bringt den Tod; die desillusionierende Entzauberung der Welt durch die aufgeklärte Vernunft brachte mit den Annehmlichkeiten der ausbeutenden Industrienationen zugleich Oppenheimers Wunderwaffe zum Export des Todes dorthin, wo Hunger ihn eh schon brächte, so den hypostasierten Todestrieb vollstreckend. Die Spannung von Todesakzeptanz und Lebensliebe im Realitätsbegriff ist bei Freud nie ausgetragen.(316)

    So bleibt die Frage nach der Teleologie der Realität so offen wie sie tatsächlich ist in der Utopie eines Menschenmöglichen der Versöhnung oder des katastrophalen Scheiterns. Daß nach dem Exitus für die Religion deren eschatologische Fragen überleben, macht die Ironie der in pure Mythologie umschlagenden Freudschen Desillusionierungsbestrebung aus.(317) Die Aufhebung der Religion in die Wissenschaft als Auflösung der deistischen Illusion kann indessen vom Illusionsverdacht nicht gänzlich sich befreien: »Meine Illusionen... sind nicht unkorrigierbar wie die religiösen, haben nicht den wahnhaften Charakter. Wenn die Erfahrung... zeigen sollten, daß wir uns geirrt haben, so werden wir auf unsere Erwartungen verzichten.«(318) Doch liegt Freuds unabweisbare Hoffnung im aus Irrtum lernenden Fortschritt der Wissenschaftsgeschichte als Steigerung von Naturbeherrschung und sozialer Kompetenz. Die Lösung der Menschheitsprobleme liegt in der Aneignung der Welt als positiv gegebener Objektivität: »Wir glauben daran, daß es der wissenschaftlichen Arbeit möglich ist, etwas über die Realität der Welt zu erfahren, wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können... Die Wandlungen der wissenschaftlichen Meinungen sind Entwicklungen, Fortschritt und nicht Umsturz.«(319)

    Daß ein ebensolcher Fortschritt durch Paradigmenwechsel auch die Glaubensgeschichte der Religionen durchzieht, Mythos immer schon Aufklärung war(320), kann Freud ebensowenig sehen wie die Differenz von Begriff und Sache, Paradigma und Objekt, die möglicherweise vermindert wird, aber niemals zur Identität gelangt. Sprache bleibt immer Metapher, der positivistische Traum einer Identität von Wort und res significata illusionär.(321) Die fortgeschrittensten Paradigmata der Wissenschaften sind vom Status her nicht mehr als die religiöse »Erkundung der Außenwelt« und begegnen dem Individuum analog der Religion ebenfalls als Außenwelt, als »ein Bestandteil jener Welt..., die wir erforschen sollen«(322): Sie bleiben intersubjektiv gewordene Mythen und Modelle. Es gibt keine Realität an sich, von der zu sprechen wäre, es sei denn der im Sprachzusammenhang der Religion und Wissenschaft unter Einwirkung von außerwissenschaftlichen Machtinteressen intersubjektiv ausgehandelten.(323) Realität ist ein kollektiver Kompromiß über »Entitäten« und begegnet dem lernenden Kind mit ebensolcher Autorität wie die Repräsentanten dieser Kompromißbildung, sei sie in religiöser oder wissenschaftlicher Strenge formuliert.(324) Die Apodiktizität zeigt Freuds Unsicherheit über eine illusionslose Bemächtigung der Welt, die doch nie frei vom Schleier der Verblendung ist, von den Mechanismen der kollektiven Projektionen, die dadurch nicht weniger projektiv werden, daß alle sie teilen.

    1.2.1.7.2 Reale Außenwelt und neurotisches oder psychotisches Lust-Ich

    Als Außenwelt ist die Realität sowohl die hilfebringende Rettung durch die Brust als auch der versagende Klaps auf den Po: zugleich Fülle der Liebesobjekte und Kastration durch die Autorität. In dieser fusionierten Ambiguität determiniert sie die ödipale Ambivalenz von Liebe und Aggression. Die Außenwelt begegnet nährend und bergend als gute Brust, aber sie kann sich auch entziehen und die Befriedigung versagen. »Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psychoneurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche, die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde immer eine äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener inneren Instanz (im Über-Ich) ausgehen, welche die Vertretungen der Realitätsforderungen übernommen hat.«(325) Dies ist eine der wenigen Stellen, wo Freud die Herkunft des Über-Ichs aus der Realität und die Repräsentanz der Realität im Über-Ich klar ausdrückt.

    Darin schwingt die Ahnung mit, daß auch die angeblich vaterlos rein intellektuell erfaßbare Realität immer schon väterlich Vermittelte ist, Intellekt weniger subjektive Genialität als vielmehr Sediment gesellschaftlichen Zwanges, Geist als Gewalttat. Nicht das Ich vertritt letztlich die Realität im psychischen Apparat, sondern das Über-Ich, »welches in noch nicht durchschauter Verknüpfung Einflüsse aus dem Es wie aus der Außenwelt in sich vereinigt« und darin Ideal der Versöhnung der mehrfachen Abhängigkeiten des Ichs in seiner Konfliktmittlerschaft zwischen Lust, Autorität und Realität ist.(326)

    Das Ich bildet sich aus Identifizierungen mit den Liebesobjekten, von denen die ersten »sich regelmäßig als besondere Instanz im Ich gebärden, sich als Über-Ich dem Ich entgegenstellen, während das erstarkte Ich sich späterhin gegen solche Identifizierungseinflüsse resistenter verhalten mag.«(327) Topologisch siedelt Freud also das Über-Ich innerhalb des Ichs an. Die Differenz von Über-Ich und Ich läßt sich, analog der multiplen Persönlichkeit, nur als Ichspaltung bezeichnen.(328) Möglicherweise korrespondiert in der Unlust des Ödipalkonfliktes die Verdrängung des Inzestwunsches mit der der verbietenden Instanz, die gleichwohl ja aus Liebe verinnerlicht wurde. Der Tribut des Triebverzichts wäre die aggressive Verdrängung des Über-Ichs zu einem vom Ich abgespaltenen Teil, die, wie das Verdrängte, im Unbewußten, also im Es, um so unkontrollierbarer sein Unwesen treiben kann.

    Die gespeicherte ödipale Interaktionsfigur der Versagung als familiales Gesamtsetting mit drei Rollen(329) ist dabei derart engrammiert, daß potentiell alle Rollen zu möglichen Rollen des Ichs werden, die untereinander allerdings unversöhnlich sind und zur Spaltung des Ichs zwingen. Weil es eben nicht so sein darf, wie die Identifikation mit dem Vater es mit sich brächte, muß das Kind zugleich diese Rolle verdrängen. Einzig erlaubt ist eben nicht Imitation, sondern Unterwerfung unter die Rolle des Vaters. Das sind die »Identifizierungseinflüsse« des geliebt gefürchteten Vaters als der Außenwelt, der Realität.

    Hier handelt die Außenwelt am Ich mit der strukturellen double bind, daß prinzipiell jede Nachahmung des Vaters gelobt wird, weil sie seinen Narzißmus bestätigt, die aber, sobald sie bei verbesserter Imitationsfähigkeit zu Rivalität führt, streng bestraft wird. Mir scheint diese rollentheoretische Perspektive einleuchtend, um zu erklären, wie es zugleich zum Unbewußtwerden des Über-Ichs und der als Hierarchie »auch über das reife Ich« fortbestehenden Dauerhaftigkeit dieser Instanz kommt: Im Ideal ist das Imitationsverbot schon angelegt - die Theologie spricht da von doxologischer Differenz zwischen Gott und Mensch mit paradiesischem Apfelverbot.

    Wenn das Ich seine frühesten Identifizierungen nicht vom Buckel schütteln kann, dann deshalb, weil diese beidseitig aus Liebe und Haß gewobene, mit heftigsten Gefühlen verbundene Rolle mit der Eindrücklichkeit der Heldenkraft und Todesdrohung dem schwächlich ausgelieferten Kind angetragen bis eingebläut wurde. Zusätzlich stellen die frühesten Erlebnisse des Kindes die Weichen für seine grundlegende Struktur der Wahrnehmung.(330) Die introjizierte Familialstruktur des Über-Ichs machte die frühen Konflikte zum Grundmuster der Weltwahrnehmung und Handlungsorientierung. Das macht ihre führende Position unter den lebensgeschichtlich folgenden Identifizierungen aus, die Freud mit der »Unterwürfigkeit« und dem »Strafbedürfnis« als »moralischem Masochismus« des Ichs gegenüber dem Über-Ich beschreibt.(331)

    Die Formen der Anschauung des Ichs als synthetische Einheit werden unter aktivem Einfluß der familialen Realität auf die Rindenschicht des Es als imperative Kategorien des Über-Ichs konstituiert(332), sind aber trotz ihrer Permanenz modulierbar.(333) Das Ich wächst über seine frühesten Identifizierungen allmählich hinaus, emanzipiert sich von ihrer Unabdingbarkeit, reift zur integrierteren Gestalt, die den sinnlichen Reichtum der äußeren Realität apperzipiert und sich strukturbildend zu eigen macht.(334) »Das Ich bereichert sich bei allen Lebenserfahrungen von außen«.(335) Die mit der ödipalen Versagung verbundene Introjektion des Vaterimago als Über-Ich, auf die Freud die negative therapeutische Reaktion und die Depressivität zurückführt, mag dabei als eine von vielen strukturbildenden Früherfahrungen eine wesentlich geringere Rolle spielen, als Freud hypostasierte.

    Das Über-Ich ist sinnvoll als Instanz der verinnerlichten sozialen Realität überhaupt und weist auf die Strukturbildung des Ichs durch Außeneinflüsse hin. Von diesen - und darin besteht in der Tat, trotz allem Determinismus Freuds, reale Möglichkeit progredienter Emanzipation zur Freiheit des Subjekts - kann das Ich sich im subjektiven Bildungsprozeß durch Amalgamierung anderer Realerfahrung unterscheiden. Diese doxologische Differenz begründet seine Freiheit vom Vater. Unter dem soziologischen Aspekt, der bis hierhin verhandelt wurde, kann man das Ich als ein Mehr als die Summe seiner Identifizierungen und Introjektionen im interaktiven Stoffwechsel mit der sozialen Realität ansehen. So sagt Freud denn auch 1938 im »Abriß der Psychoanalyse«: »Das Ich kämpft also auf zwei Fronten«(336) und nicht auf dreien. Bisweilen sind die Beschreibungen der intrapsychischen Verhältnisse die eines Apparats mit Mechanismen, dann wieder die verschiedener kommunizierender Systeme und schließlich im Instanzenmodell die von miteinander ringenden Personen. Neben dem Maschinenmodell steht nahtlos eine anthropomorphistische Personologie(337), die auf geniale Weise die Inkorporation des familialen Settings als inneres Drama wiedergibt. Darin sind sowohl die Ansätze der Transaktionsanalyse antizipiert als auch die des Psychodramas.

    Aber die Freudsche Hoffnung, Gehirnanatomie und soziales Verhalten als zwei Aspekte eines kohärenten Leibgeschehens zu begreifen, greifen mit einer quasi anatomischen Topologie dreier psychischer Instanzen zu kurz. Die Verinnerlichung geliebter Personen oder die Liebe zu ihnen oder die Vernunft lassen sich keinem Gehirnabschnitt zuordnen. Das Modell, welches die Mythologie der Religionen ablösen soll, gerät Freud unversehens zur »verspätete(n) Neuauflage mittelalterlicher Dämonologie«.(338)

    Perls hat diese Personifizierung der Instanzen nicht aufgenommen und ebenfalls kritisiert.(339) Es zeigt sich immer mehr, wie die gesamte Terminologie der Instanzenlehre nicht streng durchgeführt wird, sondern geradezu allegorisch, im vollen Wissen, daß Trieblehre nichts anderes ist als Mythologie(340) - und man darf das gleiche von der Topologie behaupten.

    Aus der guten Mutter, also den Liebeszuwendungen von außen, fließt dem hilflosen Säugling in der Tat Energie zu.(341) Wenn auch zunächst als Milch und Wärme, womit sowohl Embryonalforschung als auch die orale Korrespondenztheorie von Umfeld und Organismus, also auch die Perlssche Gestalttheorie ins Feld kommt. Es ist nicht eine dem Wahrnehmungsakt entstammende Energie, denn Wahrnehmung verbraucht Energie, sondern eine durch die Wahrnehmung im Erregungshaushalt aktivierte - mithin Triebpotential des Es.

    Immerhin kann das Bild von Speisung des Ichs durch Wahrnehmung in einem von der Energetik abgeborgten Sinne der Fütterung mit sensorischen Reizen als Gedächtnis mit seinen multiplen Formen der Engrammierung der Wahrnehmungs Bilder verstanden werden.

    Die »ökonomische« Spezialenergie des Ichs leitet Freud her aus den zur Verschiebungsenergie desexualisierten Libidoanteilen des Es. »Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist.«(342) Doch nach der ersten ödipalen Enttäuschung zieht es seine Liebe von den Eltern auf sich selbst zurück und schafft sich mit dem sekundären Narzißmus einen weniger enttäuschbaren Ersatz, der zugleich inneres Liebesobjekt und das die Liebesenergien steuernde Subjekt der Emanation von Libidoenergien im seelischen Kaufmannsladen der Verliebtheiten ist.

    So muß das Ich »als ein großes Libidoreservoir angesehen werden, aus dem Libido auf die Objekte entsandt wird, und das immer bereit ist, die von den Objekten rückströmende Libido aufzunehmen.«(343) Freud durchbricht hier erstaunlicherweise den gewöhnlichen Solipsismus des Apparats zu einem tatsächlichen Korrespondenzmodell. Hier gelangt also, entgegen der Thermodynamik, von einer Monade Liebe zur anderen.

    1.2.7.1.3 Das Ich als Kontaktgrenze des Leib-Es zur Welt

    Freud vergleicht immer wieder das Ich mit einem »Protoplasmatierchen«, das seine Pseudopodien nach Nahrung ausstreckt und zurückholt: die Amöbe und die Keimzelle sind neben der Personologie das andere, anatomisch-biologische Grundmodell.(344) Im Amöbenmodell, welches Perls zwar bei Freud kritisiert (345), ihm in der oralen Reduktion seines Organismuskonzepts aber treu bleibt, bekommt das Ich mit seiner anatomisch im Doppelsinne einseitigen »Hörkappe« den Charakter der sensorischen Rinde des Es, der Wahrnehmungsoberfläche zur Welt hin. »Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem W-System als Kern entwickelt... das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System W dessen (des Ichs) Oberfläche bildet, also etwa so wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen.«(346) Wie das Gehirn die Erweiterung der Ganglein, der primären Sensomotorik ist, so ist das Ich »der durch den direkten Einfluß der Außenwelt unter Vermittlung von W-Bw (Wahrnehmungsbewußtsein) veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Oberflächendifferenzierung.«(347)

    Genau dieser Status des Ichs als Kontaktgrenze zwischen innerer und äußerer Natur in seiner Funktion des sensomotorischen Austauschs von Organismus und Umfeld ist von Perls als Ansatzpunkt seiner Ichgrenzenlehre aufgenommen worden, nach der das Ich substanzlose, wiewohl im Ektoderm lokalisierte, spontan Innen und Außen gewährende und exekutiv verantwortliche Kontaktfunktion des Organismus in Abgrenzung oder Identifizierung gegenüber der Umwelt ist.(348) Eine besondere Schwierigkeit bereitet Perls das Problem der Materialisation des Ichs, welches »kein konkreter Teil des Organismus, sondern... vielmehr eine Funktion (ist), die z.B. im Schlaf und im Koma erlischt und für die weder im Gehirn noch in irgendeinem anderen Teil des Organismus ein physikalisches Äquivalent zu finden ist.«(349)

    Die Freudsche Idee einer ausdifferenzierten sensomotorischen Steuereinheit des Körpers, des Es, impliziert zugleich eine gewisse Substanzialität, analog etwa dem Sprachzentrum des Gehirns. »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.«(350) Das Ich ist »vor allem ein Körper-Ich«.(351) Es liegt auf der Hand, daß ohne die neuronale Ausstattung des Körpers Wahrnehmung unmöglich wäre.

