Rolf van Raden,
1/2002
Reclaim the theater
Über Möglichkeiten gesellschaftsrelevanter Bühnenkunst
„Den
Theatermachern in Deutschland ist der Auftrag verloren gegangen.
Nach über zweihundert Jahren an der Speerspitze der Aufklärung
trauert das Theater seiner in der Folge von 1968 noch einmal
neu behaupteten Bedeutung als kritisches Stadt- und Staatstheater
nach, denn es findet sich in einer von der letzten Eckkneipe
bis zum Bundeskanzleramt völlig entpolitisierten Gesellschaft
wieder. Der Kontext klarer ideologischer Fronten, das Denken
in Alternativen, ist einer großen Orientierungslosigkeit
gewichen. Wir leben in einem diffusen Unbehagen ohne Bewußtsein.
Wir müssen von vorne anfangen.“
„Der Auftrag“, Schaubühne am Lehniner Platz,
Berlin
Schaut
man sich die Geschichte des Theaters an, so scheint es, als
befinde es sich in einer permanenten Rechtfertigungsnot. Spätestens
seit Aristotles beschäftigt sich die Theorie damit, den
Standort und den Zweck des Theaters in der Gesellschaft zu verorten.
Zuweilen fällt das Ergebnis dabei desaströs aus: Gegen
Ende des zweiten Jahrunderts nach Christus schreibt der lateinische
Kirchenschriftsteller Tertullian, das Schauspiel sei ein verkehrter
Gebrauch der Schöpfung und ein Blendwerk des Teufels. (1)
"Nur zwei Jahre Theater, und alles ist zerrüttet",
soll auch der Aufklärer Jean-Jaques Rousseau gesagt haben,
als in Genf über die Errichtung eines Schauspielhauses
diskutiert wurde. Das Theater gehörte seiner Meinung nach
zu den Auswüchsen einer unnatürlichen Großstadtkultur
(2).
Dagegen setzen mutige Zeitgenossen immer wieder mehr oder weniger
plausible Rechtfertigungen für die Darstellende Kust auf
der Bühne. So postuliert Friedrich Schiller zum einen den
Autonomieanspruch der Kunst und räumt ihr aber positive
Wirkungen für die Gesellschaft ein. Das Theater sei nicht
nur eine Instanz der Volksbildung. Auch ein Ausgleich zwischen
Verstand und Triebhaftigkeit sei im Theater möglich. „So
gewiss sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter
Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiss wirkt die Schaubühne
tiefer und daurender als Moral und Gesetze.“ (3)
Neu
ist der Versuch, den Auftrag des Theaters zu bestimmen, also
keineswegs. Die Konsequenz, welche die Macherinnen und Macher
um Albert Ostermeier an der Berliner Schaubühne aus der
Erkenntnis ziehen, das Theater habe seinen Sinn verloren, ist
jedoch in der bundesrepublikanischen Theaterlandschaft am Beginn
des 21. Jahrhunderts wenig populär: Der postulierten Sinnkrise
setzen sie ein radikal aufklärerisches Programm entgegen.
Ganz nach dem Motto trotz alledem soll ihr Theater,
das von „individuell-existenziellen und gesellschaftlich-sozialen
Konflikten“ erzählen will, ein Ort der Repolitisierung
sein. Das Theater könne und müsse das Bewusstsein
dafür schaffen, dass ein anderes Leben ausserhalb der „völligen
Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes“ möglich
sei. Seit der Übernahme der Schaubühne durch das junge
Theaterteam Anfang 2000 wird unbeirrbar am radikal zeitgenössischem
Theater festgehalten.
„Viel
Spaß!“
Auf
den ersten Blick näher am Puls unserer Zeit, die in den
deutschen Feullitons gemeinhin mit dem Terminus „Spaßgesellschaft“
umschrieben wird, lag da das Bochumer Schauspielhaus in der
zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Als Leander Haußmann
1995 das Theater von Frank-Patrick Steckel übernahm, stellte
er die Spielzeit plakativ unter das Motto „Viel Spaß“.
