Theologische Entwicklungen Bonhoeffers.

Was wäre heute Kirche für andere?

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 Dr. Dr. Michael Lütge am 7. Februar 2023

Die letzten Briefe aus der Haft: Verrat der Kirche an Jesus

Bonhoeffer spricht mir aus dem Herzen: „Oft frage ich mich, warum mich ein »christlicher Instinkt« häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht, und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung, sondern ich möchte fast sagen »brüderlich«. Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen - weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme (besonders schlimm ist es, wenn die anderen in religiöser Terminologie zu reden anfangen, dann verstumme ich fast völlig und es wird mir irgendwie schwül und unbehaglich) -, kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen.“[1] Seit Mitte April 1944 verändert sich Bonhoeffers Ergebung in die ungerechte Fortdauer der Haft, wächst seine innere Distanz zur Kirchlichkeit. Mit prophetischer Klarheit antezipiert er den Autoritätsverlust der Kirchen und die Abstimmung mit den Füßen durch Kirchenaustritte. Inzwischen sind mehr als die Hälfte der Deutschen nicht mehr Mitglieder einer Kirche. Sein Interesse wird mehr und mehr: denen, die nicht im kirchlichen Saft der Eucharistie schwimmen, den Puls Gottes hörbar zu machen. „Der Auferstehungsglaube ist nicht die »Lösung« des Todesproblems. Das »Jenseits« Gottes ist nicht das Jenseits unseres Erkenntnisvermögens! Die erkenntnistheoretische Transzendenz hat mit der Transzendenz Gottes nichts zu tun. Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“[2]

Die vollständige Immanenz Gottes in der Welt wird zu einem Quantensprung in der späten Theologie Bonhoeffers. „Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen - »etsi deus non daretur«. Und eben dies erkennen wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen, als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matth. 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!“[3] Das ist der Abschied vom anfänglichen Supranaturalismus und Theismus und die konsequente Anwendung des lutherischen solus christus.

Die Wahrnehmung Jesu bei Bonhoeffer wird mehr und mehr aus der Solidarität der Leidenden ein Abschied von allem Bombastischen, mit dem die Evangelien ihn hochgepusht hatten. „Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, — dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist »Metanoia«; und so wird man ein Mensch, ein Christ“.[4] Der Verzicht, etwas aus sich zu machen, sich in eine Schublade einzuordnen, sich in eine Schulrichtung zu klassifizieren und zu definieren und sich ohne all diese Vorurteile über sich und andere den Tagesproblemen zu stellen, markiert den Abschied von der systematischen Theologie mit ihrem Bestreben, aus Gott ein wunderbar komplexes begriffliches Kartenhaus zu basteln, dessen Stringenz und Plausibilität an innerer Widerspruchsfreiheit gemessen werden will, aber auf eine Kommensurabilität mit der sozialen und politischen Realität und ihrer Abspiegelung in Mythen des Alltags verzichtet. Es markiert den Willen, aus der virtuellen Welt der kirchlich zelebrierten Mythologeme und Phantasmata hinauszutreten in den Kontakt mit all den vielen Menschen, die diesen Glauben nicht glauben können oder schlicht vollständig unbeleckt sind von der Welt der religiösen Phantasien. Für all diese Menschen haben theologische Aussagen nicht mehr als den Rang von Verschwörungstheorien und unbeweisbaren Behauptungen, die allesamt die Annahme von Vorgängen außerhalb unserer wissenschaftlich erforschbaren Welt voraussetzen.

Bonhoeffers Perspektivenänderung im Blick auf Jesus macht Nachfolge zum Eintauchen in die Welt und führt zwingend zur politischen und sozialen Einflußnahme in der Welt. Jesus ist ganz auf das Leben im Diesseits, im Kontakt zum physischen Nächsten ausgerichtet. „Gewiß nahm sich Jesus der Existenzen am Rande der menschlichen Gesellschaft, Dirnen, Zöllner, an, aber doch durchaus nicht nur ihrer, sondern weil er sich der Menschen überhaupt annehmen wollte. Niemals hat Jesus die Gesundheit, die Kraft, das Glück eines Menschen an sich in Frage gestellt und wie eine faule Frucht angesehen; warum hätte er sonst Kranke gesund gemacht, Schwachen die Kraft wiedergegeben? Jesus nimmt das ganze menschliche Leben in allen seinen Erscheinungen für sich und das Reich Gottes in Anspruch.“[5]

Es mutet fast wie eine Abkehr von der klösterlich-spartanischen Askese der Jahre in Finkenwalde an, wenn er gerade in seiner 6-Quadratmeter-Zelle von Glück, Kraft, Gesundheit schreibt und damit der Predigt des Kyrie, der Enthaltsamkeit, der notorischen Selbstkasteiung für die eigene Sündhaftigkeit eine deutliche Abfuhr erteilt zugunsten des Rechts auf Glück, auf Wohlergehen, auf Genießen der eigenen Kraft und Entfaltungsmöglichkeiten.

Die Diesseitigkeit Gottes, die Jesus als Motor seines Handelns erlebt hat, ist durch die Aufklärung und Darwins Evolutionstheorie inzwischen so mutiert, daß man nur noch bei Katastrophen ins Beten verfällt. „Ich ging davon aus, daß Gott immer weiter aus dem Bereich einer mündig gewordenen Welt, aus unseren Erkenntnis- und Lebensbereichen hinausgeschoben wird und seit Kant nur noch jenseits der Welt der Erfahrung Raum behalten hat.“[6] Gott ist dann nicht mehr der große Bruder im Himmel, der helfen soll, wenn es klemmt. Wenn man nach Kant noch von der Transzendenz Gottes reden will, dann als die den alltäglichen Egoismus überschreitende Erfahrung des Hingerissenseins von der Liebe in all ihren Formen. Transzendenz ist Überschreiten des eigenen Wohlsituiertseins in selbstgenügsamer Focussierung auf das eigene Wohl. „Das »Für-andere-da-sein« Jesu ist die Transzendenzerfahrung! Aus der Freiheit von sich selbst, aus dem »Für-andere-da-sein« bis zum Tod entspringt erst die Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart. Glaube ist das Teilnehmen an diesem Sein Jesu. (Menschwerdung, Kreuz, Auferstehung.) Unser Verhältnis zu Gott ist kein »religiöses« zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen - dies ist keine echte Transzendenz, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im »Dasein-für-andere«, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt!“[7] Damit greift Bonhoeffer Mt 25 auf: Jesus im geringsten seiner Brüder finden und für ihn da sein. Die Kirche für andere würde ihren Besitz für Bedürftige geben und Pfarrer würden nicht nach A13 Gehalt beziehen, sondern wie in Freikirchen von Spenden leben und einen zusätzlichen Beruf zum Geldverdienen ausüben. Bonhoeffer erkennt, wie wenig die Kirchen dem Handeln Jesu entsprechen und damit Verrat an Jesus begehen.

Der Grund, weshalb die Menschen kontinuierlich die Kirchen verlassen und inzwischen die Hälfte bereits ausgetreten ist, liegt zum einen darin, daß Technik und Wissenschaften plausiblere Erklärungen liefern als eine verschlafene theologische Apologetik angesichts der Theodizeefragen. Der zweite Grund ist, daß eine offene Diskrepanz zwischen dem gelegentlich noch gepredigten Jesus und der organisierten Pfarrerschaft besteht. Es ist der Gegensatz von Arm und Reich.

