RAD im Pott, Ausgabe Herbst 1997:

Essen:

Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Fahrradfreundliche Stadt auf Stolperkurs

Zweieinhalb Jahre ist die Stadt Essen im Förderprogramm "Fahrradfreundliche Stadt" des Landes Nordrhein-Westfalen. Zeit genug, um einmal Bilanz zu ziehen. Und diese fällt aus Sicht von EFI und ADFC recht ernüchternd aus, obgleich die Anfangsphase sehr euphorisch begonnen hatte. Aus dem 1991 erstellten Radverkehrsgutachten wurde ein Routenkonzept für das ganze Stadtgebiet entwickelt und die Ausführungsdetails für die jeweiligen Radrouten (Radfahr- bzw. Angebotsstreifen, Fahrradstraßen, gegenläufig geöffnete Einbahnstraßen etc.) festgelegt. Wenn man diesen Sommer durch die Stadt radelt, gewinnt man den Eindruck, als habe sich so gut wie nichts getan. Natürlich sind bereits viele kleine Maßnahmen umgesetzt worden, was in der RAD im Pott auch regelmäßig nachzulesen ist, aber von den geplanten Radrouten ist noch nichts zu sehen. Selbst von den (ohne große bauliche Maßnahmen umzusetzenden) 252 geplanten Fahrradstraßen ist bisher keine verwirklicht worden. Hinzu kommt, daß die Politik geplante Radrouten im Vorfeld bereits wieder zunichte macht, indem sie bei der Verteilung der Platzressourcen dem Auto eindeutig Priorität einräumt (Beispiel Altenessener Straße - siehe RAD im Pott 2/96). Bei der Stadtverwaltung bestehen zwei Arbeitskreise, die sich mit dem Radverkehr befassen, und in denen sich auch EFI und ADFC tatkräftig engagieren. Der erste von beiden, im Dezernat von Umweltdezernentin Frau Dr. Krüger angesiedelt, befaßt sich vornehmlich mit Radverkehrsanlagen in Grünflächenbereichen und hat an konkret Sichtbarem bisher am meisten geleistet (Veltenbahn, Gruga - Annental, Hangetal - Hallopark, daneben viele kleine Stich- und Verbindungsstrecken). Auch wurden öffentlichkeitswirksame Aktionen wie "Radler des Jahres" hier konzipiert. Da aber inzwischen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen die hierfür eingesetzten ABM-Kräfte nicht mehr zur Verfügung stehen, tendiert der Gestaltungsspielraum gegen Null, so daß man sich über die Existenz dieses Arbeitskreises ernsthaft Sorgen machen muß. Der zweite Arbeitskreis, angesiedelt im Tiefbauamt und aus dem oben erwähnten Gremium nach einem halben Jahr herausgelöst, ist zuständig für die Radverkehrsanlagen im Straßenbereich und somit federführend bei der Realisierung des Hauptradroutennetzes. Man trifft sich alle zwei bis drei Monate, dazwischen gibt es Sondertreffen, bei denen konkrete Einzelplanungen erörtert werden. Viele Informationen und Ankündigungen über geplante Radrouten stammen aus diesem Arbeitskreis. Nur, das meiste davon existiert nach wie vor ausschließlich auf dem Papier! Hinzu kommt, daß Verbesserungsvorschläge von EFI/ADFC zwar angehört, offenbar dann aber nur widerstrebend in die Planungen eingearbeitet werden. Und wenn die Radfahrverbände sich dann direkt an die politischen Gremien wenden, reagiert man pikiert. Auch hat sich bei EFI und ADFC der Eindruck manifestiert, daß die personelle Situation bei der Radverkehrsplanung im Tiefbauamt wieder problematischer geworden ist. Obgleich alle radverkehrsrelevanten Zuständigkeiten inzwischen hier gebündelt sind, was eigentlich positiv zu werten ist, scheint sich Sand im Getriebe festgesetzt zu haben. Die immens wichtige konzeptionelle Projektplanung ist angesiedelt beim Fahrradbeauftragten Martin Stenert, einem hochengagierten Mann, der jedoch inzwischen auf relativ verlorenem Posten zu stehen scheint. Ihm steht derzeit nur eine einzige Mitarbeiterin direkt zur Verfügung, zwei ihm zugeordnete ABM-Kräfte wurden im Juni zunächst einmal ersatzlos auf die Straße gesetzt und nun pausiert ausgerechnet auch noch sein ebenfalls hochmotivierter Gruppenleiter für ein Jahr! Irgendwelche motivierenden Maßnahmen seitens der Vorgesetzten scheinen eher die Ausnahme zu sein als die Regel. Mag sein, daß der Eindruck von EFI und ADFC zu pessimistisch ist. Aber wenn man sich die immer länger werdende Liste der unerledigten Tagesordnungspunkte bei den Arbeitskreis-Sitzungen vor Augen hält, bleibt die Euphorie der Anfangsphase langsam aber sicher auf der Strecke. Immer mehr klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander.

Jörg Brinkmann


zurück zur RAD im Pott-Startseite