    Die Substanzialität des Ichs ist sicherlich nicht in einem besonderen Gehirnzentrum zu lokalisieren. Aber dennoch ist sie, nach Perls im Ektoderm, in den hochkomplex verschalteten neuronalen Regelkreisläufen im Zusammenspiel mit den innervierten Muskeln zu lokalisieren und zu materialisieren. Je exakter man dieses Systeme aufschlüsselt, um so mehr wird sich herausstellen, daß der gesamte Körper in diese Kontaktfunktion des sensomotorischen Stoffwechsels mit seiner Umgebung eingefügt ist. Als umfassender Begriff dieses Sachverhalts psychophysischer Verflechtung dient der Begriff der »Leiblichkeit«. Der Leib ist ein totales Sinnesorgan, identisch mit dem Ich und zugleich zur reflexiven Dissoziation fähig.(352)

    Die Problematik der Freudschen Topologie ist festzumachen in der phänomenalen Bedeutung des »Teil sein von«. Würde man es verstehen als »eine Funktion sein von«, so wäre die Topologie ein Parabel der Möglichkeiten, Kapazitäten und Grenzen des Leibes. Viele Formulierungen Freuds lassen sich tatsächlich dahin deuten. Sein Hang zur Anatomie, der als konsequenter Materialismus Seele als Körpergeschehen festmachen will, gerät dabei mitunter etwas platt, will man ihn wörtlich nehmen und nicht in der spielerischen, wenig formelhaften Leichtigkeit, mit der Freud Vermutungen in Gleichnissen ausphantasiert.

    In der englischen »Standard Edition« erscheint erläuternd zum Begriff »Oberflächenwesen« folgende Bemerkung Freuds: »Das Ich ist in letzter Instanz von den körperlichen Empfindungen abgeleitet, vor allem von denen, die von der Oberfläche des Körpers herrühren. Es kann also als eine seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden neben der Tatsache..., daß es die Oberfläche des seelischen Apparates ist.«(353)

    Das Es mit seiner Libido benimmt sich zum Ich wie ein oft störrisches Pferd zum Reiter, leiht ihm aber dazu noch seine Kraft.(354) Freud diskriminiert damit das Es: ist das Ich doch eher der Blutsauger, der sein Wirtstier hemmungslos hemmt und tyrannisiert im Namen der Autorität der Außenwelt. Die Trieblichkeit als Motor des Apparats ist zugleich die meistgedeckelte Instanz, auf deren Kosten die Maschine läuft. Aber das Gleichnis, an das vom Teufelsritt auf der Seele gemahnend, stimmt genetisch nicht: Das Ich ist selbst Produkt progressiver Differenzierung des Es in der von innerer Not an die helfende Außenwelt verwiesenen hörigen Bedürftigkeit.(355)

    Der Gegensatz der ersten Trieblehre von Ichtrieben des Hungers, der Selbsterhaltung, versus Objekttriebe der Sexualliebe(356), der das Ich zum Sitz von Triebenergie macht, könnte im Verbund mit den Motiven des Ichs als großem Libidoreservoir den Eindruck zweier eigenständiger Systeme im Selbst mit je eigenen Energiepotentialen erwecken. Das Ich verfügt aber per definitionem über keine andere Energie als die des Es: Genau darin besteht ja seine Aufgabe! Das Ich ist der verfügende Teil des Es. Es kann die Sexualleidenschaft, die es ist, angesichts sexualwidriger Realität hemmend transformieren in Handeln, welches auf Umwegen wiederum die Grundbedingungen der Erfüllung sexuellen Begehrens sichert. Oder, um die Konstruktion des Instanzenmodells zu verlassen: Das Ich ist empfindendes, denkendes, sich hemmendes, planend handelndes Es. Die Instanzenteilung ist keine ontologische Teilung des Selbst, sondern der Versuch, seine Funktionen mit den Denkfiguren der Anatomie zu unterscheiden.

    Die »Hilfskonstruktionen« der Freudschen Metapsychologie kleiden funktionserschließende Hypothesen in das Gewand anatomischer Formeln, ganz ohne philosophische Ansprüche von Widerspruchsfreiheit.(357) Der Verfremdungseffekt der Vergleiche aus Tierreich und Technik (358) wirkt immer plausibler als das Modell des Kindes (statt Amöbe), welches seine Arme (statt Pseudopodien) ausstreckt mit dem Begehren, der Lust nach Mutter, Essen, Wärme, Körperkontakt, also nach Gestilltwerden, Berührtwerden, Geliebtwerden, und welches diese Tentakel der Liebe fallen läßt gegenüber einer Mutter, die sich verweigert, wie Spitz in seinen Hospitalismusstudien zeigte. Um Ähnliches zu verstehen, wird dasselbe am Unähnlichen genannt. Dennoch bleibt der Erklärungswert kaum mehr als der einer Tautologie.(359)

    1.2.1.7.4 Konfliktmittlerschaft und Abwehrfunktionen des Ichs

    Nachdem das topologische Wesen des Ichs als die sensomotorisch-körperliche Kontaktstelle des Körper-Es(360) zur umgebenden Realität lokalisiert ist, seine Energie in der des nach Lust strebenden Körpers aufgezeigt wurde, soll nun ein letzter und für die therapeutische Praxeologie entscheidender Aspekt untersucht werden: die Aufgabe und die Methoden der Abwehr, die das Ich leisten muß.

    Das Ich hat nach innen die Aufgabe der Abwehr von Unlusterregung.(361) Als Real-Ich wehrt es später auch Gefahr und Schaden der äußeren Realität ab (362) - nicht ohne dabei oft selbst Schaden zu nehmen, der sich im Bürgerkrieg mit Über-Ich und Es niederschlagen kann.(363)

    Der Aspekt der Abwehr, gewonnen in klinischer Widerstandserfahrung als zensorische Kontrollinstanz über die Aufrechterhaltung der Verdrängung des vom Ich Abgespaltenen, ist nur die andere Seite des Aspektes der Mittlerfunktion zwischen innerer und sozial präfigurierter äußerer Natur: Forderungen des Es zu erfüllen kommt der Realitätsabwehr gleich, Forderungen von Realität, oft vermittelt übers Über-Ich, zu erfüllen, heißt Triebabwehr. Nicht nur für Zwangsneurose und Melancholie, sondern strukturell gilt: »Nach beiden Seiten hilflos, wehrt sich das Ich vergeblich gegen die Zumutungen des mörderischen Es wie gegen die Vorwürfe des strafenden Gewissens.«(364) Der Erfolg der doppelten Abwehr von innerer Unlust und äußerer (dann verinnerlichter) Todesgefahr hängt von der Stärke der Triebe, der Grausamkeit der Moral und der Stärke der Ichfunktionen der Hemmung und Realitätsprüfung ab.

    Zur Realitätsprüfung gehören sämtliche denkenden Zuordnungen: Zeit, Raum, Innen/Außen, Qualität, Quantität, Assoziationsprozesse mit den mnestischen Grunderfahrungen, also die kognitive Integration in das Gesamt aller bisherigen Welt- und Selbsterfahrung in den erworbenen Formen der Anschauung. Jede bewußte Vermittlung zwischen Körper und Umwelt geschieht unter der Realitätsprüfung. »Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch gerecht machen.«(365)

    Die Abwehr der Realität findet in der Psychose statt durch Schaffung einer Phantasiewelt. Die Abwehr der Wünsche erfolgt in der Neurose als Verdrängung (366), jeweils in extremer Weise. Faktisch verschränken sich permanent Außenstimuli und Innenreize, so daß die Konfliktmittlerschaft des Ichs eine sehr komplizierte Aufgabe ist. Bei jeder Verdrängung wird nicht nur das von Außen mit Unlustdrohung exkommunizierte Begehren des Es, nicht nur der Wunsch verdrängt, sondern immer auch die Interaktionsfigur des Ausschlußverfahrens, der strafende Schlag zB. oder die verbietenden Worte von außen und die Strafangst innen. Das Über-Ich wird mit dem Es zugleich verdrängt ins Unbewußte.

    Freud weist auf diesen m. E. generellen Sachverhalt als den der Ausnahme hin: »Es liegt also am Ich, wenn das Schuldgefühl unbewußt bleibt. Wir wissen, daß sonst das Ich die Verdrängungen im Dienst und Auftrag seines Über-Ichs vornimmt, hier ist aber ein Fall, wo es sich derselben Waffe gegen seinen gestrengen Herrn bedient.«(367) Diese doppelte Verdrängung von Wunsch und Verbot erklärt auch die Innigkeit, mit der das Über-Ich dem Es nahesteht, so daß es Freud als Anwaltschaft beschreiben konnte. Es handelt sich eher um Genossenschaft in der Verdrängung durch das Ich, welches sich dem ödipalen Konflikt und seinen strukturellen Abkömmlingen entziehen will.(368) Denn der Schmerz, die Angst als Unlusterlebnis sollen auf die dem Ich genehme Intensität eines Signals einschrumpfen, sonst greift die Intensität des Triebes das Ich selbst an und kann es funktionsuntüchtig machen.

    Die Angst, selbst gefürchtet, ist zum Auslöser der Abwehrmechanismen des Ichs geworden. Anna Freud zählt unter die Abspaltungsmechanismen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Projektion und Phantasiebildungen zur Realitätsleugnung. Jeweils wird dabei ein Teil des Ichs oder der Realität aus der Wahrnehmung ausgeblendet; das Ich reduziert seine Begrenzung um den Teil des Abgespaltenen. Als Mutationsmechanismen der eher die Grenzen des Ichs ausweitenden Abwehr könnte man die im Konstitutionszusammenhang des Über-Ichs relevanten Abwehrformen verstehen: Introjektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil, Sublimierung, Idealisierung und Identifizierung mit dem Angreifer.(369)

    Die innere Gefahr der traumatischen Unlustüberflutung läßt sich aber faktisch gar nicht von der Realitätsgefahr trennen, die in diesem Falle als Fehlen der Erregungsabfuhr verschaffenden guten Brust, Objektverlust der guten Mutter begegnet, auf die der hilflose Säugling angewiesen ist. Perpetuierter Objektverlust würde, und darin liegt die Wahrheit des Unlustprinzips, zum realen Exitus des psychischen Apparats führen, zum Säuglingstod. Der Sinn der Triebkraft liegt in der Beziehungshaftigkeit ihrer Äußerungen nach Außen, das Es ist das zur Realität drängende Geworfensein in die sensomotorische Korrespondenz. Die Angst zielt auf Überbrückung der Ferne des Objekts.

    Die Angstabwehr schützt also die psychische Gesamtstruktur vor inneren Triebgefahren oder äußeren Realgefahren. »Das Ich ist ja die eigentliche Angststätte. Von den dreierlei Gefahren bedroht, entwickelt das Ich den Fluchtreflex, indem es seine eigene Besetzung von der bedrohlichen Wahrnehmung oder dem ebenso eingeschränkten Vorgang des Es zurückzieht und als Angst ausgibt.«(370) Phobien sind so Schutzbesetzungen vor Überwältigung oder Vernichtung.(371) Mit der Sprache der Gestalttherapie gesprochen ist die Signal-Angst eine Art Selbstregulationssystem des Ichs.

    1.2.1.7.5 Widerstand und Verdrängung als Desymbolisierung

    Der Widerstand ist primär ein Selbstschutz des Ichs gegen Gefahren von innen oder außen, sei er Verdrängung sozial gestrafter Triebansprüche, Flucht in das Symptom mit dem sekundären Krankheitsgewinn entstellter Triebbefriedigung, oder sei er Übertragungswiderstand.(372)

    Die Logik des Selbstschutzes ist die: würden die Wahrnehmungs- und Handlungsfunktionen des Leibes zusammenbrechen, die Koordination von Gedächtnis, Wahrnehmung und Motilität abstürzen, so wäre nicht nur das Ich zerstört, sondern der Leib in der Realität dem Tode ausgesetzt, weil er sich nicht mehr vor den Gefahren angemessen schützen kann. Solange diesen Schutz Eltern oder Psychiatrie garantieren, ist der auch als Regression beschreibbare Zusammenbruch der Ichfunktionen real zu überleben, prinzipiell aber benötigt das Es das Ich zum Überleben in der Realität.

    Freud veranschaulicht die Dialektik von Schutz und Schädigung an der Verdrängung: »Wenn es dem Ich gelungen ist, sich einer gefährlichen Triebregung zu erwehren..., so hat es diesen Teil des Es zwar gehemmt und geschädigt, aber ihm gleichzeitig auch ein Stück Unabhängigkeit gegeben und auf ein Stück seiner eigenen Souveränität verzichtet. ... Ändert sich nun die Gefahrsituation, so daß das Ich kein Motiv zur Abwehr einer neuerlichen, der verdrängten analogen Triebregung hat, so werden die Folgen der Icheinschränkung manifest... Das fixierende Moment an der Verdrängung ist also der Wiederholungszwang des unbewußten Es, der normalerweise nur durch die frei bewegliche Funktion des Ichs aufgehoben wird.«(373)

    Was einst einmal Überlebensstrategie war, wird unter veränderten Konstellationen der Realität zur zwanghaften Fessel, das Ich in seiner Entfaltung als bedingter Reflex, unbewußt ablaufende Dauerabwehr behindernd. Daß Säuglinge im Gegensatz zum Tiernachwuchs über Jahre völlig hilflos geboren werden, begründet die massiven Heteronomieerfahrungen aus der biologischen Angewiesenheit auf das nährende Objekt.(374)

    Das Ziel der therapeutischen Intervention liegt in der Aufhebung der durch die Nesthockerschaft begründeten Verdrängung familial dysfunktionaler Triebdispositionen zu einem Zeitpunkt, wo sie ihre Schutzfunktion im familialen Überlebenskampf verloren hat, weil z.B. die Kastrationsdrohung nicht mehr in alter Form fortbesteht, der prügelnde Vater verstorben ist oder die »böse Brust« völlig erschlafft. »Wenn wir dem Ich in der Analyse die Hilfe leisten, die es in den Stand setzen kann, seine Verdrängungen aufzuheben, bekommt es seine Macht über das verdrängte Es wieder und kann die Triebregungen so ablaufen lassen, als ob die alten Gefahrsituationen nicht mehr bestünden.«(375) In dieser Zielsetzung der Analyse ist präzise das beschrieben, was für Perls die geschlossene Gestalt, die vollständige Situation ist.

    Die Struktur der Verdrängung ist dabei analog der der Metapher. Ist Metapher eine Neubenennung per Übertragung von Attributen eines historisch gewachsenen Sinn-Bildes auf eine neue Person oder Situation, so Verdrängung nichts anderes als eine Metonymie des Wunsches, in der ein Signifikant (Triebrepräsentanz) eines Signifikaten (Trieb) durch einen neuen Signifikanten (Gegenbesetzung) ersetzt wird, wobei der alte Signifikant (verdrängte Repräsentanz) in den Rang des Signifikats herabfällt und nur latent (zB als Symptom) noch Verweisungscharakter auf den ersten Signifikaten hat.(376)

    Lorenzer hat diese Sprachzerstörung durch Verdrängung als Desymbolisierung von Triebrepräsentanzen beschrieben: »Klischees, dh. unbewußte Repräsentanzen, stammen von symbolischen Repräsentanzen ab, die im Sozialisationsprozeß gebildet - und im Vorgang der Verdrängung 'exkommuniziert', dh. aus der Kommunikation in Sprache und Handeln ausgeschlossen wurden.«(377)

    Als Klischee werden entwortete und entwertete Wünsche zwanghafte, irreversibel chronifizierte Stereotypen mit dem Hauch der tabusetzenden Urszene.(378) Dabei wird der Beziehungscharakter der exkommunizierten Wunschvorstellung als szenisches Arrangement auch im Klischee noch bewahrt.(379) Der Sinn des Verdrängten zeigt sich zunehmend außersprachlich in Gesten, aber selbst diese werden noch in ihrer Signifikanz zerstört und entstellt, ihres ursprünglichen Wunschausdrucks beraubt, und bilden als Gesamt eine Entstellung der Szene des traumatischen Originalvorfalls, der zum Sprachausschluß des Wunsches geführt hat.(380)

    Lorenzer knüpft unter Aufnahme von Devereux und Lewin an den Gestaltbegriff an: »Im Patienten üben unerledigte Komplexe als 'emotional unvollständige Segmente der Vergangenheit... eine Tyrannei über die Psyche aus', die so lange Energie an sich reißen, bis 'eine systemadäquate und ichsyntone Abschließung erreicht ist'.«(381) Sie werden für den Analytiker als Inkonsistenzen im szenischen Ablauf der Interaktion prägnant und als Unvollständigkeit, als Fehlen eines bewußtseinsfähigen Sinnes evident.