Von Presse und Öffentlichkeit wurde das Schauspielhaus
oftmals auf dieses Motto reduziert: Was auf der Bühne zusehen
war, verstand man als Popkultur und Spaßgurillia. Leander
Haußmann selber wurde er nicht müde, sein Theater
in Interviews als ein unpolitisches zu verkaufen. Sein Program
war, so proklamierte er, dass es kein Programm mehr gebe. Seine
Analyse: Am Ende der großen Geschichten seien wir zurückgeworfen
auf uns selbst. So schreibt Haußmann im Vorwort zu seinem
Abschiedsbuch Schauspielhaus Bochum 1995-2000: „Wir wollten
die Welt nicht verändern, wir wollten sie auch nicht interpretieren,
wir wollten sie uns eigentlich nur kurz ausleihen. Um in ihr
spielend zu leiden, zu sterben, das Gute gegen das Böse
zu tauschen.“
Was
auf den ersten Blick eine Abrechnung mit dem gesellschaftskritischen
Theater zu sein scheint, ist auf den zweiten Blick mehr: In
Haußmanns Theater verschwindet der Autor hinter dem Regisseur.
Mit einem Theaterkonzept, dass wir seit Hans-Ties Lehmann postdramisch
nennen können, gelang ihm eine Anknüpfung an Subkultur
und Alltagswelt. Das Theater öffnete sich brach aus den
Normen der Guckkastenbühne aus. Theater wollte sich selber
wieder in den öffentlichen Raum und in den gesellschaftlichen
Diskurs tragen – und zwar nicht nur durch das Abspielen
literarischer Texte.
Reclaim
the streets – Party als Protest?
Während
Leander Haußmann mit diesem Theaterkonzept ein neues,
jüngeres Publikum in Bochum anspricht, entwickelt sich
Mitte der neunziger Jahre in Deutschland auf ganz anderem Parkett
eine neue Gegenkultur: Unter dem Motto „Spaß kann
auch Widerstand machen“ wird die Party als Protest entdeckt.
Abseits von der kommerziellen Love Parade finden in den Metropolen
reclaim the streets Partys statt. Mehr über den Charakter
dieser Aktionen ist auf einer Berliner Mobilisierungsseite im
Internet zu erfahren:
„Der
Unterschied von reclaim the streets Parties zum normalen Straßenfest
ist, dass wir nicht vorher um Erlaubnis bitten dies zu tun.
Außerdem gibt es keine VeranstalterInnen, die den konkreten
Ablauf festlegen. [...] Es gibt so vieles, was man auf der Straße
machen kann (Theater spielen, Musik machen, Bilder malen, Sandplätze
bauen, Bäume pflanzen usw.). [...] Die Party zeigt, dass
man die Möglichkeit hat, sein leben selbst in die Hand
zu nehmen. Man kann das System von Verbotenem/Erlaubten durchbrechen
und sich eigenständig Räume für Parties und Kommunikation
schaffen. Außerdem ist reclaim the streets eine Widerstandsform,
die sehr viel Spaß macht und verschiedene Leute zusammenbringt,
(MigrantInnen, Arbeitslose, Rentner, Raver, Kinder, Eltern,...)
[...] Direkt ist es natürlich ein Angriff gegen den Autoverkehr.
Dieser macht Teile der Stadt fast unbewohnbar. Aber genauso
geht es gegen die Privatisierung öffentlichen Raums und
die damit zusammenhängende Ausgrenzung von Personen. Wir
wollen zeigen, dass wir all dies nicht mehr tatenlos hinnehmen
und aktiv dagegen vorgehen. Wir wollen das stören, was
als 'normal' angesehen wird und zeigen, wie wir uns städtischen
Lebensraum vorstellen.“
(http://www.rts.squat.net/archiv/texte/aufrufe/wasist.html)
Wenn
auch diese neue Protestkultur deutlich andere Akzente als Leander
Haußmanns Schauspielhaus setzt, so liegt die Parallele
nicht nur in der Gleichzeitigkeit der Entstehung. Auf zwei unterschiedliche
Probleme werden ähnliche Lösungen gefunden. In der
politischen Protestkultur sind traditionelle Aktionsformen längst
zum Ritual erstarrt, während das Theater die Tatsache reflektieren
muss, dass es kein Massenmedium mehr ist. Wie Leander Haußmann
knüpft die reclaim the streets-Bewegung positiv an die
Popkultur an bzw. geht aus ihr hervor. Im Mittelpunkt stehen
dabei die Macherinnen und Macher selber. Selbstdarstellung ist
nicht mehr peinlich, sondern ein wichtiger Motor im kreativen
Prozess. Transmissionsriemen ist der Spaß und die Lust
an den eigenen Aktivitäten. Durch die eigene Aktion werden
öffentliche Räume besetzt und zum Refugium für
die eigene Kreativität umdefiniert.