Vorgeschichte des diesseitigen Glaubens: Albrecht Ritschl

Ritschl war Lehrer von Adolf von Harnack, bei dem Bonhoeffer mit nur 21 Jahren promovierte. Durch diese Schullinie mag auch der Gedanke der Diesseitigkeit auf Bonhoeffer gekommen sein. Für Ritschl ist die irdische Verwirklichung des Reiches Gottes durch das im Sinne Kants moralische und im Geiste und Stile Jesu sittliche Leben ein zentrales Thema.[8] Allein durch die konsequente Nachfolge Jesu kann das Reich Gottes verwirklicht werden im gegenwärtigen Leben und Arbeiten in dieser Welt, im „sittlichen Handeln in dem bürgerlichen Beruf“. Die universale Aufgabe des Reiches Gottes wird ins Werk gesetzt, wenn „jeder Einzelne sittlich handelt, indem er das allgemeine Gesetz in seinem besonderen Beruf erfüllt oder in derjenigen Combination von Berufen, welche man in seiner Lebensführung zusammenzufassen im Stande ist. Damit ist jede sittliche Nothwendigkeit zum Guthandeln auf solche Zwecke hin ausgeschlossen, welche zu dem Berufe des Einzelnen nicht passen. Das nothwendige Guthandeln aber, welches hiedurch nicht direct bestimmt wird, wird unter der Bedingung als pflichtmäßig erkannt, daß es durch das Pflichturtheil in Analogie zum Berufe gestellt wird, nämlich daß man nach Erwägung aller Umstände berufen sei, die außerordentliche Liebespflicht zu üben.“[9]

Eines der wertvollsten Verdienste Ritschls ist die Widerlegung eines stellvertretenden Strafleidens Jesu für die Erbsünde, die den Gott der Liebe zur Tötung des sündigen Menschengeschlechts hätte zwingen müssen in väterlichem gerechten Zornswallen. Strafen waren in der Auffassung der gesamten Theologie vor Ritschl Beweise dafür, wie sehr Gott seine Menschheit liebt und züchtigt. Diese durch Jes 53 losgetretene Deutung des Todes Jesu, die von Paulus zur Sühnopfertheorie ausgebaut wurde, steht im Zentrum der lutherischen Lehre und wird im Abendmahl mit leicht semikannibalistischen Anflügen zelebriert. Ritschl handelt alle gängigen Darstellungen über Christi Strafleiden ab und kommt dann zu folgender verblüffender Berechnung: „Soll nämlich das individuelle Schuldgefühl durch den Gedanken der Strafsatisfaction Christi compensirt werden, so bleibt nichts übrig als diese Hypothese, daß Christus in seinen Leiden die Strafquanta aller einzelnen Menschen als unterschiedene empfunden hat. Da jedoch die Unmöglichkeit dieser Annahme einleuchtet, indem eine solche Allwissenheit ebenso wenig in der Geschichte Christi nachgewiesen ist, als sie in dem Umfang seines menschlichen Bewußtseins Platz findet, so ist dadurch ein abschließender Grund gegen die Deutung des Leidens Christi als einer ihm bewußten Erfahrung der Strafe an der Stelle aller Menschen gewonnen.“[10] Was bedeutet: Jesus hat sich nie als Sühnopfer verstanden und das Volk Israel auch nie als so sündig, daß Gott es töten müsse, um seinen eifersüchtigen Zorn abzureagieren. Sondern im Gegenteil will Gott, daß Jesus die Versöhnung durch das Ausbreiten des Reiches Gottes sehr irdisch und diesseitig beginnt und wir nach unseren Kräften das weitermachen.

Wenn Bonhoeffer auch über Wiedergeburt neu nachdenken will, erinnert auch dies an Ritschl.[11] Für den ist Wiedergeburt die versöhnte Annahme der Gotteskindschaft und das praktische Leben im von diesem Geist erfüllten Alltag, indem „der gute Wille die Bewegung der Triebe zum Bösen unterdrückt.“[12] In seiner Christologievorlesung Sommer 1933 in Berlin kritisiert Bonhoeffer Ritschl massiv: Ritschls Gemeinde sehe Jesus als Inkorporation ihrer eigenen Werte von Gnade und Treue.[13] Sie sehe ihn als Ideenträger, nicht als einen Menschen, der auferstanden ist und so in steter Gegenwart mit den Gläubigen lebt. Bonhoeffer will diese doketische Vorstellung der Reduktion Jesu auf eine wandelnde Idee der Gottesliebe korrigieren: Jesus ist ein wirklicher Mensch und kein Phantom der Mitmenschlichkeit gewesen, Fleisch wie wir alle. Jesus ist diesseitig, zum Anfassen, und das macht gesund. Das Seltsame an dieser Kritik an Ritschl ist, daß dieser doch genau den Impuls der Diesseitigkeit des christlichen Glaubens im konkreten Alltagsleben als das zentrale Movens der göttlichen Mission gesehen hat, sicherlich im Kantischen Moralismus auf dessen Idealismus abgezielt, durch Hegels Gemeindeverständnis noch einmal verstärkt. Aber mit dieser Idee der Gemeinde als Verwirklichung des göttlichen absoluten Geistes auf Erden ist gerade die Diesseitigkeit des Glaubens zum Programm erhoben.

 

Implikationen der Diesseitigkeit

Bonhoeffers Rede von Diesseitigkeit ist seine Wende von der früheren Theologie im Fahrwasser Barths, wo die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen unterwegs ist zum Himmel, im irdischen Gaststatus lediglich auszuharren hat im Blick auf das postmortale Jenseits. »Das ist das Ende - für mich der Beginn des Lebens« waren die letzten Worte, die uns Payne Best von Bonhoeffer überlieferte, bevor dieser am 8. April 1945 aus Schönberg östlich von Deggendorf zur Hinrichtung in Flossenbürg abgeholt wurde. Auch das Gebet vor seiner Hinrichtung zeigt, wie sehr dieses jenseitige wahre Leben für Bonhoeffer der Inbegriff der letzten Dinge ist. Diesseitigkeit impliziert Jenseitigkeit und damit die Vorläufigkeit des christlichen Lebens in der Welt etsi deus non daretur. Das Als-Ob ist nur eine Krücke, um das intensive Sich-Einlassen des Glaubenden auf diese Welt und seine völlige Hingabe an diese Welt zu motivieren. Es ist nur die vorläufige Szene der Weltverantwortung, die schuldig werden läßt am Leid von Mitmenschen, ob man nun streng Gesetze befolgt oder sie bewußt angesichts bestehender Not übertritt wie Jesus mit Ährenraufen und Krankenheilungen am Sabbat. So falsch deshalb ist, Jesus als sündlos herauszuputzen[14] mit seinen provokativen Mißachtungen der Tora, so treffend ist Bonhoeffers Anzeige der Unmöglichkeit, sich dem Schuldigwerden zu entziehen, gerade auch angesichts des erforderlichen und leider Gottes gescheiterten Plans, Hitler zu ermorden. „Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins, löst sich aber auch aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen, und er ist blind auch dafür, daß sich die wirkliche Unschuld gerade darin erweist, daß sie um der anderen Menschen willen in die Gemeinschaft seiner Schuld eingeht.“[15] Die Nachfolge Jesu besteht eben auch in der gezielten Regelverletzung, dort, wo Regeln und Gesetze Menschen unterdrücken und ihrer Lebensmöglichkeiten berauben. Jesu Bruch mit der Tora sieht Bonhoeffer geradezu als ihre Heiligung, spricht vom „sündlosen Schuldtragen“. Das mosaische Mordverbot muß beim Tyrannenmord übertreten werden. Bonhoeffer liebt die dialektische Pointe, daß gerade das Schuldigwerden an der Tora, an Gottes Gesetz, die Schuld bei seiner Einhaltung aufhebt. Es wäre die größere Untat, bei großer Not untätig zu bleiben, weil Gesetze dazu zwingen. Diese Dialektik prägt auch die Gedanken über Diesseitigkeit etsi deus non daretur, daß nämlich Gott uns ohne ihn leben läßt und gerade in dieser Entzogenheit bei uns ist. Darin nimmt er Luthers Absconditas dei auf und verwandelt die Verborgenheit in Gottverlassenheit. Und gerade in dieser Verlassenheit sei Gott bei uns, wie am Kreuz Jesu. In all diesem Tumult unseres Lebens werden wir immerzu schuldig, man kann nicht nicht schuldig sein oder bleiben. Dieses Christenleben ist darum ein vorletztes Ding, während das letzte die Rechtfertigung und Versöhnung durch Jesus Kreuzleiden ist.