    Der Gang der Therapie vollzieht sich in kleinen Schritten als Archäologie der Gestalten, wo das Komplettieren der einen (zwanghaft zur Prägnanz drängenden) szenischen Gestaltbildung mit der Wiedererinnerung an die historische Szene zugleich zum Aufkeimen einer anderen, verwandten unvollständigen Kinderszene führt.(382) »Auch Devereux sieht die Gestaltvollendung sich markieren im Erlebnis der Evidenz. 'Wenn der Abschluß durchgeführt ist durch eine solche zeitgerechte Interpretation, wird der Patient auf die Wahrnehmung der offensichtlich neurotisch determinierten Gestalten mit Überraschung reagieren, mit intensivem Affekt und weiteren Enthüllungen und schließlich mit einer kritischen Attitüde gegen die neurotische Gestalt, die ihm offenbar wurde.' Der Analytiker hat, so ist hinzuzufügen, notwendigerweise dasselbe Evidenzerlebnis. Die Evidenz ist das Siegel des analytischen Fortschritts.«(383)

    Wenn das Ich im Abwehrvorgang nicht gesellschaftlich lizensierte Wünsche abspaltet, begegnen sie ihm als exkommunizierte wie etwas Ichfremdes, als »verdrängtes Es«, wie Freud einmal sagt. Jedoch ist genau genommen dieses Es das verdrängte Ich. Das führt zu einer doppelten Definition: Das Ich ist das Es in seinen Kontaktfunktionen mit der Realität. Und: Das Es ist das vom Kontakt mit der Realität zurückgewiesene Ich.

    Während der erste Satz die genetische Differenzierung als Reifungsprozeß beschreibt, stellt der zweite Satz keine Differenzierung, sondern einen Defekt dar, der seinerseits das Produkt einer vorgängigen Aufspaltung und Deformation gesellschaftlicher Lebenspraxis ist: »Die Klassenspaltung wiederum ist als Partikularisierung der Praxis, als Auftrennung, als Spaltung gemeinsamer Praxis anzusehen (objektiv sich darstellend in der Trennung von Kopf- und Handarbeit, Abtrennung der produktiven Praxis von der Funktion der Kontrolle der Produktion...). Das impliziert: Die Mitglieder der bestehenden Klassen verfügen über eine jeweils beschränkte Praxis, die sich - wie die verschie denartigsten neueren Erfahrungen im Sozialisationsbereich zeigen - als strukturelle Deformationen niederschlägt.«(384)

    Die Klassenspaltung und der Zerfall der Naturbeziehung des Menschen in einer Dialektik progredienter Vergesellschaftung und Isolierung der Individuen zugleich: dieses Merkmal fortgeschrittener Industriegesellschaften im Spätkapitalismus überträgt sich bis auf die zerfallene Ichsynthese. »Eine mißlungene Verbindung von innerer Natur und äußerer Natur aufgrund der Defizienz gesellschaftlich organisierter Praxis führt zwangsläufig zu einer Unterbrechung der Konsistenz innerhalb der Struktur der Interaktionsformen.«(385)

    Die Wiederkehr des Verdrängten, der Wiederholungszwang kann als die »Reproduktion der infantilen Beziehungsmuster in den Szenen der Gegenwart«(386) sowohl kausal als Determinismus wie auch teleologisch als entstellter Befriedigungsversuch des Es angesehen werden.(387) Das Es ist gewissermaßen undressierbar und gerissener als das Ich mit seinem Riß. Im Es koinzidiert somatisch-energetische Triebkraft mit Intentionalität, mit Sinn. Darum ist das Bild vom Ich als Reiter des Es als des Pferdes darin richtig, daß das Pferd, wahrscheinlich eher ein Pony(388), immer das tut, was es will. Die wesentliche Reit-Hilfe ist übrigens nicht der Zügel oder Schenkeldruck und schon gar nicht Peitsche oder Sporen, sondern die Gewichtsverlagerung durch Vorschieben des linken oder rechten Sitzbeins. Das unverdorbene Pferd reagiert darauf im Sinne der Wiederherstellung der Balance.(389) Es hat die Intention der Homöostase.

    Die Intentionen des Es sind nicht minder logisch und pfiffig als die des vernünftigen Ichs. Das Es ist intelligibel und benutzt die gleiche Sprache wie das Ich; die Sinnverwandtschaft beider Systeme impliziert die Möglichkeit, daß das Es völlig bewußt werden kann(390): Wo Es war, soll Ich werden. Umgekehrt gilt es - nicht nur für den Analytiker -, sich »von der Bedeutung des Symptoms 'Bewußtheit' zu emanzipieren«.(391) Eine Aufspaltung des Sprachspiels in Symbole mit wunschbewußt bestimmten Interaktionsformen und Zeichen ohne Verbindung zur Triebkraft, welche sich verselbständigt als desymbolisierte Interaktionsform, Wiederholungszwang des Klischees äußert(392), erfordert als Zugang zur entworteten, szenischen Sprache des Es vom Analytiker ein primär szenisches Verstehen, mit Perls gesprochen: Wahrnehmung szenischer Gestalten; ebendies meint Lorenzers Begriff der Praxisfiguren oder Interaktionsformen. »Als Inszenierung kommt die sprachlich exkommunizierte Interaktion so zu Wort, daß szenisches Verstehen die Lebenspraxis abnehmen kann, um schrittweise das verstümmelte Sprachspiel wiederherzustellen.«(393)

    Die apodiktische Evidenz des cartesischen Cogito erweist sich unter dem Fortgang der Analyse als Selbsttäuschung der Reflexion eines keineswegs transzendentalen Ego, welches Macht hätte zur Setzung; es ist kein Erstes, sondern ein von Trieben mühsam abgeleiteter Sekundärvorgang, seiner weit weniger mächtig als der schlechteste Reiter übers Pferd.(394)

    Die Frage nach dem Subjekt als Träger des Bewußtseins unterliegt der letzten der drei großen narzißtischen Kränkungen der Menschheit. Weder ist der Mensch im Zentrum des Alls (Kopernikus), noch ist er den Tieren als Bild Gottes überlegen (Darwin). Die schwerste aller Desillusionierungen aber hofft der Bewußtseinspionier Freud dem Menschengeschlechte offenbaren zu können: »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.«(395) Aus der Abwehr gegen die Gefahren des Trieb-Realität-Konflikts ist der Widerstand als schützende Grenzung erwachsen.

    Die analytische Kur bedeutet eine fundamentale narzißtische Kränkung des Ichs bezüglich seiner gewünschten Autonomie, Intellegibilität und Integrität, die sich letztlich als von Mechanismen produzierter Schein erweisen wie des Kaisers neue Kleider. Die Analyse begegnet dem Patienten im Bemühen um Heilung als außerordentliche Frustration, Destabilisierung und Wiederkehr der Schmerzen und Ängste, die zur Verdrängung und Symptombildung geführt haben. Der Widerstand in der Heilung ist die gleichsinnige Fortsetzung des Abwehrschutzes und kein Umschlag ins Gegenteil. Seiner perpetuierten Schutzarbeit ist vielleicht zu verdanken, daß der Patient weder in der Psychiatrie noch im Krematorium liegt, sondern noch auf der Couch.

    »Das Unbewußte, das heißt das 'Verdrängte', leistet den Bemühungen der Kur überhaupt keinen Widerstand, es strebt ja selbst nichts anderes an, als gegen den auf ihm lastenen Druck zum Bewußtsein oder zur Abfuhr durch die reale Tat durchzudringen. Der Widerstand in der Kur geht von denselben höheren Schichten und Systemen des Seelenlebens aus, die seinerzeit die Verdrängung durchgeführt haben«.(396) Die wesentlichen Widerstände, in der »Traumdeutung« noch als Störfaktoren der Analyse aufgefaßt(397), sind neben dem Wiederholungszwang des Es(398) und dem als negative therapeutische Reaktion begegnenden unbewußten Strafwunsch des Über-Ichs(399) hauptsächlich die Ich-Widerstände.

    Das Ich liebt es nicht, wenn es korrigiert wird - und das erklärte Ziel der Heilung ist ja die Korrektur des Ichs, wenn freilich auch eine im wohlverstandenen besseren Interesse des Ichs, welches wohlvertraut ist mit dem Slogan der verbietenden Eltern: Aber wir meinen es doch gut mit dir...! »Unsere therapeutische Bemühung pendelt während der Behandlung beständig von einem Stückchen Esanalyse zu einem Stückchen Ichanalyse. Im einen Fall wollen wir etwas vom Es bewußt machen, im anderen etwas am Ich korrigieren. Die entscheidende Tatsache ist nämlich, daß die Abwehrmechanismen gegen einstige Gefahren in der Kur als Widerstände gegen die Heilung wiederkehren. Es läuft darauf hinaus,daß die Heilung selbst vom Ich wie eine neue Gefahr behandelt wird.«(400) Nimmt man die Perspektive der Klienten Freuds hinzu, nach der er durchaus nicht nur abstinent interpretiert hat, sondern zwangsläufig auch manipuliert(401) und mit metapsychologischen Vorträgen an den Klienten indoktriniert(402), so darf man getrost den Widerständen ein realitätsgerechtes skeptisches Moment zuerkennen.(403)

    1.2.1.7.6 Projektion und Paranoia als Abwehrformen

    Die Abwehrarbeit des Ichs bedient sich der Ausgrenzung des Unlustbringenden. Solche Schutzabspaltung ist die Projektion, die Freud einerseits als primären, durchaus normalen Abwehrmechanismus beschreibt, andererseits aber in Kombination mit Verdrängung und Affektverkehrung als Zentraldefekt der Paranoia am Fall Schreber entwickelt.

    Animismus, Aberglauben und Mythologie löst Freud 1901 in der »Psychopathologie des Alltagslebens« als Projektionen eigener seelischer Befindlichkeit in die Gegenstände der äußeren Natur auf.(404) Dieses Motiv setzt sich 1913 in »Totem und Tabu« fort: Alle Triebregungen werden extrapoliert und personifiziert zur Prägnanz der Göttergestalten. Das Falsche ist daran die Ortung des Reizherdes im extra nos. »Die Geister und Dämonen sind... Projektionen seiner Gefühlsregungen; er (der «Primitive», M.L.) macht seine Affektbesetzungen zu Personen, bevölkert mit ihnen die Welt, und findet nun seine inneren seelischen Vorgänge außer seiner wieder, ganz ähnlich wie der geistreiche Paranoiker Schreber«.(405)

    Als Motiv der Fehlortung der Reizherkunft supponiert Freud nicht nur Angstabwehr, sondern das intellektuelle Bedürfnis nach systemischer Kohärenz der Weltordnung, Reduktion von Weltkomplexität durch Attribution, Benennung mit dem Allervertrautesten der Innenwelt. Diese synthetische Funktion des Ichs »scheut sich nicht, einen unrichtigen Zusammenhang herzustellen, wenn sie infolge besonderer Umstände den richtigen nicht erkennen kann.«(406) In diesem Sinne sind selbst Freuds eigene Modelle im Gang psychologischer Paradigmenwechsel Projektionen, unvollständige und desorientierte Erkenntnis, deren mögliche Vollständigkeit, also das Ende des projektiven Charakters, selbst eine unbewiesene Projektion des Positivismus ist. In diesem Sinne gilt: Man kann nicht nicht projizieren.

    Projektion präzisiert Freud 1915 als Ortungstausch von Innen und Außen, motiviert zur Ausweisung eines unerträglichen inneren Reizes als einen vermeintlich äußeren: »Das Ich benimmt sich so, als ob ihm die Gefahr der Angstentwicklung nicht von einer Triebregung, sondern von einer Wahrnehmung her drohte, und darf darum gegen diese äußere Gefahr mit den Fluchtversuchen der phobischen Vermeidungen reagieren.«(407) Weil gegen die inneren Reize keine schützende Flucht möglich ist, wird der gleichwohl auftretende Fluchtimpuls durch die Extrapolation des ungewünschten Reizes auf ein äußeres Objekt zu einem vermeidbaren gemacht. Innere Reize »so zu behandeln, als ob sie nicht von innen, sondern von außen her einwirkten, um die Abwehrmittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu können«, ist dabei die Strategie.(408)

    Die Differenzierung von Innen und Außen konstituiert ja die Realität als Intersubjektivität. Projektion ist demnach ein Reizschutz, der sich des Du, der Attribution der Realität bedient, so wie jede Erkenntnis aus dem Gesamt der durch die Wahrnehmung ausgelösten inneren Reize ein Symbol bildet, welches immer mit dem Objekt seine Einwirkung ins Innere des Wahrnehmenden assoziiert. Projektion ähnelt der Wahrnehmung und der Reaktion auf äußere Gefahr somit vollkommen - bis auf die Tatsache, daß keine äußere Gefahr besteht, sondern lediglich die inneren Reize, die auch bei äußerer Gefahr ausgelöst würden. So ist die Projektion eine Form der Halluzination und darin regressiv wie der Traum, das Ich kann die Realitätsprüfung nicht vollziehen.(409)

    Es handelt sich in der pathischen Projektion, die Freuds klinischer Gegenstand war, immer um extrapolierte Unlust. Haß, Wut, Aggression werden dem bösen Objekt zugeschrieben, die das Ich als eigene Empfindungen gegen das Objekt in sich unerträglich findet und ihre Anerkennung im Sinne des »Das bin ja ich!« sich nicht erlauben kann - möglicherweise unter dem Druck des Über-Ichs, was Freud in diesem Zusammenhang allerdings nicht erwägt. Als eine Doppelfunktion der Purifikation des Lust-Ichs pointiert er die Gleichsinnigkeit der Antagonisten Introjektion und Projektion »in der Sprache der ältesten, oralen Triebregung«(410), die dann für Perls den Anstoß zur Theorie des paranoiden Pseudostoffwechsels gab.(411) Das Ich »nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdruck Ferenczis) und stößt anderseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlaß wird«.(412) Während Anna Freud Introjektion und Projektion als Vorgänge nach der Konstitution der Grenzungsfähigkeit des Ichs begreift(413), sieht Melanie Klein in der Ausgrenzung der »bösen Brust« die Premiere der Ichtätigkeit überhaupt, den Beginn der aktiven Grenzung der Wahrnehmung.(414)

    Diese oral-alimentäre Konzeption der aktiven Grenzverschiebung des Ichs im Sinne der introjektiven Ich-Erweiterung um alles Lustverschaffende und projektiven Ich-Ausscheidung alles Unlusterregenden hat für Freud eher Modellcharakter. Perls hat die Leibanalogie therapeutisch aufgegriffen in seiner Konzentration der Aufmerksamkeit auf Kauen, Schmecken und Exkretion, um über die Aufhebung der Anorexie auf bio-sensorischer Ebene die Grenzwahrnehmung zu restabilisieren und in einem körperlich beginnenden Trainingsprogramm bis in die sublimeren Ichfunktionen hinein zu trainieren.(415) Therapie ist für Perls Grenzungsübung. Auch dieser Fortschritt der Konzentrationstherapie stammt, mit Verstärkung durch Paul Federns Psychologie des Ichs als variable Grenze, wieder von Freud.(416)

    Der andere, beim Rorschach-Test(417) genutzte, kinematographische Sinn der Projektion, im Fremden Vertrautes zu sehen, im Splitter im Auge des Anderen den eigenen Balken wiederzuerkennen, und Freud betont: zugleich aber als Eigenanteil zu verleugnen, weist auf die Vorgängigkeit der Verdrängung für die Projektion des Bösen auf den Nächsten oder Fremden hin. Während die Zwangsneurose Verdrängung zu Mißtrauen sich selbst gegenüber werden läßt, verkehrt sich in der Paranoia sowohl der Affekt (bei Schreber Homosexualität) als auch die Lokation, so daß das ins Unbewußte Verdrängte und zweifach ins Gegenteil Verkehrte in Form der verfehlenden Außenwahrnehmung der Projektion wiederkehrt; »der Satz 'ich hasse ihn ja' (verwandelt sich) durch Projektion in den anderen: er haßt (verfolgt) mich, was mich dann berechtigen wird, ihn zu hassen«.(418) Rationalisierung der Abwehr der eigenen Ausgrenzungen führt auch im kollektiven Maßstab zur Legitimation von Völkermord.(419)

    1.2.1.7.7 Übertragung als Symbolbildung: Die Trauerarbeit der Metapher

    Übertragung, wie Freud Projektion im Spezialfall der analytischen Situation genannt hat, ist dabei sowohl eine der wesentlichsten Wahrnehmungsstörungen als auch einer der zentralen Widerstände in der Therapie.(420) Freud versteht darunter die Reproduktion der infantilen Szene in der analytischen Dyade, das aktuelle Wiedererstarken der infantilen Wünsche auf die primären Objekte aus dem Stand der Verdrängung heraus, den aufzulösen erklärtes Ziel der Analyse ist.(421) In jeder gegenwärtigen Wahrnehmung fließt aber immer der gesamte Fundus engrammierter Erinnerung mit ein und vergleicht fortwährend die Strukturen und Qualitäten der Jetzt-Erfahrung mit den damaligen Erfahrungen und wendet zum Erklären oder Verstehen der Aktualerfahrung die Muster und Klassifikationen der Vergangenheit an.(422)

    Darin besteht das Wesen der Sprache und aller medialer Informationsträger: Historische Sinnerfahrung wird zur strukturierten Perzeption der Aktualerfahrung appliziert. Erkennen ist immer Wiedererkennen, Benennen ist vornehmlich Wiedernennen eines historischen Namens für Gegenwärtiges. Sobald Wahrnehmung strukturiert wird, treten alte, bekannte Kategorien der Anschauung und vertraute Beziehungsmuster auf(423); alles andere würde im Chaos enden oder verbleiben.