Wer
also reclaim the streets als gesellschaftliche Manifestation
versteht, der wird ein postdramatisches Theaterkonzept wie das
von Leander Haußmann nicht als politisch irrelevant bezeichnen
können. Der Anschlusspunkt liegt dabei natürlich keinesfalls
bei traditionell politischen Institutionen wie Parteien und
Parlamenten. Angesetzt wird bei der Besetzung und Umgestaltung
des öffenlichen Raumes Stadttheater, wodurch künstlerische
und kulturelle Freiräume geschaffen werden. Das wird auf
verschiedenen Ebenen deutlich: Unter Haußmann wurden die
kleinen Bühnen des Hauses regelmäßig für
alternative Projekte genutzt, Konzerte von Bochumer Nachwuchsbands
hatten genauso Platz wie Veranstaltungen mit Szenegrößen.
Die Eintrittspreise für Arbeitslose und Studierende wurden
über Jahre hinweg auf einem sehr niedrigem Niveau gehalten.
Kleinere Skandale und Skandälchen zeigen immer wieder,
dass sich gesellschaftliche Gruppen durch Haußmanns Theater
auf die Füße getreten fühlen.
Hartmann
möbelt auf
Mit
dem Intendantenwechsel im Jahr 2000 ändert sich die Situation
am Bochumer Schauspielhaus. Unter dem neuen Intendanten Mathias
Hartmann soll das Theater, dem letztlich der große Zuschauerzuspruch
außerhalb einer eingeschworenen, jungen Fangemeinde fehlte,
gründlich aufgemöbelt werden – Und dabei blieb
es nicht bei neuen Sitzbezügen im großen Haus. Das
Schauspielhaus müsse wieder für alle Bevölkerungsteile
interessant werden, so Hartmann. „Wie wäre es, wenn
dem Theater Flügel wüchsen“, fragt das erste
Spielzeitheft und deutet an, was kommen sollte: Ein Theater,
das abhebt in die Sphären des Traumes. Ein Theater, das
auf schöne Geschichten und Verzauberung setzt. Dabei wolle
man „in die verborgenen Schichten unserer Zeit abtauchen,
um etwas Neues zu finden“. Währenddessen wird das
künstlerische Konzept mit dem wirtschaftlichen verschmolzen.
Aufgaben wie die Gestaltung von Plakaten und das Werbekonzept
werden aus der Dramaturgie an ein privates Unternehmen übertragen.
Das Theater wird verstanden als Dienstleistungsunternehmen,
dass auf dem Unterhaltungsmarkt wieder konkurrenzfähig
werden muss.
Allen
Umstrukturierungen zum Trotz konnte in der Spielzeit 2000/2001
Jürgen Kruse, der unter Leander Haußmann als Hausregisseur
das Bochumer Schauspielhaus mitprägte, Arthur Millers Tod
eines Handlungsreisenden in den Kammerspielen inszenieren.
Das Projekt war schon unter der alten Intendanz geplant, musste
aber wegen der Erkrankung des Hauptdartellers verschoben werden.
Gleichzeitig inszenierte Mathias Hartmann Der Narr und seine
Frau heute Abend in Pancomedia von Botho Strauß.
So unterschiedlich die Stücke auch sind, handeln beide
doch von dem Lebens- und Leidensweg der Hauptfigur, die in ihrem
Beruf um Erfolg und Anerkennung kämpft. Ein Vergleich dieser
beiden Inszenierungen macht die verschiedenen Theaterkonzepte
sehr deutlich:
Bei
Mathias Hartmann begegnen wir einem großen, leeren Bühnenblild,
auf das unter sphärischen Klängen einige Möbel
auf die Drehbühne rollen. Eine zauberhafte und relativ
ungebrochene Ästhetik wird aufgebaut. Die Inszenierung
greift auf traditionelle Muster des Erzähltheaters zurück,
Ausbrüche aus der Handlung kommen nicht vor. Paradigmatisch
ist die Umsetzung der Pancomedia-Szene, die in dem Restaurant
des Hotel Confidence spielt: Wir sehen Gäste, die an den
Tischen auf der roten, sich dehenden Drehbühne sitzen.
Es wird sich leise flüsternd unterhalten. In diese Szene
kommt unter sanften Synthesizer-Klängen ein Engel geschwebt,
der von Tisch zu Tisch tänzelt. Da muss auch dem letzten
klar werden: Was hier inszeniert wird, ist Konsens-Theater.
Ohne Brüche in der Handlung wird eine Geschichte erzählt,
die es auch sorgfältig vermeidet, mit dem Publikum zu brechen.
Die vierstündige Inszenierung ist ein zahnloses Mammutwerk,
dass keinen wirklich bleibenden Eindruck hinterlässt, weil
es keinen Widerstand bildet.