Die Rede von den letzten Dingen bleibt nebulös geprägt von der Vorstellung eines Weltgerichts am Ende der Zeit, wo Jesus kraft seiner Verdienste am Kreuz den Gläubigen rettet. „Das Labyrinth seines bisherigen Lebens stürzt zusammen. Der Mensch ist frei für Gott und seine Brüder. Er wird inne, daß ein Gott ist, der ihn liebt und annimmt, daß ein Bruder neben ihm steht, den Gott liebt wie ihn selbst… Er glaubt, er liebt, er hofft. Vergangenheit und Zukunft des ganzen Lebens fließen in der Gegenwart Gottes in eines zusammen.“[16] Die letzten Dinge sind ein Ausdruck für das Hier und Jetzt der Rechtfertigung im Glauben an den durch Jesus in seinem Handeln und Leiden gezeigten Versöhnungswillen Gottes. Gott liebt Sünder, so wie Jesus sie geliebt hat und dabei selbst zum Sünder wurde.

 „Um Gottes und der Menschen willen wurde Jesus zum Durchbrecher des Gesetzes: Er brach das Sabbatgesetz, um es in der Liebe zu Gott und Menschen zu heiligen; er verließ seine Eltern, um im Hause seines Vaters zu sein und so den Gehorsam gegen die Eltern zu reinigen; er aß mit Sündern und Verworfenen, er geriet aus Liebe zu den Menschen in die Gottverlassenheit seiner letzten Stunde.“[17]

Bonhoeffers gesamte Ethik steht im Zeichen des Widerstands gegen den Faschismus und ist von der Intention geleitet, allein Christus zur Maxime des Handelns zu machen. In allen Varianten kaut er durch, daß es keine politische Autorität gibt, die für Christen letzte Gültigkeit hat, sondern nur die „echte, von oben her begründete Ordnung… aus dem Glauben an den Auftrag von ‚Oben‘, an den ‚Herrn‘ der ‚Herren‘.“[18] Das ist Barmen 1934. Das „Oben“ Gottes ist äußerst irritierend. Es erinnert an den Wettbewerb Elias mit den Baalspriestern 1 Kön 18: Wessen Gott erfolgreicher ist, der darf die anderen schlachten. Daß Jesus ein „Oben“ ist, mag stimmen für die Höhe des Kreuzes, an dem er erstickte. Ansonsten ist die Kraft Gottes in, mit und unter den Schwachen mächtig und hat nichts mit Herrschaft zu schaffen. Daß man meinte, Hitler den noch größeren Himmelsburschen Gott mit Jesus als Sprachrohr entgegensetzen zu können, wurde letztlich zu einer Steilvorlage für Hitler, der auch über die Kirche der unumschränkte Herr wurde und allzu bekennende Kirchenmänner kurzerhand ins KZ schickte. Der Herr der Herren von ganz Oben hatte für seine Bekenner durch seine Obrigkeit, in Sonderheit Hitler, als Dank für ihr frommes Bekenntnis die Arbeit im KZ auserkoren.

Die Kantsche Maxime, der Wahrheit zuliebe sogar einen ins eigene Haus geflüchteten Freund zu verraten und auszuliefern an die staatliche Hinrichtung, weist er strikt ab.[19] Nur zu aktuell ist diese Bereitschaft, um der Menschlichkeit und Solidarität willen Maximen des Gewissens oder der Gesetze zu brechen. Es hat Freunde vor Hitlers Galgen bewahrt. Seine Ethik befreit letztlich von jeder Gesetzlichkeit, wo immer diese Menschlichkeit und Geschwisterliebe verhindert. „Ohne Rückendeckung durch Menschen, Umstände oder Prinzipien, aber unter Berücksichtigung aller gegebenen menschlichen, allgemeinen, prinzipiellen Verhältnisse handelt der Verantwortliche in der Freiheit des eigenen Selbst. … Er selbst muß beobachten, urteilen, abwägen, sich entschließen, handeln. Er selbst muß die Motive, die Aussichten, den Wert und den Sinn seines Handelns prüfen.“[20] Oft ist die Sachlage so diffizil, daß eine klare Unterscheidung von Gut und Böse unmöglich ist und man nur die Wahl hat zwischen einem oder dem anderen Unrecht. Vielleicht kann der Fortgang der Geschichte später erweisen, ob eine Tat hilfreich war. Solche grundlegende Verantwortung und Entscheidungsfreiheit haben nur die politischen und wirtschaftlichen Führungseliten, nicht der Fließbandarbeiter. Aber auch er kann entscheiden, ob er sich im zivilen Ungehorsam weigert zu morden im Kriegsdienst für den Lebensraum im Osten.

Bonhoeffers Wendung von einer der Welt enthobenen pastoralen Existenz in einem Jenseits der Welt, einem als fromme Blase aufgeblasenen kirchlichen Reich Christi, was Hitler nicht weiter kratzt, zu denen hin, die der Kirche längst schon den Rücken zugekehrt haben, entspricht zutiefst dem Missionsbefehl Jesu, in alle Welt zu gehen und nicht im eigenen Saft zu schmoren und schwurbeln mit Sprachgeräuschen, denen jegliche Evidenz fernliegt.

Man kann umgekehrt fast sagen, das etsi deus non daretur ist eine Arbeitshypothese, um als zuhöchst dem Himmel zugewandter Halbheiliger etwas mehr Kontakt zu bekommen zu den Menschen, die der Kirche mit ihrem Kanzelgeschwurbel munter weglaufen. Und diese Kirchenverdrossenheit hat er mit seiner Religionslosigkeit-These gut erfaßt, nicht ahnend, welches breite Arsenal an alternativen spirituellen Clubs in die entstehende Marktlücke der religiösen Grundversorgung einwandert. Und nicht ahnend, wie mit den Gastarbeitern und Flüchtlingen heute der Islam eine schier mittelalterliche Religionsform importiert, die äußerst diesseitig heilige Kriege im Gepäck hat. Es war ein Ideal des aufklärerischen Bürgertums, Religionen kritisch zu reflektieren und mündig zu werden durch eine vernünftige Bildung. Dieser Trend ist inzwischen fast rückläufig: deutsche Schulen können die Menge der Migrantenkinder nicht mehr bewältigen, die mit islamischer Erziehung und Sprachproblemen die religiöse Weltsicht neu aufleben lassen. Innerhalb des Kirchen ist die Phase des Mündigwerdens ebenfalls gescheitert und religionsloses Christentum wäre nur bei Verlassen des institutionellen Rahmens der Kirchen möglich. Innerhalb der Kirchen obsiegt inzwischen eine Rückkehr zu einem beeindruckenden Konservativismus.

Politische Weltverantwortung – kirchliches Schweigen

„Hat es einen Sinn, mich für alles, was in der Welt geschieht, verantwortlich zu halten oder kann ich dem großen Geschehen in der Welt als unbeteiligter Zuschauer gegenüberstehen, wenn nur mein eigener winziger Bereich in Ordnung ist. Soll ich mich in ohnmächtigem Eifer gegen alles Unrecht, alles Elend, das es in der Welt gibt, aufreiben lassen, oder darf ich in selbstzufriedener Sicherheit die böse Welt ihrem Lauf überlassen“?[21] Die Nächstenliebe gilt in einer globalisierten Welt auch denen, auf deren Kosten wir reich geworden sind und die wir mit direkter kolonialer und imperialistischer Gewalt und dann mit struktureller Gewalt des ungleichen Tausches ausgebeutet haben. Die Greueltaten des Kolonialismus von deutschem Boden aus waren zur Nazizeit noch kaum bekannt.