    Schon die allererste Benennung ist die Übertragung einer Erfahrung auf ein bestimmtes Wort, eine Geste, eine Anmutung. Künftig wird bei ähnlichen Erfahrungen diese erste Erfahrung assoziiert und zur Bestimmung der neuen Erfahrung herangezogen. Eine Kontinuität in der Beziehung von Wort und Erfahrung bahnt sich an.(424)

    Bestimmtheit und Distinktion wachsen mit dem verfügbaren Schatz an Erfahrung und Worten. Die progressive Differenzierung der Erfahrung korreliert mit der Fülle der Wahrnehmungen und der Fülle der Erinnerungsspuren. Und dennoch bleibt auch mit wachsender Unterscheidungsfähigkeit(425) strukturell jedes Erkennen, Benennen, Orientieren als kognitive Prämisse der Motilität vom Modell her eine Übertragung der aus vergangener Erfahrung gewonnenen Formen der Anschauung auf die gegenwärtige Erfahrung, also damit Projektion des Absenten ins Präsente.

    Das kosmische, Anwesenheit und Abwesenheit korrelierende und so auch Orientierung erschaffende Wesen der Sprache als metaf4rrein besteht in dieser Neu-Benennung durch aus dem bisherigen Universum der Sprache bekannten Sinn, bekannte Modelle; das Fremde wird durchs Vertraute erschlossen.(426) Übertragen als metaf4rrein ist gewissermaßen die Grundfunktion des Denkens überhaupt. Pointiert muß man sagen: Man kann nicht nicht übertragen; ohne Projektion keine Wahrnehmung, keine Strukturbildung, keine Kognition. Projektion ist das Apriori sine qua non jeder Erkenntnis und jeden sinnhaften Verhaltens, Basis von Kommunikation. Die entscheidende Frage ist nicht die, ob einer projiziert, sondern wie reich der Erfahrungsschatz ist, den er zur Analogiebildung der Projektion anwenden kann.(427)

    Damit geht es zugleich um die Geworfenheit in die Sprache und gesellschaftliche Praxis. Sie wird im sensomotorischen Austausch gestalthaft in tiefer, ganzheitlicher Übertragung von Praxisfiguren(428) und mit der Spracheinführung im Sonderproduktionsbereich Primärsozialisation als Koaptation des Säuglings-Subjekts an das Sprachuniversum über das geliebte Objekt vermittelt.(429) Sprache und Gestualexpression als Netz der Symbole, der auf mehr als sich selbst verweisenden Zeichen, gehen dem subjektiven Akt der ersten Schreinachricht schon immer voraus als vorgeordnete Signifikanten. Als künstlicher Wuchs der sozialen Zuweisungen, Ettiketten und Attributionen konstituiert sich der Sinn mittels diakritischer Strukturierung des Universums coenästhetischer Wahrnehmung: der aus Geruch, Geschmack, Laut, Lichtreiz und Tastreiz konfigurierten, als polysensorische Wahrnehmungsgestalten prägnant werdende Sphäre des Imaginären.(430) Das Imaginäre, die unmittelbare awareness des Sinnlichen, ist immer schon eingebunden in den primordialen und universalen sozialen Diskurs(431), die Signifikation und Interpretation des Imaginären, die progredient gelernt und gelehrt, verinnerlicht und eingebleut wird im Lebenszusammenhang der Sprachgemeinschaft.(432) »Wenn das Sprechen sich gründet in der Existenz des Anderen, des wahren, dann ist die Sprache dazu da, um uns auf den objektivierten anderen zu verweisen, den anderen, mit dem wir alles machen können, was wir wollen, einschließlich dessen, zu denken, daß er ein Objekt ist, das heißt, daß er nicht weiß, was er sagt... Anders gesagt, die Sprache ist ebenso dazu da, um uns im Anderen zu gründen, wie um uns radikal daran zu hindern, ihn zu verstehen.«(433)

    Nicht nur die Metonymie des Begehrens vollzieht sich als Exkommunkation aus Sprache, auch die Technik der Heilung als talking cure ist dem normativen Wirken der Sprachmacht unterworfen und vollzieht sich im Kontinuum der Sprache als eines Systems struktureller Gewalt.(434) Der nach Spitz neben libidinöser Besetzung des Sinnesapparats und dann der des geliebten Objekts und der unbelebten Objekte dritte Organisator der Wahrnehmung, die »Beziehungen zum 'allgemeinen Anderen', also der sozialen Welt, sind durch die Beziehungen zum libidinösen Objekt vorgeformt, obwohl das libidinöse Objekt immer einmalig und vom 'allgemeinen Anderen' unterschieden bleibt.«(435)

    Der Übergang vom Imaginären, den inneren Bild-Inschriften der Wahrnehmungsgestalten, zum Signifikanten, zum bezeichnenden Buchstaben, fällt zusammen mit der Trauerarbeit über den immer wieder erlebten Verlust der Mutter. Das Kinderspiel des »Fort - Da« von Freuds Enkel Ernst Halberstadt(436), Spielzeug wegzuwerfen und am Faden wieder herbeizuziehen oder sein Spiegelbild aus der Wahrnehmung verschwinden zu lassen und sich wieder in die Optik des Spiegels zu begeben(437), wird Freud zum Inbegriff der Signifikanz überhaupt: »Mit der Abwesenheit spielen heißt bereits, sie beherrschen und sich gegenüber dem verlorenen Objekt als verlorenem aktiv zu verhalten.«(438)

    Trauerarbeit über den Mutterverlust, den Objektverlust hebt das Begehren als eines nach dem des Anderen ins Wort auf, führt zum Buchstaben als dem Zeigefinger aufs Verlorene(439), dem Verweis aufs Geliebte, Urgrund der Semantik in der »durch die Sprache bemeisterte(n) Versagung« der »dumpfen, sättigenden Anwesenheit« der Mutter.(440) Im sprachlichen Verweis des Buchstabens, in dem Gleiten der sich ablösenden Imagines über das geliebte Signifikat; in der Kette dieser unaufhörlichen Ersatzbildungen, die Sprache lebendig machen; in der Metonymie der Signifikanten des Begehrens ist der Wunsch nach dem Wunsch des Anderen zusammen mit dem Bild des Anderen aufgehoben, repräsentiert, Triebrepräsentanz der Libido geworden und als Abwesendes anwesend. Neben der Kette der Identifizierungen des Ichs steht die Kette der Signifikanten und Metonymien, in denen das historisch-soziale Erbe der Kultur als »verallgemeinerter Anderer« (Mead) zu Wort kommt.

    Trauerarbeit ist in diesem Sinne auch Religion. Die Verarbeitung der unabänderlichen Gottesverlassenheit der Menschen in den Kontingenzen von Schicksal und verfehlendem Begehren, die Rätselhaftigkeit des Lebenssinnes infolge der retrograden Erfahrbarkeit der Gottheit und die leeren Fragen nach dem Warum dieser Nichterfahrbarkeit führen unentwegt zu neuen Symbolen für das Sein im Angesicht der Vernichtung, im Angesicht des vernichteten Gottes am Kreuz selbst, dessen tröstliche Repräsentanz als eines Abwesenden seine Anwesenheit als Geist der Hoffnung und Liebe in einer vorwiegend hoffnungs- und lieblosen Welt ist. Die Entzogenheit Gottes durch den Tod Christi drängt das Begehren nach der Gegenwart Gottes zur Sprache, zu den Bildern, und verweist die vom himmlischen Vater Verwaisten aneinander.

    Die Strukturgewalt der Semantik schlägt nicht nur in der Spracheinführung als Unterordnung des Einzelnen unter die Semantik der anderen zu Buche, als Mimesis der sprechenden Eltern, Übertragung und Übernahme des »allgemeinen Anderen« in die Persönlichkeitsbildung, Strukturbildung und -deformation des Ichs, sondern bildet zugleich die Determinanten, unter denen die Psychoanalyse als Untersuchungs- und Heiltechnik medial vollzogen wird. Analytiker und Klient treffen aufeinander nicht nur mit den Übertragungen der Elternimaginees etc., sondern den Metonymien ihrer Wünsche. Deren Verdrängungswirkungen aufzuheben ist das erste Ziel von Freuds Technik.

    1.2.1.7.8 Übertragungsneurose und die Sehnsucht des Symptoms

    Damit ist das Plateau der Übertragungen von der Freudschen Engführung der Urszenen erweitert auf das Universum des gemeinsamen Kulturzusammenhanges, des sprachlich präsenten Feldes der verschiedenen Felder von Lebenszusammenhängen, Umwelten, Perspektiven und Sinnkonstellationen, von denen eine zentrale der materielle Produktionsprozeß ist. Wo immer Therapie stattfindet, sind ihre Übertragungen immer mehr als lediglich urszenenhafte, sind nicht nur Vater, Mutter, Gouvernante und Bruder latente Geister im Arztzimmer, sondern eine Kette von nur über die Sprache, nicht einmal übers eigene Erleben, mit anwesender Geister der Verstorbenen und Lebenden: »alle unsere Beziehungen zur Welt haben eine intersubjektive Konstitution.«(441)

    In der Analyse wiederholt sich die Geschichte des durch Versagung und Erniedrigung zur Realität erzogenen Wunsches, auf Inzest verzichten zu müssen. In den Triebschicksalen gestaltet sich Husserls Intentionalität, Hegels Begierde im Kampf von Knecht und Herr, Nietzsches Wille zur Macht.(442) Das verdrängte Begehren nimmt im Symptom Gestalt an, überträgt seinen Affektbetrag auf diese verdeckte Wunschäußerung, nimmt in dieser Metapher seines Drängens nach Befriedigung Vorlieb mit einer Metonymie, statt gänzlich zu verstummen. »Durch sein Symptom schreit das Subjekt die Wahrheit dessen heraus, was dieses Begehren in seiner Geschichte gewesen ist, so wie nach Christus' Wort die Steine geschrien hätten, hätten ihnen die Kinder ihre Stimme geliehen.«(443) So wird die Entstellung der Wunschmetonymien vernehmbar als unaussprechliches Seufzen der auf Erlösung harrenden Kreatur. Den messianischen Wehen des Wunsches korrespondiert die Herzerforschung und das Seufzen des christologischen Interzessors, des glossolalischen Geistwehens, welches tiefe Wahrheit des zum Triebverzicht gezwungenen Menschen in gottesdienstlicher Extase herausschreit.(444)

    Wie dem Glossolalen ist auch dem Klienten der Interpret und »Dolmetscher im Durcheinander der Sprachen«(445) beigeordnet, gibt den Phantasmen seines Begehrens neue Namen, die die Zensur aufheben. Die abermalige Metonymie des sprachlosen Wunsches, entstellt und verjagt in den dysfunktionalen Status des leidvollen Symptoms, ist restitutio in integrum des Begehrens: der Versuch der Wiederherstellung des ursprünglichen Signifikanten, Versuch der Resymbolisierung. »Die psychoanalytische Erfahrung hat im Menschen den Imperativ des Wortes als des Gesetzes wiedergefunden, das ihn nach seinem Bilde geformt hat. Sie handhabt die poetische Funktion der Sprache, um seinem Begehren die symbolische Vermittlung zu geben.«(446)

    Das Symbol, archetypisch im »Fort! Da!«, drückt das Begehren nach dem Anderen als Wunsch nach seiner Wiederkehr ex absentiam aus; zugleich aber ist es Machtgewinnung im Training der Einsamkeit, der Objektlosigkeit, des Nichtseins, ist symbolischer Todes des Objekt. »Das Symbol stellt sich so zunächst als Mord der Sache dar, und dieser Tod konstituiert im Subjekt die Verewigung seines Begehrens.«(447) Als Todeswunsch gegen das verlorene Objekt der Liebe entpuppt sich die Identifikation mit dem Anderen, »indem es ihn in der Metamorphose des Bildes seines Wesens erstarren läßt, und alles Seiende wird von ihm niemals anders als unter dem Schatten des Todes evoziert.«(448) Das Symbol friert die Bewegung des lebendigen Anderen ein wie ein Sportfoto; genügend weitere, zum Film verkettet, würden es aufleben lassen: so können Symbole töten und auferwecken. Aufgrund dieser mortifizierenden und ebenso auch vivifizierenden Gabe des Sprechens »ist die gesamte Realität auf den Menschen gekommen und durch sein fortgesetztes Handeln behauptet er sie.«(449)

    Sprache als Medium des psychoanalytischen Diskurses, der Untersuchung, Diagnostik und der Heilinterventionen der Widerstandsdeutung ist ein Machtmittel, dem sich die höchsten Mächte unterwerfen, durch das sich die Liebenden erkennen und das bis in den Wahnsinn hineinreicht: »daß die Mächte der Tiefe der Anrufung des Sprechens Resonanz bieten«, gehört zum Wunder der gelungenen, begnadeten Heilkunst.(450)

    Aber auch die Ursprünge der Psychoanalyse sind nicht frei von dem der Psychiatrie eigenen Brauch der Gewalt. Von den Charités des 16./17. Jahrhunderts bis zu Charcots Salpetriére(451); über die überdosierten Elektroschocks des Wiener Allgemeinen Krankenhauses von Julius Wagner-Jauregg, mit denen im Ersten Weltkrieg Kriegsneurotiker wieder an die Front gefoltert wurden(452), bis hin zu den Chemoknebeln, der Lobotomie und den Elektroschocks zeitgenössischer Psychiatrie-GmbH's.(453)

    1.2.1.7.9 Hypnose, Suggestion, Katharsis und Abstinenz als Unterwerfung

    Freud hat das seinerzeit mit Breuer entwickelte kathartische Verfahren der Hypnose und Suggestion (454) zunächst als Abreagieren und Bewußtseinserweiterung via Bewußtseinsspaltung mithilfe einer vom Arzt induzierten artifiziellen Hysterie angewandt. Angesichts der massiven Widerstände einiger Patientinnen, etwa in der Hysterie-Analyse der Dora(455), wendet er sich von dieser auf Dissoziation(456) statt Integration der Bewußtseinsformen ausgerichteten Manipulation immer stärker zur Einsichtstherapie, die nachhaltigere Erfolge zu verheißen scheint. Der Patient wird als Träger der Vernunft aktiviert und angesprochen; seine Konzentration, Willigkeit, Bereitschaft entscheidet über das Gelingen der Kur. Es soll keine andere Unterwerfung mehr geben als das Diktat der Vernunft: aus Es Ich zu machen.