Ganz
anders bei Jürgen Kruse: Seine Inszenierung des Handlungsreisenden
lebt vom Dissens: Auf der Handlungsebene interessieren Kruse
hauptsächlich die Widersprüche zwischen der tragischen
Lebenslüge der Familie Loman und der brutalen Wirklichkeit.
Um diesen Gegensatz zu untersuchen, radikalisiert er die Konfrontation
zwischen der Hauptfigur und übrigem Personal und setzt
auf allen Ebenen auf Widersprüchlichkeit: Tragische Momente
werden abgelöst von grotesker Komik. Zeitlupenartigen Passagen
folgen unmittelbar rasante Szenen. Das alles untermalt Jürgen
Kruse mit einer Klangkulisse, die mal leise und dezent, dann
wieder laut und ausdrucksstark die Handlung mitbestimmt. Körperlich
erfahrbar wird diese Exessivität in dem bombastisch lauten
Unfallgeräusch, als sich Willy Loman am Ende des Stückes
selbst tötet. Dieser Knall tut richtig weh und wird abgelöst
von der ruhigen Beerdigungsszene, an die sich zum Abschluss
eine ekstatische Party- und Tanzszene anschließt.
Konsens ist Nonsens!
Der
Gegensatz vom Dissens- zum Konsenstheater ist mehr als eine
regietaktische Entscheidung. Es ist die Entscheidung zwischen
Affirmativität und Subversivität. Denn während
ein Theater, das auf Einmütigkeit setzt, höchstens
riskiert, dass es dem einen oder anderen Zuschauer langweilig
wird, eckt die Differenz an vielen Punkten an.
Was
macht das Theater in einem solchen Kontext gesellschaftsrelevant?
Bedeutend kann das Theater nur werden, wenn es omnipräsenten
Entdifferenzierungsversuchen etwas entgegenzusetzen weiß.
Um sich nicht marginalisieren zu lassen, muss das Theater zunächst
einmal keine Angst vor der Marginalisierung haben. Es darf ruhig
anknüpfen an Pop und Subkultur. Das Theater wäre dann
nicht mehr in erster Line eine Vermittlungsanstalt literarischer
Texte, sondern ein Freiraum, der sich durch seine Unmittelbarkeit
von anderen Medien unterscheidet.
Als
wirklich multimediale Erfahrung hat das Theater die beste Möglichkeit,
durch eine vielschichtige und widersrüchliche Zeichensprache
ein Gegenpol zur gleichförmigen, weichgezeichneten allgegenwärtigen
Vermarktungsästhetik zu bilden. Ein solches Theater würde
mehrere Aufgaben erfüllen: Wenn Zeichenebenen sich verschieben
oder scheinbar gegeneinander laufen, dann können wir daran
unsere Sinne schulen. Unsere Aufmerksamkeit wird auf die Form
und die Ästhetik gerichtet. In einer Zeit, die so stark
von medialen Sinneseindrücken geprägt wird, ist eine
kritische Auseinandersetzung mit diesen Instanzen wichtiger
denn je. Wenn auch die Form, und nicht nur der Stoff Gegenstand
der Untersuchung ist, dann werden Vermittlungsinstanzen hinterfragt.
So kann gesellschaftliche Hegemonie reflektiert und kritisiert
werden. Dies nenne ich im originären Sinne kritisches Theater.
Weil
das Schauspiel hauptsächlich ein staatlich oder städtisch
subventioniertes Projekt ist, spielt dabei Anmaßung eine
große Rolle. Kritisches Theater ist immer die organisierte
Veruntreuung von Steuergeldern. Schließlich wollen die
Entscheidungsträger, die über die Subventionen entscheiden,
dass Theater eine Unterhaltungs- und Bildungseinrichtung ist,
die stabilisierend wirkt. Aber nur, wer sich von den großen
Lobbyisten in Politik und Wirtschaft unabhängig hält,
kann künstlerische Freiräume erhalten und ausbauen.
In diesem Sinne ist die Anmaßung, kritisches Theater zu
machen, doch ein wenig reclaim the streets auf der
Bühne.
1
Quintus Septimius Tertullianus, De spectaculis. Über die
Spiele. Übers. u. hg. v. K.-W. Weeber. Stuttgart 1988
2
Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn D'Alembert. In: Schriften,
Bd. 1, München 1978, S. 1758ff.
3
Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne
eigentlich wirken? In: Sämtliche Werke. Hg. Von G Frieke
und G. Göpfert. Darmstadt 1993, Bd. 5, S 824