Bonhoeffer sieht aber die Feigheit innerhalb der Bekennenden Kirche: „Im deutschen Kirchenkampf hat oft genug ein Pfarrer sich geweigert, zu der Not der Brüder und der Verfolgten aller Art in öffentlicher Verantwortung Stellung zu nehmen, eben weil seine eigene Gemeinde noch nicht selbst davon betroffen war, und das nicht aus Feigheit und mangelnder Einsatzbereitschaft, sondern allein darum, weil er hierin eine unerlaubte Überschreitung des ihm gegebenen Berufes sah, für seine Gemeinde in ihren konkreten Nöten und Anfechtungen einzustehen.“[22] Von dieser Haltung, nicht über den Rand der eigenen Parochie zu linsen, ist unsere Kirche immer noch durchwaltet. Bonhoeffer wurde nach 1945 lange Jahre als zu Recht Ausgemerzter in Kirchenkreisen gehandelt; das zeigt, wie „deutsch“ die Christen der angeblich Bekennenden Kirche in Wahrheit damals waren. Es ist sicherlich ein vorgeschobenes Argument der bekennenden Pfarrerschaft gewesen, mit Rücksicht auf ihre Gemeinde zu schweigen zu Naziterror. Daß man als „Christ“ einfach nur feige ist, Gehaltminderung oder Diffamierungen nicht riskieren will, wollte ungern jemand zugeben. Dabei hätte man von Gethsemane doch auch das Recht auf Feigheit lernen können. Jesus wollte, daß der Kelch des Heils in Gestalt des Kreuzestodes an ihm vorübergehe. Der islamische Selbstmordattentäter ist da ganz anders begeisterter Gotteskrieger.

Dagegen ist Bonhoeffers Ethik bisweilen fast revolutionär, bei aller Einbettung ins Luthertum. Es bleibt ein provokativer Satz bis heute, wenn er die Durchbrechung des Gesetzes als wahre Heiligung des Gesetzes pointiert, in aller damit aufgenommenen Schuld, die ja ebenso bei der Einhaltung des Gesetzes bestünde, nur in anderer Form.[23]

Grund all dieser antifaschistischen Überlegungen Bonhoeffers bleibt die lockere Art Jesu, um der Nächstenliebe willen zentrale jüdische Gebote zu durchbrechen. Ein Sabbat, an dem ein Mensch von seinem Leid geheilt werden kann, ist ein Sabbat, an dem Gottes Heilswillen zum Zuge kommt und darin und damit bedeutet er die Heiligung gemäß dem 3. Gebot. Heiligung heißt also: den ursprünglichen Willen Gottes als eigentliche Intention des Gesetzes zu erkennen und ins Werk zu setzen. Der Wille des Gesetzgebers war immer, das Zusammenleben zu erleichtern und Konflikte zu lösen. So hat Jesus die Tora als Weisungen für die Liebe untereinander begriffen und gelebt und sich bewußt dafür entschieden, im Verständnis des traditionellen Judentums, besonders in seiner pharisäischen Interpretation, schuldig zu werden. Er war deshalb niemals sündlos, sondern hat aus Verantwortung und Liebe zu den am meisten Leidenden Schuld auf sich genommen.

Bonhoeffers letzte Texte seiner Ethik sind durchsäuert von Vokabeln der Macht und Herrschaft. Gott ist der Befehlshaber von oben, dessen Anordnungen durch die Christusoffenbarung unbedingt zu befolgen seien. Oben ist Gott, unten der NS-Staat mit seinem Führer.[24] Jesu Wort Mk 10,43 von der Umkehrung der Herrschaft als Dienen, bei Barth in herrschaftsfreier Bruderschaft (Frauen kommen nicht vor…) in Barmen IV[25] gepriesen, wird in der „Ethik“ als Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus dem Himmel gesendet dargestellt. Immer wieder obsiegt der Katabasis-Hymnus von Phil 2,6ff, den der Johannesprolog modifiziert mit der Logos-Dekadenz.

Den protestantischen Verlust des Beichtstuhles als flächendeckende Kontrolle des Priesters über seine Gläubigen beklagt Bonhoeffer.[26] Der Beichtstuhl ist doch kaum mehr als Herzenserforschung in Gestapo-ähnlicher Kirchenzucht. Das alte Denken vom Pfarrer, der moralisch seine Schäfchen im Griff hat und moralischer Herr der Gemeinde ist, darin Abschattung des päpstlichen Pontifex-Gehabes, war die beste ideologische Absicherung für klerikale Triebtäter. Keiner wagte, diesem Herrn die Leviten zu lesen, auch wenn Gerüchte über seine „Kinderliebe“ kursierten. Die Stipulierung des Priesters zur kirchlichen Obrigkeit schützte ihn vor jeder Kritik. Bonhoeffer konnte sich solche Exzesse von Amtsbrüdern nicht vorstellen. Die eigene Erziehung zur Untadeligkeit und Arkandisziplin ließen für die Wahrnehmung der Ferkelei in der kirchlichen Chefetage keinen Raum.

Bonhoeffer schwimmt im Fahrwasser von Barmen, dem Produkt eines Machtkampfes, in dem sich Barth gegen diverse Widerstände durchgesetzt hatte. Gerade im Mandatskapitel der Ethik fließt die 5. These von Barmen ein: „Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an.“ Die Wohltat des Nazisregimes ist bekannt. Angesichts der 50 Millionen Opfer des nach göttlicher Anordnung für Recht und Frieden sorgenden Staates sind Barths Überbietungsversuche des Führerkultes durch einen noch größeren ganz anderen Gott pubertäres Blankziehen, zahnloses Säbelrasseln. Es wird mit faschistischer Terminologie, Wörtern wie Gehorsam, Gebot, Obrigkeit, Ermächtigung, göttliches Mandat, klares Oben und Unten unterfüttert. Wenn der fußwaschende Jesus gehört hätte, wie sein bewußter Verzicht auf Macht von Barth zu einer Überbietung Hitlers durch himmlische Einsatzbefehle pervertiert wurde, er hätte nach seinem Weinen über Jerusalem auch über diesen von totaler Angst vor den Nazis geprägten „Kirchenkampf“ im Stile Barths geweint. Die Antwort der Ethik auf die Weltverantwortung der Kirche als Leib Christi, als „Stätte der Gegenwart Jesu Christi“[27] ist letztlich eben nicht das Hineinwirken in die Welt, sondern der Ruf in die Gemeinde hinein: „Es ist die Eigenart der Kirche als eines eigenen Gemeinwesens, daß sie in der Umgrenztheit ihres eigenen geistigen und materiellen Bereiches die Unbegrenztheit der Christusbotschaft zum Ausdruck bringt und daß gerade die Unbegrenztheit der Christusbotschaft wieder in die Begrenztheit der Gemeinde hineinruft.“[28] Da ist kein Gedanke an mehr Protest gegen Hitlers Kriege, sondern stattdessen der Aufruf zu einer echten Kirchenzucht mit Zuchtübungen wie geistliche Exerzitien, Askese, Meditation und Kontemplation.[29] Bonhoeffer sieht immerhin „die erschreckende Ratlosigkeit oder Überheblichkeit unzähliger evangelischer Christen angesichts von christlichen Eidesverweigerern, Kriegsdienstverweigerern usw.“[30] Solche mutigen Oppositionellen verloren nicht nur ihren Kopf durch die Hinrichtung, sondern auch noch die Anerkennung ihrer Jesustreue in der Nachfolge seiner Gewaltlosigkeit. Es bleibt ein Rätsel, wie Bonhoeffer Mitte 1941 nach Hitlers Angriffskriegen im Osten noch von einem göttlichen Charakter der Obrigkeit sprechen kann.[31] Zur politischen Verantwortung der Kirche schreibt er: „Dabei ist die Absicht des Predigers nicht, die Welt zu verbessern, sondern zum Glauben an Jesus Christus zu rufen, die Versöhnung durch ihn und seine Herrschaft zu bezeugen. Nicht die Schlechtigkeit der Welt, sondern die Gnade Jesu Christi ist das Thema der Verkündigung.“[32] Hört der NS-Staat schon nicht auf kirchliche Friedensempfehlungen, soll die Kirche wenigstens intern „die Ordnung der äußeren Gerechtigkeit, die in der Polis nicht mehr vorhanden ist, wenigstens unter ihren eigenen Gliedern herstell“en und bewahren und so „der Obrigkeit in ihrer Weise dien“en.[33] Es läuft alles auf Nichteinmischung der Kirche in Hitlers Machenschaften hinaus mit einem etwas nebulösen Aufruf, hinter verschlossenen Kirchentüren Jesus als Herrn zu verehren und ansonsten die Klappe zu halten. Das ist Überlebensstrategie in den Anfechtungen des „Unten“, bei der es darum geht, „in jeder gegebenen Form dem faktisch von Gott her gesetzten Verhältnis konkret Raum zu geben und die Entwicklung dem Herrn über Obrigkeit und Kirche zu überlassen.“[34] Wie gut Gott die Entwicklung des Holocaust bemeistert hat, wissen wir. In diesen Ergüssen nach Barmer Strickmuster verabschiedet sich Bonhoeffer von der christlichen Weltverantwortung, indem er das Geschick des Staates der Allmacht Gottes überläßt und damit den Einflüssen des Jenseits Gottes, der wohl als „ganz anderer“ den Naziterror erledigen kann. Zu solchen Sätzen will einfach nicht passen, daß Bonhoeffer sich am Mordversuch gegen Hitler mittelbar beteiligt hat, indem er mit England Pläne für das Eingreifen in Deutschland nach einem erfolgreichen Ausmerzen des Diktators schmieden wollte, was Churchill gar nicht ernst nehmen konnte. Das primäre Motiv, als Geheimagent Hitlers zu arbeiten, war, daß Bonhoeffer damit nicht mehr als Frontsoldat der dort drohenden Vernichtung ausgesetzt war. Erst später ergab sich die Perspektive der Doppelagentenschaft in der Verschwörung gegen den Führer.