    Der Arzt Freud hat seine Patientinnen stets auch medizinisch auf somatische Ursachen ihrer Beschwerden hin untersucht. Seine Behandlungstechnik war durchaus anfangs darüber hinaus körperorientiert, etwa in der oben erwähnten Kopfdrucktechnik, in warmen Bädern für Frau Emmy v. N., aber auch in persönlichen Massagezyklen von Myalgien, die Reichs Theorie vom Muskelpanzer darin vorwegnehmen, daß Freud den hysterogenen Schmerzzonen in der Berührung durchaus ähnlich der Kopfdrucktechnik eine Schlüsselstellung bei der Aufdeckung der ursächlichen Szene zuerkennt.(457)

    Der Schmerz des Symptoms ist schon als Signifikant verstanden auf einen Affekt als Signifikat, dessen unverstellter Ausdruck die gelungene Integration, die Resymbolisierung ist, die den Zwang der verstellten Äußerung im Symptom erübrigt. »Wir fanden..., daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann «ausgesprochen» werden. Dabei treten, wenn es sich um Reizerscheinungen handelt, diese: Krämpfe, Neuralgien, Halluzinationen - noch einmal in voller Intensität auf und schwinden dann für immer.«(458)

    Perls hat an diese Katharsis in seiner Impass-Erlebnis-Arbeit angeknüpft und man darf durchaus behaupten, daß das Vorgehen Freuds ganz im Sinne heutiger Körperarbeit von den Phänomenen zu den determinierenden Strukturen induktiv fortschreitet, wobei das Gesamt aller psycho-somatischen Vorgänge als Signifikantenreihe des verdrängten Affekts gedeutet wird, der zum Ausdruck drängt. Der Sinn des Symptoms hängt immer mit einer bestimmten traumatischen Urszene zusammen, in der dieser Affekt als Reaktion erstmals auftrat und angemessen war und fortan schubweise wiederkehrte.

    Die therapietechnischen Einfälle Freuds reichen bis zu paradoxen Anweisungen und Verhaltenstrainings, welche an das mit Ekel oder Furcht Belegte heranführen. Er gastiert als Besucher tagelang bei einer Patientin.(459) 1896 gibt Freud die Hypnose gänzlich auf, die er bis dato noch gelegentlich zur Unterlaufung der zu starken Bewußtseinszensur archäologisch genutzt hat.(460) Auch das drängende Fragen gab er langsam auf, nachdem ihn eine Patientin, durch ihn in ihren Erinnerungsträumen gestört, getadelt hatte.(461)

    Die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers(462) zielt auf die »Deutungskunst« der Widerstände, Symptome, Träume und Lapsi.(463) Freud hat dabei durchaus Blick auf die Gesturalexpression als einer der Signifikanten neben dem Wort, dem Symptom, dem Traum - das zeigt sich auf jeder Seite der Krankengeschichten. Seine Patientenwahrnehmung ist durchaus »ganzheitlich«, phänomenologisch.(464) Der zu enge Fokus der Einzeldeutung des Symptoms wird erweitert auf den Kontext, in dem dieses fungiert und einen vom Gesamt her zu bestimmenden Sinn repräsentiert; so werden nun Komplexe der lebensgeschichtliche Horizont der Interpretation, die aufzudecken und zu erschliessen sind durch die Arbeit am Widerstand.(465) Weil Widerstände auf die Urszene der Verdrängung verweisen, sind sie Schlüssel der Analyse. »Der Hypnose ist vorzuwerfen, daß sie den Widerstand verdeckt und dadurch dem Arzt den Einblick in das Spiel der psychischen Kräfte verwehrt hat.«(466) Die »Aufgabe der Kur« ist, »Amnesien aufzuheben«, »Erinnerungslücken auszufüllen«, damit »Verdrängungen rückgängig« und so »das Unbewußte dem Bewußtsein zugänglich« zu machen. Gesundheit als ein Weniger an Krankheit begriffen führt Freud zum Genesungsziel der »Herstellung seiner Leistungs- und Genußfähigkeit«(467). Die Genußfähigkeit darf sich allerdings nicht am Therapeuten äußern.(468)

    Als Übertragungsliebe ist sie der äußersten Skepsis des Analytikers ausgesetzt(469) und bekommt den Status eines passageren Symptoms - denn besonders in England waren die Zeitungen voll mit Berichten über Sex auf der Couch.(470) Diese ist auch einziger Überrest aus der Praxis der Hypnose.(471) Der »stillschweigenden Übereinkunft« des Berührungsverbotes(472), die sicherlich nur einseitig war, entspricht die Lautstärke der Zeitungsberichte über dieses Thema - damals wie heute. Sogar im kirchlichen Handauflegen ist mehr Körperlichkeit erlaubt als in der phobischen analytischen Grundregel. Es zeigt sich, wieviel von der Herrschaftsfreiheit analytischer Kommunikation(473) zu halten ist: während die therapeutische Arbeit die Restitution des verdrängten Affekts zu betreiben vorgibt, setzt sie zugleich neue Verdrängungen und Verletzungen.

    Wer hat in der Analyse die Macht, die Berührung, die Erfüllung der Übertragungsliebe zu verbieten? Wer entfesselt und nutzt sie zugleich gegen den Widerstand? Wenn so die »Dressur eines sogenannten schwachen Ich... durch ein Ich, das man gerne für stark halten möchte«(474) vor sich geht, reproduziert die analytische Situation nur Verdrängungen und double binds, von denen zu emanzipieren sie beabsichtigt. War dem Buben lediglich die Vaginalpenetration der Mutter untersagt, so hier Berührung überhaupt.(475)

    Wie soll man den Ödipuskomplex denn durcharbeiten, wenn er in gesteigerter Form perpetuiert wird?(476) »Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden; ich meine damit nicht allein die körperliche Entbehrung, auch nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht kein Kranker vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen.«(477)

    Die Unverführbarkeit des abstinenten Analytikers(478) ist zugleich Ausdruck seiner Macht: Falls sich die Patientin verliebt hat, ist die Symptomatik in Kürze verschwunden, um es dem Arzt nur recht zu machen, seine Sympathie zu erlangen; Thema wird nicht mehr das Symptom und seine Kausalität, sondern das Begehren des Arztes, der Wunsch der Patientin, von ihm geliebt zu werden.(479)

    Der scheinbare Fortschritt der Heilkur täuscht indessen: der Themawechsel zur Gegenliebe dient der Vermeidung des Analysefortgangs, ist im tieferen Wesen ein Widerstand gegen das Bewußtwerden der Symptomkomplexe. Ist Bewußtwerdung das Bestreben des Analytikers, so »ist das Bestreben der Patientin, sich ihrer Unwiderstehlichkeit zu versichern, die Autorität des Arztes durch seine Herabsetzung zum Geliebten zu brechen und was sonst als Nebengewinn bei der Liebesbefriedigung winkt.«(480) Die Hörigkeit, Unterwerfung der Patientin unter den analytischen Kontrakt und die sich als die tiefere Kenntnis ausgebende Deutungskunst des Analytikers hat also ihr Pendant in der Verführung des Vater-Analytikers, dessen Horizontalisierung unter Entnahme seines Samens ihn zugleich entmannt und kastriert.(481) Weil die Hingabe schon seine Entmachtung wäre, konstituiert sich die Macht des Analytikers in seiner Abstinenz, in seinem aufrechten Sitz bei gleichzeitigem Flachlegen der Patientin auf der Couch.(482)

    Freuds ökonomische Ausbeutung der Verliebtheit zu Erkenntniszwecken, als Triebkraft,(483) mit der allein die Macht der Verdrängung und des Widerstands gebrochen werden kann und der Sesam des Unbewußten seine schöne Pforte auftut, entwertet diese Liebe als zwanghafte Neuauflage des Inzestverlangens gegen den Vater, die nie den Therapeuten wirklich meint, sondern immer nur und ausschließlich den Vater.

    1.2.1.7.10 Gegenübertragung und Projektionen des Analytikers (I)

    Analog sieht der Arzt nie die Kranke persönlich, sondern immer nur den Fall: er hat Übertragungen, die man als »Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien« bezeichnen kann, die eben nicht erst »während des Vordringens der Analyse erweckt« worden sind, sondern in den behandlungstechnischen Schriften nach Verhärtung zur Orthodoxiebildung »mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des« hier und jetzt auf der Couch liegenden Patienten.(484)

    Der Analytiker knüpft an »eines der Klischees«, der nosologischen Imagines und Etiketten an, »die bei der betreffenden Person (des diagnostizierenden Arztes und seiner Schulrichtung; M.L.) vorhanden sind«, und fügt den Patienten »in eine der psychischen 'Reihen' ein..., die der Leidende (genauer: der unter den Entbehrungen der Abstinenz leidende Arzt; M.L.) bisher gebildet hat«.(485) Die Systembildung der Diagnostik, ohne deren Etikett heute keine Krankenkasse Therapien zahlt, könnte der systematisierenden Sorgfalt zwanghafter Paranoiker(486) abgemietet(487) sein: Wär' sonnenhaft nicht unser Aug', könnt' es die Sonn' nicht sehen.

    Von dieser, durch die Paradigmen der Psychoanalyse als Nosologie und Deutungskunst herangezüchteten Übertragung des Arztes auf den Patienten ist eine zweite, aus seiner individuellen Lebensgeschichte konstituierte Gruppe von Übertragungen zu unterscheiden, aus denen seine eigenen Imagines von Vater, Mutter, Bruder, Schwester und in reiferen Jahren: von Sohn, Tochter, Enkeln etc. in die Analyse einfließen. Um diese persönlichkeitsspezifischen Projektionen geht es in der Lehranalyse. Sie sollen zumindest reflektierbar und kontrollierbar sein, damit der Analytiker den Patienten nicht mit seiner eigenen Problematik befrachtet und seine eigenen Familienskripte in die des Patienten einlagert. Diese unklärbare Restneurose bleibt lebenslang, ist unzerstörbar.

    Eine dritte Reihe von projektiven Imagines und Anmutungen, die seine Intuition beflügeln, entsteht aus seiner Klinik, seinen Erfahrungen mit Patienten, die dann, etwa bei Otto Kernberg und Heinz Kohut, zu neuen nosologischen Paradigmen führen. Hier zeigt sich, daß mit den Klischees der Psychoanalyse noch Erfahrungen möglich sein können, die das bisher approbierte nosographische »Wahnsystem« transzendieren.

    Eine vierte Form der Übertragung des Analytikers, die Gegenübertragung(488), ist vielleicht die am wenigsten projektive, am weitesten am Patienten orientierte, also die realitätsbezogenste Form der unbewußten Reaktionen auf den Kranken. Man könnte, was erst nach Freud begriffen wurde, sie als coenästhetische Gestaltwahrnehmung(489) verstehen, einen Dialog vom Unbewußten des Patienten zu dem des Analytikers, über das der mitgesprochene, aber nicht benannte Signifikant des Verdrängten sich mitteilt.(490)

    1.2.1.7.11 Verschmähte Liebe & Ambivalenz im analytischen Machtkampf

    Der letzte Abschnitt sollte zeigen, wie problematisch die generelle Gleichsetzung von jeder Verliebtheit mit Übertragung ist. Sie ist eine pragmatische, durch die schiere Regelmäßigkeit der Abfolge von positiver und negativer Übertragung, Verliebtheit und Feindseligkeit gegen den Arzt, klinisch bestätigte.(491) Daß die alte Ambivalenz des Ödipalkonflikts sich reproduziert, hat nicht seinen inneren Grund in der Leinwandmäßigkeit des Analytikers als reiner Projektionsfläche, sondern in seiner Einwirkung auf den Patienten. Diese ist nämlich so ambivalent wie das hinterher als ambivalente Übertragung zutage geförderte Ergebnis.

    Einerseits verführt der Analytiker den Klienten dazu, seine sexuellen Triebregungen hochkommen zu lassen, indem er etwa den Stiegentraum als Geschlechtsverkehrswunsch deutet. In kurzer Zeit hat der Kranke begriffen, daß es hier zentral um Sex geht und der Analytiker die Kunst beherrscht, auch noch die harmlosesten Traumbilder zu Symbolen der Wollust zu stipulieren. Die dieserart entfesselte Selbsterfahrung: Alles an mir ist sexuell und drängt nach Erotik, sie wird entweder Empörung auslösen oder sexuelle Hoffnungen erwecken gegen den, der die Gabe hat, aus ziemlich allem das Sexuelle freizulegen.

    Bei dem Ruf, der der Psychoanalyse vorauseilte, wären Patientinnen, die ausgesprochen massive Gegenbesetzungen gegen die Sprachlichkeit von Sexualwünschen hätten, erst gar nicht in die Höhle des Löwen gegangen.(492) Der Kitzel des Sesam, der sich zu öffnen beginnt, muß förmlich die sexuelle Lust erweckt haben, vom Strahl des Bewußtseins penetriert zu werden in den Tiefen des Unbewußten.

    Wie kommt es aber zum Umschlag in die negative Übertragung? Das Geheimnis löst Freud selbst durch seine Berichte: Verschmähte Liebe schlägt immer in Verärgerung und Feindseligkeit um.(493) Während jeder normale Mann sich entscheidet für oder gegen das Begehren der Frau, je nach seinem eigenen, züchtet der Analytiker das Begehren der Frau förmlich heran und läßt es regelmäßig ohne Erfüllung. Wer einen großartigen Vater gehabt hat, auch er wird bei solch einem induzierten Ödipus-Spiel von »Ankurbeln« der Lust und anschließendem »Abspeisen« nach kurzer Zeit so verwirrt, daß seine entfesselte und sogar gewollte Libido im Zustand der Versagung in Verärgerung umschlägt. Darin muß keine Wiederholung infantiler Muster liegen; selbst wer mit seinem Vater einmütig beieinanderlag, würde über solches Hüh und Hott der Liebesgluten zornig werden.

    Weil die analytische Situation selbst die artifizielle Konstruktion der ödipalen Versagung bildet, ist die Ambivalenz die gesunde und normale menschliche Reaktion auf den Analytiker. Wenn der Vater früher ähnliche Muster hatte, so werden sie strukturell mit den alten infantilen Reaktionsformen übereinstimmen. Wenn dann noch der sich arrogant als »Verschmäher« der Liebe gerierende Therapeut die leidenschaftlich erweckte Verliebtheit als unecht abtut mit der Behauptung, »daß dieselbe nicht einen einzigen neuen, aus der gegenwärtigen Situation entspringenden Zug an sich trage, sondern sich durchwegs aus Wiederholungen und Abklatschen früherer, auch infantiler, Reaktionen zusammensetze«(494), dann muß eine Frau schon sehr gebrochen sein, um solche Unverschämtheiten ohne Therapieabbruch durchzuhalten.(495)

    Die narzißtische Selbstgenügsamkeit schöner Frauen, die Freud als ständige Leidquelle ihrer zahllosen Verehrerschar moniert(496), hat im sich der Lust verweigernden Analytiker ihr männliches Pendant gefunden. Es bleibt zu fragen, was die Reserviertheit des Analytikers mit der dieser Frauen verbindet: Ist sie möglicherweise die Umkehrung des erotischen Spießes, bei der der Mann sich endlich einmal nicht mehr die Flügel verbrennen kann?