Zur Frage des Offenbarungspositivismus Barths

Die Abstraktheit der systematischen Theologie, die behauptet, Jesus sei das eine Wort Gottes, ist diesem einen Wort Gottes, nämlich Jesus, der nie abstrakt sprach, sondern immer situativ und äußerst konkret, in keiner Weise angemessen. Selbstbefriedigt schiebt sich in der systematischen Theologie eine im Lauf der Jahrhunderte konstruierte begriffliche Ordnung vor ihren „Gegenstand“, nämlich die Lebensart Jesu und das, was er in bestimmten Situationen gesagt hat. Jesus war immer konkret. Er hat als Rabbi selten abstrakt doziert, sondern auf seine(n) Nächsten zu gesprochen. Die Dogmata als reines Meinen und Dafürhalten, dokei=n heißt ja „scheinen, den Anschein haben“, sind im Lauf der Jahrhunderte vom Vermutungswesen zu religiösen Tatsachenbehauptungen avanciert. Im Werk Barths kann man diese Verfestigung von Vermutungen zu Behauptungen über das Sein Gottes in nuce verfolgen. Barth hebt an im Johannesprolog mit dem Himmelsgott und seinem Logos, den er in die Finsternis dieser Welt schickt als Erleuchtung. Barth transportiert mit dieser gnostischen Kritik der verdorbenen Welt den fundamentalen Gegensatz von Gott mit seinem einen Wort Jesus und der nachweislich sehr unfriedlichen und ungerechten Welt. Jesus als Gesellschaftskritiker und Kämpfer für Gerechtigkeit und Gnade ist mit den Propheten des AT die entscheidende Stimme Gottes. Dabei wird Jesus auf ein Wort reduziert, im Grunde eine Frechheit einem Menschen gegenüber.

„Barth hat als erster Theologe - und das bleibt sein ganz großes Verdienst - die Kritik der Religion begonnen, aber er hat dann an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: »friß, Vogel, oder stirb«; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und -notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muß oder gar nicht. Das ist nicht biblisch. Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h. es muß eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung geschützt werden. Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er letztlich ein Gesetz des Glaubens aufrichtet und indem er das, was eine Gabe für uns ist - durch die Fleischwerdung Christi! -, zerreißt.“[35]

Bonhoeffer kritisiert seinen Mitstreiter Barth für dessen „Offenbarungspositivismus“.  „Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefaßt, versöhnt und erneuert wird, geht es doch. Was über diese Welt hinaus ist, will im Evangelium für diese Welt da sein; ich meine das nicht in dem anthropozentrischen Sinne der liberalen, mystischen, pietistischen, ethischen Theologie, sondern in dem biblischen Sinne der Schöpfung und der Inkarnation, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi.“[36] Nicht jedes Dogma hat die gleiche Relevanz und keinem darf man den Glauben absprechen, wenn er/sie diesen Rahmen spätantiker Wundergläubigkeit nicht mitzuglauben bereit ist, weil er nach all unserer wissenschaftlichen Erfahrung falsch und unhaltbar ist.

Damit eröffnet Bonhoeffer das Programm der bestimmten Negation der Dogmatik, also bestimmte Sätze des Credo nicht mehr mitzusprechen.  Am ehesten so, daß er Gott und Gnade, Versöhnung usw. nicht mehr als etwas faktisch Gegebenes wie eine Kirchenbank verstehen will, über die man munter schwadronieren kann, sondern etwas, was man in seiner eigenen unmittelbaren Lebenserfahrung erleben und erschließen können muß, weil nur dort der Ort des Erkennens ist, also sehr phänomenologisch: quasi verifiziert im Hier und Jetzt. Barths Religionskritik als ein universales menschliches Begreifenwollen komplexer Phänomene durch mythische Simplifikationen ist auch eine Absage an die wachsende Entdeckung von Religionen weltweit durch Religionswissenschaften, Anthropologie und Völkerkunde im Gefolge des Kolonialismus. Angesichts der Fülle religiöser Weltbewältigung bei Naturvölkern wird der Charakter der europäischen Kirchenlandschaften als kommensurable Größe, also als auch nicht viel mehr und besser als diese indigenen Religionen, immer deutlicher und die mythischen und magischen Praktiken der Kirchen klarer durchschaubar wie die Kirchenfenster und christlichen Bilder, die der reformierten Kirche von Anbeginn suspekt waren. Barth will vom Bimbrorium zum Eigentlichen des Christentums und sieht solus christus, sola scriptura als etwas ganz anderes, als Umkehrung der religiösen Göttermacherei im Stil des goldenen Stiers: Anders als alle anderen Religionen hat im Christentum Gott gehandelt und sich sein Volk erwählt und seinen Sohn als letztgültige Bekundung seines Liebeswillens gesandt. Dem nachzufolgen entstand durch Gottes Geist die Kirche und sie ist das komplette Gegenteil aller anderen Religionen, nämlich von Gott eingesetzt.  „An der Stelle der Religion steht nun die Kirche - das ist an sich biblisch -, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich selbst gestellt und sich selbst überlassen, das ist der Fehler. Ich denke augenblicklich darüber nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung »weltlich« - im alttestamentlichen Sinne und im Sinne von Joh. 1, 14 — umzuinterpretieren sind.“[37] Bonhoeffer gibt sich nicht mit der Besch(n)eidung der Kirche auf eine vom Staat geduldete fromme Gemeinde innerhalb der Bürgergemeinde des Staates zufrieden. Fleischwerdung Christi war niemals gemeint als Deckungsgleichheit von Kirche und Leib Christi, sondern hatte immer den Anspruch der Weltwirksamkeit, des Durchsäuerns der Welt mit dem Geist der Versöhnung, die die Welt zur Buße treibt, zur Abkehr von Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung. Das war die Arbeit der alttestamentlichen Propheten, den Vorläufern einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Kirche darf sich nicht raushalten aus der Politik, sondern ist immer schon politisch in ihrem Schweigen zum Unrecht in der Welt. Fürbitten sind da nicht genug, wenn sie nicht zum Skandalon führen, zum Anecken der Kirche.

Geheimnis und Verschwiegenheit

Was Bonhoeffer mit Geheimnis meint, ist vielleicht dies: Mit Joh 1,14: sa/rc e)ge/neto, will das „eine Wort Gottes“ eben gerade nicht als Wort lediglich nur vernommen werden wie die Nachrichten aus dem Radio, sondern es geht über den Informationscharakter des Wortes zum Fleisch des Menschen Jesus, dessen erzähltes Leben in einer tiefen Übertragung von Praxisfiguren[38] etwas in den Hörern auslöst, ihre Herzen und Sinne bewegt, sie in einen Bann der Bewunderung dieser einfachen und oft nahezu wortkargen Handlungsweisen Jesu zieht. Seine Barmherzigkeit, Aufrichtigkeit und Klarheit sickern in die Hörer ein und lösen Lust zur Mimesis aus, damals bei seinen Schülern wie heute bei solchen Menschen wie Bonhoeffer. Dieser Effekt ist wissenschaftlich nachvollziehbar als Prozeß des szenischen Verstehens Jesu bei der individuellen psychischen Strukturbildung. Und so vieles aus diesen Briefen ist genau dieser Versuch, die eigene Situation im Knast als Erkenntnisgrundlage für das Sein oder Nichtsein Gottes zu begreifen und die Bibel nur als Fingerzeige für diese Wahrnehmung der eigenen Unmittelbarkeit zu nutzen, als Deutungsfolie der Gegenwart des gemeinsamen Leidens in den vielen Gefängniszellen.

Was meint Bonhoeffer mit seinem Satz: „es muß eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung geschützt werden.“? Mit Profanierung meint er doch wohl in Kritik an Barth dessen stereotypes und redundantes Gesabbel vom einen Wort Gottes namens Jesus Christus mit sämtlichen Features des Credo, die er ständig und pausenlos nachbetet. Demgegenüber hat Bonhoeffer seinen Weg der Nachfolge über die Mithilfe am geplanten Hitlerattentat als ein Handeln mit dem Risiko des Erwischtwerdens und dann auch Hingerichtetwerdens gestaltet als eine praktische Teilhabe am Leiden Jesu, des Tempelreinigers. Es war bereit, für das Ende des Naziterrors zu sterben. Das ist nochmal eine andere Nummer als schön dicke Bücher zu schreiben wie Barth.

Die Arkandisziplin ist der springende Punkt, der wie ein Ostinato des Lebens die Haltung Bonhoeffers prägt. In der gesamten Bonhoeffer-Familie wurde nie über eigene Befindlichkeiten und Gefühle gesprochen. Je tiefer das Gefühl, desto strikter das Schweigen. Über die tiefste innigste Faszination des Glaubenden an Jesus zu reden ist wie ein Verrat, ein Ausplaudern. In dieser Intimität des Glaubens, die wir in den Briefen miterleben dürfen, ist es leichter, über Todesangst zu reden, als über dieses "Ich will dich mit Fleiß bewahren" der Nachfolge. „Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?“[39] Für Bonhoeffer war die Leidensnachfolge der teils gewählte, teils widerfahrene Weg seines Lebens geworden. Genau das meint er mit dem Satz, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit glauben lernt. Es ist eine Sache, beschwingt über den redenden Gott und den angesprochenen Menschen und ihre qualitative Differenz zu schwadronieren[40], eine andere, den Weg Jesu ans Kreuz mit seinem eigenen Leben mitzugehen, von beiden nicht gewollt und beiden war ihre Mission wichtiger als die ängstliche Vermeidung jedweden Risikos, die die hohe Lebenserwartung von Geistlichen aller Couleur recht passabel aussehen läßt. Diese sehr pragmatische Entscheidung zur Kollaboration gegen Hitler mit möglicher Todesfolge war eine Heiligung des Gesetzes durch seine Übertretung, in dialektischer Manier seiner Ethik gesprochen. Und es war der Eintritt in eine gegenüber der emotionalen Verschlossenheit der Bonhoeffer-Familie noch einmal umso striktere Arkanität, in der ein unbedachtes Wort den Tod eines Mitstreiters zur Folge haben konnte. Aus dieser Position heraus mit einer fast übermenschlichen Verantwortung für das Geschick Deutschlands und Europas, die aus dem Wunsch der Nachfolge Jesu geboren war, bedeutete das Kreuz Jesu etwas ganz anderes als eine Barthsche Heilstatsache. Während jene nur leeres Gerede ist, war für Bonhoeffer der Kreuzesweg Jesu zum eigenen Lebensweg geworden, er lebte diesen Weg, statt vollmundig – wie ich gerade – darüber zu fabulieren.

Er kritisiert den kirchlichen Heilsegoismus und die von Luther beförderte Focussierung auf einen für mich gnädigen Gott. „Gibt es im Alten Testament die Frage nach dem Seelenheil überhaupt? Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem?“[41] Damit sind die kirchlichen Passageriten Taufe, Konfirmation, Abendmahl, Trauung und Beerdigung, die allesamt ausgerichtet sind auf das Heil und die Segnung des Einzelnen in seinem Intimverhältnis zu seinem metaphysischen Gott in dessen himmlischen Gefilden brüchig geworden. Das Reich Gottes, die alttestamentliche Theokratie war immer auf das Ziel einer alle Menschen umfassenden sozialen Gerechtigkeit ausgerichtet und Schalom ist ein die Leiblichkeit aller umfassender Friedensbegriff, das Bild universalen Wohlergehens des Leibes und so dann auch der Seele. Diesseitigkeit zielt auf den Leib der Menschen. Im Leib wird Gottes Heil erfahren. Es ist bezeichnend, daß Bonhoeffer diese Einsicht in einer Situation entwickelt, in der sein Leib in äußerster Einschränkung gefangengehalten wird und im Deutschen Reich Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird.

Genau hier kommt ihm die Einsicht des weltlichen Auftrags der Kirche in der Nachfolge Jesu: Kirche für andere werden impliziert, die eigenen finanziellen Mittel für die Ärmsten der Gesellschaft einzusetzen und nicht für die Erhaltung des schönen Scheins der Gebäude und ihrer Bediensteten. „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muß sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, »für andere dazusein«. Speziell wird unsere Kirche den Lastern der Hybris, der Anbetung der Kraft und des Neides und des Illusionismus als den Wurzeln alles Übels entgegentreten müssen. Sie wird von Maß, Echtheit, Vertrauen, Treue, Stetigkeit, Geduld, Zucht, Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit sprechen müssen.“[42] Ein Blick in den Vatikan illustriert, wie weit dieses monastische Programm zu der kirchlichen Obrigkeit vorgedrungen ist.

Diesseitigkeit im Gemeindeleben der Kirche

Diesseitigkeit des Glaubens als Leben in der Fülle der Aufgaben, Erfolge und Mißerfolge, Teilnahme am Leid der Menschen ist doch eigentlich die seelsorgerliche pastorale Arbeit. In meiner Vikar-Ausbildung wurde noch Gemeindeaufbau gelehrt und die Fülle der Veranstaltungen als Markenzeichen guter Arbeit eines Pfarrers angemahnt. Damit wird Kirche zum Selbstzweck und ihre organisatorische Konsolidierung und Finanzierung das entscheidende Ziel von Gemeindearbeit. Mit Nachfolge hat das nichts mehr zu tun. Es ist eine Flucht vor den Nöten der Menschen in eine heile Gegenwelt der Kirche, die dann durch gottesdienstliche Inszenierungen mit Texten und Musik Trost spendet. Dieser Trost besteht im Organisieren von Oasen der Geborgenheit in einer Gruppe Gleichgesinnter mit Bezug auf Jesus. Das ist mit Agape-Mahlzeiten statt Eucharistie als lediglich symbolische Mahlgemeinschaft durchaus wichtig. Es gibt innerhalb der Kirche zahlreiche Initiativen, die regelmäßig von unten kommen, nie aus den Kirchenämtern, wo die Idee einer Kirche für andere gestaltet wird. Je höher die Hierarchie in der Kirche, desto üblere Exzesse und Schmähungen Jesu prägen das Bild, von Tebarz van Elst bis zu Kurienkardinälen mit Vatikanwohnungen zwischen 400 und 650 qm Fläche und immensen Heizkosten, die das Kirchenvolk durch seine Steuern bezahlen muß. Daß ca. 7% der Priester Kinder mißbrauchen und ca. 30% der Homoerotik frönen, gerade auch im Vatikan selbst, der öffentlich all dies verurteilt, ist die andere Seite der Dialektik, die zur Beschleunigung der Kirchenaustritte als Spätfolge des Zölibats dient. Zu Bonhoeffers Lebenszeit kam noch die Begrüßung des Führers in den höchsten Tönen hinzu und in allen Diktaturen hat die katholische Kirche stets die innigsten Kontakte zu den faschistischen Machthabern gepflegt und Leute wie Putin suchen 2022 zielsicher Kyrill, den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, als Segnungstrottel für den verbrecherischen Krieg.