    Als generalisierte Formulierung des Gesetzes der psychischen Reihenbildung wäre alles Gegenwärtige nur Neuauflage des Vergangenen; die Liebe zur Gemahlin nur die übertragene Mutterliebe, sie nur Ersatz der Mutter. Ob nicht doch gewisse Momente der Verliebtheit im Objekt der Wahl selbst begründet sein mögen, in ihrem Liebreiz, der den der Mutter wesentlich zu übersteigen vermag? Freud hat recht: Die Formen der Interaktion sind nicht frisch und frei vom Himmel gefallen, sondern an der Mutter getrimmt.(497) Immerhin aber attestiert er ja der Übertragungsneurose die »Neuproduktion« oder »Neuauflage der alten Affektion«(498), also einen unverwechselbaren Charakter, eine Aura.(499)

    1.2.1.7.12 Erziehungsziele des Analytikers: Bekehrung zur Realität

    Die Übertragung ist also ein Kampf in der Kur, wer wen aufs Kreuz (in der Chakrenlehre des Buddhismus ist das Svadhisthana-Chakra das Sexualzentrum) legen wird, eine Frage der Macht. In der Liebe und ihrer Verführungsneigung findet der Kampf um die Führungsstellung statt. Die Niederlage erleidet der, der sich niederlegt. Der »dreifache Kampf« des Therapeuten richtet sich gegen die Verächter der Psychoanalyse, gegen seine eigene Wollust und »gegen seine Patienten, die sich anfangs wie die Gegner gebärden, dann aber die sie beherrschende Überschätzung des Sexuallebens kundgeben und den Arzt mit ihrer sozial ungebändigten Leidenschaftlichkeit gefangen nehmen wollen.«(500)

    Die Mischung ist hochexplosiv. Sie wäre es nicht, wäre nicht beim Analytiker die gleiche Überschätzung des Sexuellen anzutreffen, die uns alle peinigt, weil sich das Sexuelle als Gabe des Lebenstriebes gar nicht hoch genug einschätzen läßt, stark wie der Tod.

    So finden wir endlich auch den Mann Freud, der trotz allem bürgerlichen, die Physiognomie der Arbeiterklasse herabwürdigenden Abscheu vor dem »abstoßend« »grobsinnlichen« Verlangen der Suppenlogikerinnnen, die er nur allzugerne wieder nach Hause schickte, seine Fähigkeit kundtut, einer Frau mit »feineren und zielgehemmten Wunschregungen« zu verfallen: »von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt, geht trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichlicher Zauber aus.«(501) Dieser Zauber motiviert den Analytiker. Die Zielhemmung, die er selbst praktiziert und verinnerlicht hat, will er erzieherisch weitergeben, dort, wo er bereits den Zauber solcher zielgehemmten Leidenschaften vorfindet.

    In Einübung dieser hochgradigen Sublimierung von Grobsinnlichkeit will er mit solch Zauberwesen der Zielhemmung »seine Patienten über eine entscheidende Stufe ihres Lebens heben.«(502) Wer die Stiegenträume kennt, spürt das sexuelle Moment dieser Stufenhebung, spürt das Begehren des Mannes Freud hinter seinem Gemisch von bürgerlicher Ethik und energetisch orientierter Technik des Spiels mit hochexplosiven Chemikalien.(503)

    So findet sich als Therapieziel, im Stil curricularer Schulmeisterei, wozu diese ganze Übung der Liebesverweigerung dient: »Sie hat von ihm die Überwindung des Lustprinzips zu lernen, den Verzicht auf eine naheliegende, aber sozial nicht eingeordnete Befriedigung zugunsten einer entfernteren, vielleicht überhaupt unsicheren, aber psychologisch wie sozial untadeligen. Zum Zwecke dieser Überwindung soll sie durch die Urzeiten ihrer seelischen Entwicklung durchgeführt werden und auf diesem Wege jenes Mehr von seelischer Freiheit erwerben, durch welches sich die bewußte Seelentätigkeit... von der unbewußten unterscheidet.«(504) Dies Logion erscheint biblisch vertraut: »Wenn jemand mit mir gehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!«(505)

    Die Liebe ist nicht erst von Freud als Passionsgeschichte formuliert. Die List des Odysseus, bei Kirke nicht zum Schwein zu werden und den Sirenen mit verwachstem Ohr der Gefährten, am Mast gefesselt zu trotzen, wird so Leitbild der Analyse. Das erzogene Ich, welches sich an die Stelle des libidinösen Es gedrängt hat im Prozeß der Psychoanalyse, wird nur dann noch genießen, was ja neben Leistung eine seiner Hauptaufgaben ist, wenn die Weise des Genusses »sozial eingeordnet« und »psycholo gisch und sozial untadelig« ist.

    Diese Konnotation von psychologisch und sozial meint - und wie könnte etwas in der so explizit wertfreien Psychologie »untadelig« genossen sein -: Psychologie ist der »Abklatsch«(506) der sonstigen Sozialnormen und keine kritische Kraft gegen die Sozialpathologie, der sie ihre Kundschaft und Belegschaft verdankt.

    Es erscheint unter dem Paradigma des gestrengen pater familias der Psychoanalyse stringent, daß die Kur nur gelingen kann, wenn seine Autorität sich durchsetzt. Es geht in der Kur um Bekehrung. Freud illustriert am Bild des Pastors, der zum sterbenden, ungläubigen Versicherungsvertreter gerufen, diesen bekehren soll und nach langem Gespräch mit einer Versicherungspolice den Ungläubigen verläßt, die Qualität dieser Bekehrung.(507) So wäre es mit dem sich selbst verliebenden Arzte: »Das Liebesverhältnis macht eben der Beeinflußbarkeit durch die analytische Behandlung ein Ende.«(508) Die Beeinflußbarkeit ist zur Bekehrung unerläßlich.

    Darum verbietet Freud 1931 auch »von brutaler väterlicher Seite aus« dem im »Bedürfnis nach trotziger Selbstbehauptung« dem Meister nicht mehr gefügigen Ferenczi mit seiner »Technik der Mutterzärtlichkeit«, genannt Neokatharsis, das Küssen, weil es angeblich zum Petting führt, und weil die Leute sich über die Küsse den Mund zerreißen könnten.(509) So spricht das Man in der Sorge mit dem Gestus des Hordenvaters seiner Zunft, der sogar ein technisches Inzesttabu aufrichtet und untreue Söhne verwirft.

    Der Autoritätsanspruch als Konstituens gelingender Therapie macht die Suggestion, die Freud noch 1914 in »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« an der Hypnose moniert und die Widerstandsanalyse davon freispricht(510), zum hidden curriculum der Kur. Die Zucht der Verliebtheit macht den Patienten gefügig, suggestibel, wie Bernheim sagte. 1917 räumt Freud ein, »daß wir in unserer Technik die Hypnose nur aufgegeben haben, um die Suggestion in der Gestalt der Übertragung wiederzuentdecken.«(511)

    So kehrt das Verdrängte wieder: die Vernunftherrschaft der Therapie basiert auf Glauben an den Arzt und seine Kompetenz, indem der Kranke liebesblind gemacht ist.(512) »Soweit seine Übertragung von positivem Vorzeichen ist, bekleidet sie den Arzt mit Autorität, setzt sie sich in Glauben an seine Mitteilungen und Auffassungen um... Der Glaube wiederholt dabei seine eigene Entstehungsgeschichte, er ist ein Abkömmling der Liebe und hat zuerst der Argumente nicht bedurft.«(513) Wir entnehmen aus diesem theologischen und unverbrämten Gebrauch von »Bekehrung«, »Glauben«, »Autorität«, wie es mit der Freiheit und der Vernunft steht, zu der der Kranke durch die Kur gebracht werden soll: Das Ich der gelungenen Analyse hat eine Vernunft, ein Realitätsprinzip angenommen, das dem des erziehend bekehrenden Arztes identisch ist. Vernunft ist das Produkt der Unterwerfung.

    »Gottvater«(514) Freud plaudert im »Abriß der Psychoanalyse« 1938 schließlich regelrecht aus der Schule seiner »außerordentliche(n) Machtmittel« in der Übertragung.(515) Das »neue Über-Ich«, welches durch Identifikation mit dem Analytiker in einer »Art von Nacherziehung des Neurotikers«(516) gebildet wurde, hat kompensatorische Wirkung auf die Mißgriffe, »die sich die Eltern in ihrer Erziehung zuschulden kommen ließen.«(517) Man kann hoffen, daß dem Arzt solche Mißgriffe erspart geblieben sind, hält er sich doch für den besseren Vater und Pädagogen. »Hier setzt allerdings die Warnung ein, den neuen Einfluß nicht zu mißbrauchen. Sosehr es den Analytiker verlocken mag, Lehrer, Vorbild und Ideal für andere zu werden, Menschen nach seinem Vorbild zu schaffen, er darf nicht vergessen, daß dies nicht seine Aufgabe im analytischen Verhältnis ist, ja daß er seiner Aufgabe untreu wird, wenn er sich von seiner Neigung fortreißen läßt.«(518)

    Freud gesteht, daß der Analytiker quasi konstitutionell das göttliche Bedürfnis hat, Menschen nach seinem Bilde zu schaffen. Deutlicher kann der Machthunger und Manipulationswille des Therapeuten nicht benannt werden. Er gehört zur traurigen Realität der durchgängigen Motivationsstruktur dessen, dem reale »sexuelle Beziehungen zwischen Patienten und Analytiker« ausgeschlossen sind.(519) Sein Bemächtigungstrieb richtet sich vom Körperlichen auf die psychische Stimulierung und Unterwerfung: nach seinem Diktat hat er die seelische Freiheit zu erlernen. »Der Analytiker soll aber bei allen Bemühungen zu bessern und zu erziehen die Eigenart des Patienten respektieren. Das Maß von Beeinflussung, dessen er sich legitimerweise getraut, wird durch den Grad der Entwicklungshemmung bestimmt werden, den er bei dem Patienten vorfindet. Manche Neurotiker sind so infantil geblieben, daß sie auch in der Analyse nur wie Kinder behandelt werden können.«(520) Man wird dem hinzufügen wollen: also mit der allergrößten Ehrfurcht vor dem jungen, wachsenden Leben! Der in Machthunger mutierte Sexualhunger des Abstinenten bedarf seinerseits des Durcharbeitens, soll aus der Freiheit noch etwas werden.

    1.2.1.7.13 Disziplinierung und Disziplin der Analytiker-Horde

    Freud hat darum zur Zähmung der munter drauflos analysierenden Aristokratie der Hippokratesjünger einige Kontrollen dieser Macht versucht. Wilde Psychoanalyse nennt er die plumpe Mitteilung an den Patienten, seine Symptomatik sei sexueller Frustration zu verdanken und Abhilfe bringe rege Sexualübung.(521) Diese scheitert nicht am fehlenden Wissen, sondern »inneren Widerständen«, welche mit der Verdrängung erst das Nichtwissen produziert haben.(522) Intellektuelle Aufklärung kann schaden, die Widerstände steigern und zu taktlosen Verletzungen führen, wie der Rat an Hungrige, sich doch Nahrung zuzuführen, wo keine da ist.(523) Vielmehr muß erst das Vertrauen zum Arzt gewachsen sein, damit der Patient seine Rede ohne abermalige Widerstände aufnehmen kann: »Bis er sich so weit an den Arzt attachiert hat (Übertragung), daß ihm die Gefühlsbeziehung zum Arzt die neuerliche Flucht unmöglich macht. Erst durch die Erfüllung dieser Bedingungen wird es möglich, die Widerstände, welche zur Verdrängung und zum Nichtwissen geführt haben, zu erkennen und ihrer Herr zu werden.«(524) Wer das Geheimnis des Patienten errät und ohne »ärztliches Taktgefühl« brüsk mitteilt, beherrscht die Technik des hermeneutischen Vorgriffes nicht richtig.(525)

    Die 1910 gegründete Internationale Psychoanalytische Vereinigung hatte den Zweck, solche widerstandproduzierenden und durch negative Gerüchte die gesamte Psychoanalyse desavouierenden Taktlosigkeiten der Analytiker durch eine Zensur der Techniken und der Techniker zu überwinden und führte - unter Ferenczis starkem Einfluß - zur obligatorischen Lehranalyse (526), in der schließlich nicht mehr das ärztliche Monopol fortbestand, sondern unter dem noch der Medizinerherrlichkeit hörigen Begriff »Laienanalyse« etwa der Seelsorger und Freuds Freund Oskar Pfister und der von einem Strafverfahren wegen Kurpfuscherei bedrohte Theodor Reik als professionelle Therapeuten Anerkennung fanden.(527)

    Die hordenväterliche Disziplinierung der Crew in den mannigfaltigen Querelen und Intrigen der IPV erinnert an die christologischen Machtkämpfe der Alten Kirche.(528) Details der Vergraulung Alfred Adlers, Carl Gustav Jungs, Wilhelm Steckels, Otto Ranks, Magnus Hirschfelds und anderer werden von Jones sehr tendenziös im Stile der Hofchronistik Davids beschrieben. Exkommunikation und Zensur von Dissidenten münden in der Urhorde IPV in einen tief pathologischen Dogmatismus(529), vor dem Freuds eigener Therapiestil keineswegs bestehen könnte.(530)

    Hinter diesen Tendenzen zur Reglementierung verbirgt sich aber zugleich die Disziplin: die Macht, der der Analysand sich vereinnehmend anvertraut, nicht durch ihren blinden Gebrauch zu verlieren und als »der, der seine Vorstellung von der Realität aufzwingt«(531) zugleich der zu werden, der sich aus Angst vor der Fremdheit des Klienten aufopfert zum grandiosen Phallusimago des glückstrotzenden Heilungsbringers und allwissenden Happyendgaranten(532): Psychoanalyse ist eine »dialektische Beziehung, in der das Nicht-Handeln des Analytikers den Diskurs des Subjekts zur Verwirklichung seiner Wahrheit lenkt, oder sie wird reduziert auf eine Beziehung von Phantasmen, in der zwei 'Abgründe sich einander nähern'«.(533)

    Der Analytiker handelt natürlich: Er lenkt die Kur durch die Weisung der Grundregel, die er eingangs erläutert und dabei schon sublim alle wesentlichen Theoreme seiner Therapie anklingen läßt, so wenig er es expliziert und wünscht.(534) Er handelt, indem er sich an den Grundsatz hält, nicht zu lenken.(535) Er investiert seine Person, seine Gegenwart, seine Aufmerksamkeit, seine Deutungskraft, die Essenz seiner intimsten Einsichten, den Kern seines Wesens(536) und erträgt das, »was der Analysierte an phantasmatischen Gebilden auf die Person des Analytikers ablädt«.(537) Frei in der Wahl seiner Deutungsorakel und Interventionen(538) ist er zugleich mit zugenähtem Mund und verschlossenem Gesicht unfrei: Selbstverleugnung ist seine Spiegelfunktion als Spielball des Analysanden mit der Aufgabe, den Vierten, den Toten als Phantasma der Übertragung wiederaufleben zu lassen im Gesamt seiner Gegenübertragungen(539), die der Übertragung immer schon vorausgehen.(540)

    1.2.1.7.14 Gegenübertragung als Erkenntnismodell (II)

    Während Freud Gegenübertragung als Störfaktor zu eliminieren trachtete, vertrat Adolph Stern schon 1924 die Auffassung, sie sei notwendige Vorbedingung der Analyse.(541) Paula Heimann differenziert von der Gegenübertragung als dem Instrument des verstehenden Zugangs zum Patienten den neurotischen Störanteil.(542) Winnicott nennt diesen Störfaktor neurotische Reaktion im Gegensatz zur hermeneutisch effizienten Gegenübertragung.(543) In der Intuition, der Gegenübertragung des Analytikers, nimmt die komplementäre Rolle des Vierten, des imaginären Partners des Klienten prägnante Gestalt an und wird als Part einer Szene evident, deren Entschlüsselung unmittelbar Empathie für die Position des Klienten in diesem Szenario schafft.(544) »Der Analytiker nimmt an den Szenen des Patienten teil. Er kann verstehen, weil er konkordant wie komplementär als Mitspieler in die dramatische Konzeption des Patienten einbezogen wird. Er verkostet die Gegenübertragung der Objekte seines Patienten und er versteht so die Situation des Patienten, die sich, den Akteuren unbewußt, in der Szene verwirklicht. Die Teilhabe am Beziehungsfeld seines Patienten begründet das Verstehen des Analytikers.«(545) Die intensivste Reflexion der Wahrnehmungsverzerrung als Weg zur Objektivität, die das Wesen der Gegenübertragung ausmacht, hat Georges Devereux(546) in Aufnahme von Helene Deutschs Theorie der komplementären Rolle mit zahllosen Fallbeispielen entwickelt. Die weiteste Formulierung dieser Exklusion oder Komplementarität hat Niels Bohr in der Beobachterabhängigkeit jeder Objekt-Erfahrung herausgearbeitet.(547)