Hoffnung auf Heiligung der Kirche kommt immer nur von unten im Aufstand gegen die bürokratische Institution, die bei genügend Intelligenz dann und wann nach langem Gerangel aufspringt auf die unabweisbare Plausibilität einer Jesus-Nähe der kirchlichen Initiativgruppen.

Die Suppenküchen, die aus kirchlichen Initiativen überall entstanden sind, sind Nachfolge Jesu im Stile seiner Massenspeisungen. So nimmt Nachfolge Jesu Gestalt an: im Hinausgehen in die sozialen Brennpunkte und Kontakt aufnehmen mit den Opfern unserer Gesellschaften angesichts der wachsenden Schere zwischen Reich und Arm.

Vorwiegend werden im Gottesdienst die Werte und Worte der bürgerlichen Mittelschichten bedient, alles andere ist schon lange hinausgeekelt. Es bleibt ein gewisser Kulturprotestantismus, der bestenfalls Lobpreis und Information über biblische Narrationen ist, aber das Tun des Gerechten der privaten Initiative einzelner Gemeindeglieder überläßt. Immerhin gibt es Misereor und Brot für die Welt als Teilnahme am Hunger weltweit, als „Kirche für andere“. Die Kirchensteuerschwünde zwingen die Institution zum Sparen, die Zahl der Gottesdienste nimmt ab, Kirchen werden nicht mehr beheizt im Winter, die Gesundschrumpfung ist gut angelaufen. Die Menschen zeigen den Kirchen die rote Karte und die Besitzstandswahrung führt katholischerseits zur Einmottung ins Überkommene und höchst selten auch zum Hinausgehen in die Welt, die von Jesus nichts mehr hören will, weil er nicht als Hilfe erfahrbar gemacht wurde und wird oder die staatliche Hilfe inzwischen effektiver diesen Bereich abdeckt. Die kirchliche Sozialarbeit ist sporadisch wirklich für die Armen hilfreich. Die Kirchen haben fulminant ihre Glaubwürdigkeit verspielt, sie sind ein Teil der permanenten Passion Jesu geworden, auf Dauer gestellte zusätzliche Hinrichtungsstätten ihres angeblichen Herrn.

Jesus hat keine Gottesdienste gefeiert und nicht gepredigt. Er hat aphoristische knappe Bemerkungen und Kommentare zu dem aktuell Erlebten und Getanen gemacht, sein Handlung begründet und verständlich gemacht und dazu auch Gleichnisse erzählt, um den ethischen Kodex des himmlischen Vaters zu illustrieren, nach dem er sein Handeln ausrichtete. Das ist Jesu Diesseitigkeit, sein heilend-helfender Kontakt zu den Beladenen und in prekären Verhältnissen Lebenden. Er hat sich die Hände schmutzig gemacht. Wenn heute ein Papst Flüchtlingen die Füße wäscht, sind sie sicherlich vorher bereits von einer Meute Bediensteter gewaschen und desinfiziert worden. Bonhoeffer hat sich für die Ausmerzung Hitlers engagiert, was bei Barth auf Ablehnung stieß. Jesus schwang die Peitsche im Tempel gegen die Händler, die Vorläufer der Schlachthaus-Industrie. Die Diesseitigkeit ist kein Eiapopeia im Stile eines Tebarz van Elst mit seinen egomanischen Protzbauten. Sie hat mit schmutzigen Händen zu tun, ora et labora, die Drecksarbeit ist bereits das volle Gebet. Das Lob Gottes wird sachgemäß geheiligt durch Drecksarbeit im Stil der Tagelöhner aus Jesu Gleichnissen. Das, was in kirchlichen Kreisen unter Gotteslob verstanden wird, das Absingen vollbusiger Gesänge, ist nur Kulturindustrie und Erquickung religiöser Konsumenten, ist reiner Spaß an der Vollmundigkeit und Musik. Das Lob Gottes geht anders, es findet seinen Ort nicht in Kirchen, sondern in den Gassen der Slums und überall dort, wo Menschen auferstehen gegen Unrecht.

 

Ökologische Weltverantwortung der Christenheit

Der lutherische usus elenchticus legis, an den von Jesus her gebotenen Maßnahmen-Erfordernissen für eine lebenswerte und dem Reich Gottes offene Biosphäre dieses Planeten zu erkennen, wie weit wir von diesen Zielen des Pariser Klima-Abkommens noch entfernt sind und somit äußerste Anstrengungen zu unternehmen haben zur Bewahrung der Schöpfung, bedeutet im Bonhoefferschen Konzept der Kirche für andere, daß die Kirche ihre sündhaften Versäumnisse bei der Mahnung und Warnung der Politik und Wirtschaft sträflich vernachlässigt hat und sich wenigstens erstmal dessen bewußt wird. Im zweiten Schritt heißt es dann: Handeln, also usus politicus. Eine Kirche, die schweigt zur Klimakatastrophe, versündigt sich gegen den angeblichen Herrn der Welt, den sie in ihren Gottesdiensten unentwegt anruft. Wie aber kann Kirche nicht nur für die Juden schreien, um gregorianisch singen zu dürfen, sondern auch für die Energiewende und gegen Kriege und soziales Unrecht?

Der bürgerliche Ungehorsam bleibt auch heute ein virulentes Thema angesichts der Erderwärmung mit tödlichen Folgen für Millionen Menschen und Tiere in den armen Ländern. Und wieder hat nicht die Kirche bei der Bewahrung der Schöpfung die Nase vorn, sondern Greenpeace, BUND, Friday for Future und viele kleinere Gruppen. Fast findet man inzwischen in der Industrie mehr Ökoaktivisten als auf den Kanzeln.

Nachdem die Grünen ab März 2022 zu den heftigsten Kriegstreibern im Ukrainekrieg geworden sind und damit der CDU und FDP als den klassischen Hardlinern den Rang ablaufen, hört man aus kirchlichen Verlautbarungen selten einmal eine Stimme gegen Waffenlieferungen. Die katholischen Bischöfe halten die Lieferung von Angriffswaffen für gerechtfertigt, passend zum Votum gegen Abtreibung. Ist letzteres Mord, so ersteres der gerechte Krieg gegen die russisch-kommunistischen Antichristen. Auch die Ratsvorsitzende der EKD unterstützt die Bundesregierung bei der Lieferung des Leopard 2 und weiterer Angriffswaffen, bald werden sicherlich auch Flugzeuge geliefert und ich möchte nach 5 Jahren gerne resümieren, was all diese Maßnahmen geholfen haben. 70% der Deutschen sind inzwischen nach anfänglichem Zaudern durch die Indoktrination der deutschen Medienpropaganda weichgeworden und nur 61% finden Klimaschutz wichtig, der Mechanismus ist ähnlich wie damals bei Goebbels.