    Devereux definiert die Gegenübertragung als »Summe aller Verzerrungen, die im Wahrnehmungsbild des Psychoanalytikers von seinem Patienten und in seiner Reaktion auf ihn auftreten. Sie führen dazu, daß er seinem Patienten antwortet, als sei er eine von dessen frühkindlichen Imagines, und sich in der analytischen Situation verhält, wie es seinen eigenen - gewöhnlich infantilen - unbewußten Bedürfnissen, Wünschen und Phantasien entspricht.«(548)

    Dabei hat die Verzerrung selbst den analytischen Wert eines Meßinstruments, wenn sie nicht vom Bewußtsein getrübt wird. »Die Lehranalyse ermöglicht es dem Analytiker, sein Bewußtsein nicht vorzeitig zwischen das Unbewußte seines Patienten und sein eigenes zu stellen; sie lehrt ihn, die Auswirkungen des Unbewußten seines Patienten auf sein eigenes Unbewußtes nicht zu fürchten. Der 'taube' Analytiker ähnelt einem Blinden, dem jemand zu erklären versucht, was das Wort 'weiß' bedeutet; er verzerrt die Information nicht, indem er ihr etwas 'hinzufügt', sondern indem er zunächst etwas von ihr 'abzieht'... Nur wenn der Analytiker sein eigenes Unbewußtes durch das des Patienten stören läßt, kann er die unverständliche Phantasie des Patienten in eine verständliche übersetzen.«(549)

    1.2.1.7.15 Sinndeutung desEntstellten als dektivische Suche nach Wahrheit

    Die Deutung des Übertragungsgeschehens, welches also immer ein wechselseitiges ist, darf nicht selbst ein Teil des Übertragungsgeschehens werden. Weil die zu frühe Einschaltung des Bewußtseins die Antennen der Intuition durch Störeinfälle am klaren Empfang der Sendungen des Patienten irritiert, muß sie immer eine nachgängige sein, um die Qualität des reinen Empfangs »Unbewußtsein A an Unbewußtsein B« (mit Otto Waalkes) zu entwickeln. Aber nicht nur für die Eigenwahrnehmung des Analytikers, für seinen Empfang, ist die Nachgängigkeit der Deutung konstitutiv für ungetrübtes Verstehen.

    Würde er in der Übertragung deuten, so erlebte der Patient sein Reden als das des Vierten, des Toten, nicht als Metakommunikation über die Vorgänge der Übertragung; und Deutung kann nur auf einer Metaebene geschehen, will sie nicht aus der Unanfechtbarkeit väterlicher Drohmacht heraus als reine Suggestion, als neues Glaubenssystem erscheinen, während sie doch allgemeine Plausibilität und besondere Evidenz im Sinnhorizont des Analysanden beansprucht.(550) Sinndeutung ist weder Erklärung noch Gratifikation, weder Antwort auf den Liebesanspruch noch Konfrontation.(551) Sie schreibt sich als Entbergung des Bedeutungsknotens der Signifikanten ein in die symbolische Sprachordnung des Unbewußten und affiziert deren Metonymien und darüber schließlich das Signifikat, den Trieb.(552)

    Doch um von der Übertragung zur Deutung zu gelangen, ist der wesentliche Schritt, keinen Gebrauch zu machen von der Macht, mit der die Liebe des Patienten den Therapeuten ausstattet, um so den Differenzpunkt des realen Analytikers von dem Phantasma des toten Vierten zu setzen.(553) Genau diese Dialektik der Macht deutet Freud da an, wo er die Interpretation und nicht »emotionale Reedukation« zur Hauptaufgabe des Analytikers macht.(554)

    Die Deutung ist nicht beliebig. In der Architektur des Labyrinths der Bedeutungen des Patienten(555) versucht der Analytiker, den Ursignifikanten zu rekonstruieren(556), dessen Urverdrängung durch archaische, nicht erst ödipale Frustration zur Fixierung des konvertierten, umbenannten Anspruchs(557), zum Symptom wurde.(558) Dieser Liebesanspruch, der per Übertragung auf den zum freien und potentiell einmal »vollen Sprechen« aus der Wahrheit des Unbewußten heraus(559) einladenden Analytiker zielt, sträubt sich zugleich aber gegen das »Eingeständnis des Begehrens«.(560) Zum einen aus Angst vor Zurückweisung, aus der heraus sich der Anspruch an den Anderen in seinem Angesicht schon zurechtstutzt als unerfülltes Begehren, »verwundeter Trieb« und darum verwundender, hassender, zerstörender Todeswunsch gegen den Anderen.(561) Zum anderen wegen der fundamentalen »Unverträglichkeit des Begehrens mit dem Sprechen«(562).

    Die »Schicksalslinien des Subjekts«(563), in denen die Funktion des Anderen, Toten engrammiert ist, zeichnet sich im Wiederholungszwang, mit Lagache besser: in der Wiederholung des Bedürfnisses(564) als Phantasmen der Übertragung ab, den trügerischen Mystifikationen des Realen(565), dem »Bild, das in der signifikanten Struktur in Funktion tritt«.(566) Die mit der Versagung, der Frustration festgeschriebene Insistenz des Begehrens, die Fixierung in den Signifikanten des Anspruchs in ihrer ganzen Klarheit hervortreten zu lassen, verlangt vom Analytiker, der die Übertragung mit seiner Einladung zum freien Sprechen und seinem Gehör erst in Gang gebracht hat(567), den völligen Verzicht auf Antwort auf diesen Anspruch, um ihn nicht zu verzerren und damit die Deutung zu gefährden.(568)

    Mit dem frustrierenden Schweigen des Analytikers zum begehrenden Anspruch des Klienten löst er Aggression aus, die wiederum infantile Regressionen bewirkt und damit den Anspruch des Analytikers erfüllt, »die Signifikanten wieder erscheinen zu lassen, an denen die Frustration hängt.«(569)

    Die mütterliche Allmacht befriedigte die Bedürfnisse nur als gefilterte, mit Hilfe der Sprache modellierte, »die das Ganze der zwischenmenschlichen Beziehung strukturiert.«(570) Seit dieser und der ödipalen Filterung des Begehrens nach Anerkennung und Geliebtwerden(571) ist es entstellt in Metonymien, verdichtet und verschoben in Metaphern und artikuliert sich, etwa als Traum, »in einem Diskurs... , der voll List ist.«(572)

    Die Täuschungsfunktion, der Widerstandsaspekt der Übertragungsliebe: sie ist Kompensation der Machtlosigkeit des Patienten: »Das heißt, die Übertragung ist keineswegs der Schatten von etwas, das in der Vorzeit erlebt worden wäre. Ganz im Gegenteil, das Subjekt, das dem Begehren des Analytikers unterworfen, assujettiert ist, will diesen über die Unterwerfung dadurch hinwegtäuschen, daß es sich von ihm lieben läßt, daß es von sich aus ihm diesen Trug, der Liebe heißt, anbietet.«(573)

    In diesem Verwechselspiel von Liebe aus ohnmächtiger Bemächtigung und der Hörigkeit, die erst das Produkt der Verliebtheit ist, erscheint, egal, was welches bedingt, der so fundamentale wie Leiden schaffende Konnex von Liebe und Macht, Thema Hegelscher Dialektik von Herr und Knecht, mit dem Risiko des Todes das volle Leben zu gewinnen, oder sich zu bescheiden und die Begierde zu unterdrücken.(574)

    Der gestutzte Anspruch mit dem unbewußt vergrabenen Mangelgefühl des Seinsverfehlens, dem so unerfüllbaren wie unbedingten Wunsch nach dem Begehren des Anderen, dem abgründig tiefen Haß auf ihn als Zurückweisenden und der Unaussprechlichkeit all der zarten und mörderischen Gefühle beim »Vorstelligwerden« wird nur abrufbar durch die Frustration in der Übertragung.(575)

    Damit erscheint der Therapieverlauf strukturiert in drei Phasen: Eine Eingangsphase der Beziehungsklärung des Patienten zu seiner Umwelt, worin sich schon die phantasmatischen Strukturen gegenüber der Realität abzeichnen.(576)

    Die Übertragungsphase mit ihrem charakteristischen Sukzessiv von Verliebtheit, Frustration, Aggression, Regression bis zur archaischen, autistischen, fragmentierten Wahrnehmung ektoplasmischer Partialobjekte wie Brust, Kot, Stimme, Blick(577) und einer Einverleibungstendenz, der der Analytiker als Identifikationsobjekt dient. Kompensatorisch für die reale Frustration introjiziert der Patient teils bis ganz dessen Imago als neues Über-Ich, quasi als Entschädigung für den verwehrten Phallus, der auch der Analytiker nicht ist.(578)

    Als dritte und letzte Phase des Therapieverlaufs kommt die Deutung, die aber eine Verstehensebene zwischen Analytiker und Analysand voraussetzt, auf der Metakommunikation möglich ist. »Die bis zur Konsolidierung der Übertragung aufgeschobene Interpretation wird von daher abhängig von deren Reduktion.«(579) Die Deutung erwächst aus dem Hören, welches kein mißtrauisches »Abhören« auf Entlarvung von Widerstand (580), sondern ein schweigendes Vernehmen der »allmächtigen Signifikanten des Anspruchs« ist.(581)

    Die Kategorie Widerstand löst sich auf als eine Fehldeutung des Wesens der Metonymie, als Unterstellung unbewußter Vorsätzlichkeit und Arglist, die allererst genau das produziert hat, was Freud als Widerstand überwinden zu müssen glaubte: »es gibt keinen anderen Widerstand gegen die Analyse als den des Analytikers selber«.(582)

    Wer glaubt, Widerstandsdeutung betreiben zu müssen, übt in der Tat Macht aus, indem er die Kur als Machtsituation definiert und dasjenige Verhalten, welches der Patient als Schutzmaßnahme gegen das volle, freie Aussprechen seiner Gefühle in den historischen Zurückweisungen seines Liebesanspruchs aufgebaut hat, als eine Verweigerung nachgerade moralisch disqualifiziert. Wie soll ein Patient frei sprechen lernen, wenn seine Rede vom Therapeuten sortiert und zensiert wird als Widerstand gegen die Wahrheit, die unter dem Leidensdruck des Symptoms zu suchen doch sein Motiv zur Psychoanalyse ist.

    Als Korrektiv der Deutung, die sich fortlaufend berichtigt(583), dient das acting out, in dem der Analytiker verschlungene Bestätigung oder Verneinung seiner Sinnvermutung als direkte Antwort des Unbewußten erhält.(584) Die Geste als »Übergang zur Tat« verhüllt um seines Erfolges willen das Begehren, zu dem das acting out »einen gleichsam experimentellen Zugang«(585) erschließt. Auf diesen Pfaden fragt der Analytiker, selbst wie ein Feuerstrom im Versteckspiel menschlicher Leidenschaften, das Leid des Patienten ab nach seinem geheimen Sinn, einem letztlich vom Tod getragenen Begehren an einem früh schon verlassenen Horizont des Seins.(586)

    Das Begehren ist nicht mehr kommensurabel(587) mit den Fragmenten der Bedürfnisbefriedigung, »in einer Welt, in der... Bedürfnisse auf Tauschwerte reduziert sind« und der nummerierende Signifikant sie mortifiziert.(588) Das Unbewußte will mehr als diese; hinter der hysterischen Identifikation des Wunsches nach Mehr, des Begehrens nach unbefriedigtem Begehren(589) gibt es eine unerfüllbare letzte Identifikation mit dem Phallus, der kein Mensch ist, sondern ihn nur zeitweise hat oder nicht.(590) So wird der letzte Horizont der Therapie nicht die hohe Schule des Ergatterns, sondern die Expression des Seinsverfehlens als Begehren, für die als unglückliches Bewußtsein nicht die Erfüllung konstitutiv ist, sondern als unendliche Analyse die wachsende Sprachlichkeit des Subjekts, die man Ich nennen könnte: »wenn das Begehren die Metonymie des Seinsverfehlens ist, (so ist) das Ich die Metonymie des Begehrens«.(591) Das Ich ist das zum Selbstbewußtsein seines Begehrens gekommene Es.

    1.2.1.7.16 Die Beerbung der Freudschen Technik durch Perls

    Ich beziehe hier schon die klassischen Topoi der Gestalttherapie der Esalen-Schriften Perls' mit ein.(592) Dadurch gewinnt der Unterschied und die Beerbung noch mehr Prägnanz als im Vergleich allein mit dem Frühwerk, in dem gerade der Therapiestil noch nicht entwickelt ist, sondern sehr von Frederik M. Alexanders Reorganisation des Körpers bestimmt ist.(593)

    Freuds Übertragungstheorie ist angewandtes »Hier und Jetzt-Prinzip«(594): Der Arzt hat die »jeweilige psychische Oberfläche des Analysierten zu studieren«.(595) Perls' Gegenwartsprävalenz aber als »einzige Realität«(596) mündet in einen geschichtslosen Präsentarismus im Stile der US-Ideologie, die ohne respektable Traditionen in die Gegenwart flüchtet aus Mangel an Vergangenheit.

    Perls hat von Einsteins Feldtheorie kaum gelernt: Vernetzung und Interdependenz benachbarter Phänomene gelten auch zeitlicher Nachbarschaft. Im »Dunkel des gelebten Augenblicks«(597) verweben sich die Zeithorizonte zur Aura des Unwiederbringlichen. Die universale Austauschbarkeit der monotonen Kulturindustrie macht Lebensakte in gerasterter Zeit zu beliebigen Versatzstücken und Typologien, die konditionierbar und programmierbar sind als isolierte Muster von Verhalten oder Wahrnehmung.

    Die Perlssche Verachtung der mühevollen Assoziations- und Deutungsarbeit im Versuch der Rekonstruktion der biografischen, die Gegenwart durchdringenden Wirklichkeit(598) rekurriert auf ein ahistorisches Modell der Wunschmaschine (599), welches, wie in Verhaltenstherapie, Rattenversuch und in staatlich verordneten Fitness-Programmen, den Menschen auf die Muster und Gestalten reduziert, die von ihm oberflächlich wahrzunehmen sind.(600) Der Rekurs auf den Augenblick ist dabei weniger einer der mystischer Geistesgegenwart(601), sondern eher die Lust der Encounterleute am schnellen Befriedigungserlebnis, am Lust-Sofort-Ideal, mit welchem Perls in Esalen konfrontiert war und durch welches seine Methode ein Renner wurde, trotz seiner verbalen Skepsis gegen die »Aufputscher«(602), denen das Graben in der Vergangenheit zu langweilig, mühsam und zu wenig spektakulär war: eben nicht so ein Happening wie »Fritz' Zirkus«, wo immer einmal ein guter Gruppen-Lacher auf Kosten des Protagonisten abfiel.

    Vergangenheit ist dabei nur relevant, soweit sie die Gegenwart von Therapeut und Klient bestimmt. Wiederholungszwänge als offene Gestalten aber sind Vergangenheit(603), die Beziehung durch Übertragung verstellt und durch Ängste und Wünsche vorprogrammiert. Unvollständige Situationen haben per se einen konstitutionellen Vergangenheitsbezug. Darum greift Perls' Vorwurf der Vergangenheitsorientierung gegen Freud völlig daneben. Es ist lediglich eine methodische Differenz: Die gleichschwebende Aufmerksamkeit des Therapeuten beobachtet die Gegenwart des Klienten; die freie Assoziation des Klienten wird bestimmt von seiner Beziehung zum Therapeuten und in der Übertragung stecken in jeder freien Assoziation auch Beziehungsaussagen neben anderen Determinierungen wie Tagesereignissen. Das analytische setting induziert durch Frustration der Beziehungswünsche über die Aggression die Regression zur Rekonstitution der beschädigend spaltenden Urszene, deren Bewußtmachung, Ver-Ich-lichung, Trieb und Affekt reintegriert.

    Bei Perls ist das psychodramatische Verfahren (604) spielerischen Probehandelns (605) im Durchagieren (606) des Materials der offenen Gestalten auch geprägt von einer methodischen Frustration (607), die zunächst Regressionen(608) entfesselt. Die Funktion der Frustration ist allerdings nicht allein, Aggression und Regression zu fördern, sondern zwecks Stabilisierung der eigenen Kräfte des Patienten ihm die Außenwelt-Stützung zu entziehen.(609) Damit wird er gezwungen, seine eigenen Potentiale des self-support (610) anzuzapfen (wehe, er hat keine!) und gelangt so zu der von Perls erwünschten reifen Selbstständigkeit(611), für die das Gestaltgebet(612) paradigmatisch ist: Ich tue, was ich tue, und du tust, was du tust. Wenn das nicht zusammenpaßt, kann man auch nichts machen außer trennen: wer nicht wunschgemäß arbeitet, fliegt vom Hot Seat.

    Zielt Freuds Versagung auf die Regression zur ödipalen Urszene, so Perls' Kastration der konfluenten Beziehungsimpulse auf die aggressiv-autonome Expression des Begehrens als Forderung. Dennoch hängt die Frustration in der Gestalttherapie auch immer mit der Rekonsolidierung von Urszenenhaftem zusammen, wenn auch kaum beachtet oder gar reflektiert, was ja unter das strenge Verdikt des »mindfucking« fiele. »Unerledigtes, offene Gestalt« verweist per definitionem auf die vergangene Urszene, in der die Befriedigung des Begehrens zerstört wurde. Auch in der psychodramatischen Inszenierung etwa einer Traumszene, deren jedes Bestandteil immer auch ein (oft abgespaltener) Teil der eigenen Person ist(613), keimt in der Befangenheit des Impass-Erlebens(614), der Blockierung, etwas von der Urszene im aktuellen szenischen Muster auf.

    Gestalttherapie ist ein multimedialer, gesturale und katathyme Impulse mit aufgreifender(615) und die motorische Aktivität diagnostisch, kathartisch(616) und kreativ integrierender Versuch der Bewußtseinsbildung (awareness) (617) und Ich-Stärkung, wobei das Ich als Kontaktvollzug der Person begriffen ist.(618) Selbstverantwortung ist dann das Ziel der Integration des Abgespaltenen, Nicht-Ichlichen.(619)

    Die Prävalenz des Unbewußten in der Freudschen Theorie dient der Ausweitung des Bewußten, der Ichfunktionen. Die Regressionsarbeit in Perls' Aktionstherapie dient der Konzentration auf die Ichfunktionen und will ebenfalls die Impulse des Es dem Ich zugänglich machen. Beide nutzen die Übertragung auf den Analytiker und den Widerstand (620) gegen seine Intervention als Wegweiser in der diagnostischen Erschließung der Ursprungssituationen der Verdrängung, von Abspaltungen eigener Impulse aus dem Ich, den Urszenen, die nicht geschlossen bis zum Befriedigungserlebnis durchlebt werden konnten, und deren perpetuierter Versuch der entstellten Reinszenierung (621) das neurotische Symptom und die projektiven Anteile der Beziehung bestimmt. Der Unterschied besteht nicht in der Struktur des Vorgehens, sondern lediglich in der Auswahl und Gestaltung des beidemale szenischen Materials: Während Freud in seinen behandlungstechnischen Schriften den Träumen und Assoziationen in entspannter Rückenlage den Vorzug gibt, bezieht Perls sich selbst mit in die Szene des Klienten ein(622) und läßt prinzipiell alles, Träume, Symptome, Gesten, ja schwerpunktmäßig das acting out, als Material der Kristallisation von Unerledigtem zu. Der Praktiker Freud hingegen steht an Experimentierfreude dem Einfallsreichtum Steckels, Ferenczis, Ranks oder Perls' nur wenig nach.(623) Auch seine Technik war eine aktive.

    Freuds illusionäre Überbewertung der Vernunft, der Fähigkeit des Ichs, nur durch Einsicht zu umfassenderen Zugängen zu den eigenen Wünschen und Möglichkeiten zu gelangen(624), wird bei Perls lerntheoretisch und pragmatistisch um das Moment alternativer Gegenerfahrungen zur traumatisierenden Urszene und der Rekonditionierung, des szenischen Lernens von neuen Verhaltensabläufen erweitert. Damit wird das szientistische Primat der Vernunft und Einsicht ersetzt durch ein auch die außerbewußten Programme aktivierendes, experimentelles Lernmodell. Der Praktiker Freud hat ebenfalls versucht, die Veränderung vor der Deutung zu provozieren.(625)

    Ob der Schlag aufs Kissen, welches sich, anders als der Vater, nicht wehren kann, das Aufmüpfen gegen den stummen leeren Stuhl indessen als Training alternativer Interaktionsformen Zielhemmung aufhebt, den Bann der historischen Wunde brechen kann, und wenn ja, ob eine freie Befriedigung, das Schließen der Gestalt, wirklich glücklich macht, bleibt zu fragen. An die letzten Abgründe menschlicher Existenz reicht ein solches munter-hysterisches(626) Happyness-Training wohl nicht gerade heran. Es verlangt eine coenästhetische Feinspürigkeit(627), den letzten, irreduziblen Signifikanten des Begehrens als Schwelle der Freiheit des Subjekts zu finden, Feinspürigkeit für jene Signifikanten, die sich jedem Zugriff des Sprechens entziehen, so wie sie sich in der Urverdrängung dem Zugriff der konfligierenden Mächte von Trieb und Gesellschaft entzogen. Die (vor)schnellen Programme des Gestaltschlusses(628) vermögen ihn möglicherweise nicht zu finden, solange sie nur das reibungslose Funktionieren des wachstumsträchtigen Organismus auf ihre Fahnen geschrieben haben. Aber ganz ohne Sprache, ohne Sinndeutung, ohne Signifikanz kommt selbst Perls nicht aus: Auch seine Patienten sollen einmal vom Geplapper zum vollmächtigen Sprechen kommen, wo Sprache wieder Ausdrucksmittel(629) wird. Loose your mind an come to senses (630) - das zielt gegen die »Papiermenschen«(631) mit ihren desymbolisierten Klischees, ihrem »mindfucking«(632), welches nicht fähig ist, das Begehren fordernd zu artikulieren.

    Freuds archäologisches Modell der schichtenförmig zu Lokalitäten sedimentierten ontogenetischen Erlebensformationen, die mit der Logik metaphorischer Alienationen (Assoziationsmodelle) aufeinander aufbauen und sich untereinander als kommunizierendes Beziehungs- und Energiegefüge im sowohl nährenden wie bestoßenden Realitätskontakt gestalten, erinnert an die Anatomie als Architektur des Leibes mit dem Grundstein der Urszene. Der Fokus liegt auf der Konstitutionsgenese und Hermeneutik wird der interpretative Versuch ihrer Rekonstruktion. Dagegen ist das Modell des lebendig strömenden Organismus mit seinen vielfältigen Stoffwechselströmungen heraklitisch. Zwar fließt auch in Freuds Apparat Energie - aber als Hauptstrom der zwei großen Ströme Libido und Todestrieb mit ihren sublimen Abkömmlingen und Verästelungen.

    Die Freudsche Perspektive von Urform und Derivat entstammt seinem genealogisch-deterministischen Kausalitätshorizont. Diesem archäologischen Modell der Ableitungen aus einem Primärvorfall setzt Perls das Modell des Flusses entgegen: Ihm verengt die genealogische Perspektive die Interpretation des erlebenden und handelnden Menschen um alle gegenwartsspezifischen Momente und Einflüsse. Weder läßt sich aus der Sexualität das Atmen, Essen, Urinieren und Defäziren ableiten, bei allen Verwandschaften, noch ist der Fluß der Bedürfnisse, ihre gegenseitige zyklische Ablösung in der awareness des Lebensvollzugs mit dem archäologischen Modell zu erfassen. Leben als Sedimentierung formierter Ablagerungen oder Leben als Strömen durch die Zeit, als schöpferische Odyssee - das sind die unterschiedlichen Blickwinkel des forschenden Interesses bei Freud und Perls.

    Die Perlssche Sicht des Stromes infiniert und mobilisiert den Menschen zur schöpferischen Gestaltung seines Lebens. Das Freudsche Modell mobilisiert das zum Selbstbewußtsein strebende Ich zur deduktiven Aneignung seiner beschädigenden Vergangenheit, um hierin Heilung zu finden. Der Koinzidenzpunkt beider Perspektiven ist und bleibt der vermeintliche Sonderfall des gestörten Menschen, der unter dem Druck seines Leids die Hilfe des Therapeuten sucht: Hier hat sich, und das in beiden Perspektiven, Vergangenes so eindeutig und offensichtlich als entstelltes Zeichen gegen den Willen des Klienten eingeschrieben, daß vom Fluß der Bedürfnisse und Erfahrungshorizonte unter dem Ostinato, der Insistenz des Unerledigten, kaum mehr zu sprechen ist. Genau für diesen Sonderfall, der die Normalität unserer Gesellschaften bildet, bietet das archäologische Verfahren dann die effizientere Möglichkeit des Durcharbeitens, welche immer eine gegenwärtige ist.

    Wäre Perls nicht archäologisch vorgegangen, so wäre es nicht zum Impass, zur existentiellen Verzweiflung, Verwirrung und Blockierung gekommen, die strukturell die Wiederholung der »Urszene« ist. Selbst da, wo die mnestischen Assessoirs des Originalvorfalls nicht detailgetreu herbeiassoziiert werden, ist doch die Ausgrabung der wesentlichen Zielhemmung im Unerledigten der therapeutischen Jetztzeit ein archäologischer Akt, wie sehr auch immer Perls sich dagegen sträuben mag. Jede Regression, jede therapeutische Tiefung ist archäologisch und bezweckt das Ausräumen gefährlicher Untiefen oder Staus im seit Ödipus schon lange nicht mehr natürlichen Verlauf des Flußbettes menschlichen Begehrens.

    So sehr das psychoanalytische Archäologiemodell dem gestalttherapeutischen Flußmodell entgegensteht: Therapie ist Archäologie um des Fließens willen. Und keine Archäologie, wo nicht etwas strömt, zusammenfließt zur sich offenbarenden Form, mit dem Zuwachs der Bruchstücke die vollkommene Gestalt prägnant wird.

    Freud hat immer nach Gestalten in ihrer Sinndeutung geforscht und ihr Prägnantwerden gefördert durch Frustation der Übertragungsliebe. Auf Evidenz als vernünftige Einsicht baut Freud die Heilkraft der Psychoanalyse auf. In seinem wirklichen Vorgehen hat Freud Taktiken entwickelt, die gestalttherapeutischen Methoden ähneln. Während der Freud der Katharsis-Periode mit Breuer schon allein im emotionalen Wiederdurchleben der Urszene die Heilung durch Bewußtheit veranschlagte, hieße die bloße Reinszenierung des Verdrängten(633) ohne das - möglicherweise in der stützenden, solidarischen Gruppe gemeinschaftlich experimentierte(634) - Eröffnen eines neuen, alternativen Problemlösungsmodells, den Patienten mit der ganzen Gewalt seines Leides, seiner Hilflosigkeit und seiner Angst im Regen sitzen zu lassen. Den Weg, seinen Weg, wird er nur selber finden können, aber die Gruppe und der Therapeut unterstützen ihn, regen ihn an und ermutigen ihn. Er weiß, er ist nicht hoffnungslos allein mit seinem ungeweinten Schmerz. Er darf weinen. Oder lachen. Alles ist erlaubt - abgesehen von amoklaufartiger Entrümpelung des Therapieraums, Körperverletzung an sich oder anderen, und es frommt auch alles, dient zum Besten, weil hier Aufdeckung und Aufstand der Wahrheit befreit und gesunden läßt, gemäß dem SPK-Diktum, die Krankheit ist Protest-Waffe.

    Das Erstarken von Bioenergetik, Primärtherapie usw. gerade in Kreisen psychoanalytischer Therapeuten in den Sechzigerjahren im Gefolge Reichs kann als Identifikation von Körper und Es verstanden werden. Das Unbewußte ist Leib, in dessen körperlicher Basis sich Seele und Geist als gestaffelte Aktionsstufen manifestieren und aus den mnestischen Leibarchiven generieren. War in Freuds Paradigma das Hirn Sitz von Erinnerung und Bewußtseinsformen, so wird hier das gesamte Körpernetzwerk in seinem Austausch mit der äußeren Natur und Gesellschaft als Es begriffen und behandelt.

    Wissenschaftsgeschichtlich erleben wir eine doppelte Aufweitung der Vernunft nach Freud und über Freud hinaus:

    1) als körpertherapeutische Bewegung vom Ich zum wie eine Sprache strukturierten biologischen Es als dem Anderen des Ich und zugleich dessen Gleichem, zur Weisheit des Organismus, was in den Therapieformen nahe am Wahn arbeitet: Die Wissenschaft wagt sich hier, unter Gefahr von Selbsttäuschung und Diffamierung, in den Bereich des Raunens der Unvernunft als der Wahrheit des Körpers zurück, wie sie zugleich die Gesänge der Wale zu entschlüsseln sucht.

    2) als dramatische Bewegung vom Ich zur Realität der Außenwelt, durch deren Einfluß und in deren Interaktionen es sich allererst konstituiert. Die Vernunft nach Freud wird sowohl zur inneren Natur als auch zur äußeren hin aufgeweitet und damit aus ihrer idealistischen Verengung befreit.

    In der dramatischen Bewegung wird die Sozialität der Seele pointierter entdeckt und behandlungstechnisch berücksichtigt: statt des freien Einfall eines stillgelegten Gehirns auf der Coach wird der freie Einfall während der Tat, das Spiel in der Situation, als die angemessenere Ebene der Wiederkehr des Verdrängten erprobt. Morenos Psychodrama, Perls' Gestalttherapie sowie Bernes Transaktionsanalyse erweitern die Freudsche Topik zu einem nicht nur innerseelischen, sondern primär soziohistorischen Szenarium, in welchem behandlungstechnisch die malignen Szenen exploriert, neu geschrieben und eingeübt werden.

    3) Verhaltenstherapie ist die Bewegung zum und Arbeit am Über-Ich. Viele Effekte benigner Rekonditionierung, etwa durch Änderung der (Selbst-)Attribution und -Bewertung, sind eigentlich Umstrukturierungen im Über-Ich. Obwohl das Wort Kognition nach Ich riecht, ist es nicht wirkliche Arbeit der Vernunft, sondern ihre Instrumentalisierung. Daß viele Verhaltenstherapeuten, wenn sie selbst sich einmal in Therapie begeben, sich erstaunlicherweise analytischen Verfahren und gerade nicht ihrer eigenen Schulrichtung zuwenden, zeigt, wie selbst dort, wo pragmatische Verfahren effizient funktionieren, die Sehnsucht nach der Tiefe des Verstehens ungestillt bleibt. Die hermeneutische Frage nach der Wahrheit, die Freud phantasmatisch und szientifisch zugleich zu stellen den Mut hatte, wird von effizienter Heilung als gelungener Wiederanpassung durch Eskamotieren des Symptoms allein noch nicht beantwortet. Die Geheimschrift des Symptoms interessiert selbst noch die, die es wirksam und schnell entfernen können, ohne sich dabei eingehend um seinen Sinn kümmern zu müssen. Die Aufdeckung der Wahrheit des homo absconditus in den Negativa seines beschädigten Lebens, im oft in Isolation zwingenden Leiden an einer Welt, die noch nicht so ist, wie sie kindertraumgemäß hungerlos und krieglos machbar wäre, diese Offenbarung der Wahrheit hat einen überschießenden Wunsch der Wahrheits-Sinnlichkeit, der nicht angesichts von funtionstüchtigem Heilungspragmatismus erloschen ist. Die Frage nach der Wahrheit des Subjekts in der Geschichte seiner Welt bleibt noch da virulent, wo das Leiden aufgehoben ist. Diese Frage, als unendliche Analyse, findet sich mit den Deutungskrücken der Therapienlandschaft niemals ab. Sie ist unersättlich wie der Traum von der Herrlichkeit der Kinder Gottes.