Man hört in Kirchen nichts zur Verlängerung der AKW-Laufzeit und zum Braunkohle-Abbau. Man hört nichts zu der kriegstreibenden „freien“ deutschen Presse, die die Regierung nachgerade vor sich hertreibt in die Mitbeteiligung am Morden im Osten. Der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer, Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist auf weiter Strecke der einzige, der sich gegen Rüstungsexporte stellt und wird dafür auf das übelste attackiert. Dieser Abnutzungskrieg kurbelt die Rüstungsproduktion an und wird für diese Industriezweige zu einem Bombengeschäft. Die Stimmung zum Kriegsführung gegen Putin, der seine Bürger verheizt an der Ostfront der Ukraine, ist vergleichbar mit der Aufbruchstimmung im 3. Reich. Die Drohung vom Kreml, vor Atomwaffen nicht mehr zurückzuschrecken, wird hierzulande als harmloses Säbelrasseln eingeschätzt. Wie lange dies noch gilt, wird sich zeigen. Wie unbekümmert hier mit dem Tod gespielt wird, ist beispiellos. Die Idee, die Ukraine müsse erst Donbas und Krim zurückerobern, Regionen, die sie vor 2013 verarmen ließ, um dann an den Verhandlungstisch mit Rußland zurückzukehren, geht über unzählige Leichen auf beiden Seiten und ist militärstrategisch umstritten bis obsolet, was die Zukunft zeigen wird. Hinter dieser Idee steht vor allem das geopolitische Interesse der USA, ihren Nato-Vormarsch in diesem exportierten Krieg zu einem Zangengriff gegen Rußland auszuweiten. Dabei hat die USA selbst keine eigenen Verluste und investiert nicht allzuviel an Waffen.

Die Involvierung in diesen verdeckten Nato-Eroberungskrieg, der schon weit vor 2014 begonnen hatte, hat in Deutschland die Fokussierung auf den Klimawandel komplett in den Hintergrund getrieben. Zugleich ergeben sich daraus Streueffekte, die Energiesparen finanziell attraktiver machen. Hier könnte die Not tugendhaft machen. Die diabolische Dialektik ist aber, daß die größten Energieverschwender so reich sind, daß für sie energetische Sanierung von Wohnungen immer noch nicht interessant ist, obwohl sie das Geld hätten. Die Armen haben zwar die bauphysikalisch kalten Wohnungen, aber kein Geld, um sie zu dämmen. Zudem ist ihnen der Zusammenhang von Dämmung mit Erderwärmung und Umweltkatastrophen, Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen nicht evident aufgrund mangelnder Bildung.

Hier könnte und müßte die Kirche, wo sie überhaupt noch Menschen erreicht, mitwirken und erklären, wie das Evangelium der Fürsorge für diesen Planeten von uns fordert, alle nötigen Arbeiten zur Vermeidung von CO2-Emissionen ins Werk zu setzen. Es sind noch ca. 10 Jahre, die uns bleiben, um drastische Veränderungen zu bewältigen vor dem Kipp-Punkt des Klimas. Das muß die Kirche verpflichten, alles Erdenkliche an ökologischen Aktivitäten von Bildung über Baumaßnahmen bis zu Projekten in Partnergemeinden der 3. Welt zu initiieren, um diesen Niedergang des Globus zu verhindern. Es passiert fast nichts.

Aber es gibt vereinzelte kirchliche Aktivitäten für mehr Umweltschutz. Es sind einzelne Pfarrer und Gemeindeglieder, die sich dafür stark machen. Die Mehrzahl der Gemeinden aber ist „zurückhaltend“ wie immer, wenn es nicht nur um Verkündigung geht.

Wo sie unauffällig sind, stehen schon einige Solarmodule auf Kirchendächern. Das wäre ein gutes Zeichen für den ökologischen Aufbruch, der Christum treibet. Nämlich die Fürsorge für die Opfer unserer verschlafenen Energiewende.

Die Kirche redet von der Eschatologie, der Zukunft Gottes. Das könnte als Zukunftswerkstatt im Fahrwasser Jesu ihre letzte Chance werden vor dem völligen Abdriften in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Vergleicht man aber diese vereinzelten Initiativen mit den riesigen Solarfeldern Holsteinischer Bauernhöfe, so ist dies ein gutgemeinter Anfang, der kaum mehr als Symbolfunktion hat und gerade mal die Gemeinderäume erhellt.

Ein ökonomischer Faktor indes spielt der mangelhaften ökologischen Bewußtheit der Kirchen in die Hände: die Heizkosten gerade für das Aufheizen einer Kirche zum Sonntagsgottesdienst sind jährlich fast so hoch wie ein Pfarrergehalt. Die Verknappung der Finanzen durch die boomenden Kirchenaustritte im Gefolge der Kindesmißbrauchs durch Priester affiziert auch die evangelische Kirche fast in gleichem Maße und sorgt für die Motivation, das Geld nicht durch Kirchenheizung zu verschleudern, in die immer weniger Menschen gehen, Tendenz Richtung Hauskreis-Größe. Da reicht bald eine Ladenkirche vollkommen aus. Nur in reichen Gemeinden mit hohem Anteil gut bürgerlich Gebildeter ist der Gottesdienstbesuch noch höher. Das spiegelt den faktischen Kulturprotestantismus und die Allianz von Kirche und den Reichen der Gesellschaft wieder. Gerade diese Kreise sind zwar ökologisch informiert und in Umfragen verbal für Klimaschutz, aber bleiben in ihrem Lebensformen auf einem signifikant hohen ökologischen Fußabdruck, sie fliegen um die Welt oder wenigstens nach Teneriffa, Gomera und Südamerika. Sie haben gemeinsam mit dem Klerus, öffentlich Wasser zu predigen, aber heimlich Wein zu trinken und das in Dimensionen einer Alkoholikerin.

Von den depravierten Unterschichten wiederum ist auch keine umwälzende Kraft zu erwarten, außer daß sie finanziell kaum Möglichkeit haben, Energie zu verschwenden und so einen aus Not geborenen kleinen ökologischen Fußabdruck haben. Daß Jesus sich zu diesen Menschen hingezogen fühlte, ist nur allzu verständlich. Ich darf als Gemeindepfarrer einer solchen Gemeinde in Bergkamen hinzufügen, daß dort 1987 mehr Engagement für unser Afrikaprojekt zu finden war als in der reichen Remberti-Gemeinde Bremens 2015 für Flüchtlinge. Reichtum entsolidarisiert und macht egoistisch. Daß die Kraft Gottes in den Schwachen mächtig ist, ist unmittelbarer Ausdruck dessen, was ich in Unterschichts-Gemeinden erleben durfte. Das Konzept einer Kirche für andere, was schlicht an Jesus orientiert war und ist, geschrieben im Knast fernab der Altäre, ist und bleibt der Stachel im Fleisch des Leibes Christi.



[1] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, Hamburg; Siebenstern, 71971,134

[2] aaO 135

[3] aaO 178

[4] aaO 185

[5] aaO 170

[6] aaO 169

[7] aaO 191f

[8] Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. I Die Geschichte der Lehre. Bd. 2: Der biblische Stoff der Lehre. Bd. 3: Die positive Entwickelung der Lehre. Adolf Marcus, Bonn 1870–1874

[9] Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III Bonn4 1895,630

[10] Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III Bonn4 1895,453

[11] Widerstand und Ergebung 137 cf Ritschl aaO Bd. 3 Kap. 61 Das Verhältniß zwischen der Wiedergeburt des Einzelnen und der Rechtfertigung

[12] Ritschl aaO Bd. III, 568

[13] Bonhoeffer, Wer ist und wer war Jesus Christus? Seine Geschichte und sein Geheimnis, Hamburg; Furche Stundenbuch 4, 1962, 29, 76ff

[14] Bonhoeffer, Ethik. Zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge, München; Kaiser, 1949, 187: „Es ist – wohlgemerkt – allein seine Liebe, die ihn schuldig werden läßt. Aus seiner selbstlosen Liebe, aus seiner Sündlosigkeit heraus tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein, nimmt sie auf sich.“

[15] Ethik 187

[16] Ethik 75

[17] Ethik 191

[18] Ethik 225

[19] Ethik 190

[20] Ethik 193

[21] Ethik 197

[22] Ethik 202

[23] Ethik 203

[24] Ethik 224 geschrieben zwischen Januar und dem 5. April 1943, also vor Bonhoeffers Verhaftung

[25] BTE IV: „die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes"

[26] Ethik 227

[27] Ethik 233

[28] Ethik 233

[29] Ethik 234

[30] aaO

[31] Ethik 264ff

[32] Ethik 273

[33] Ethik 273

[34] Ethik 274

[35] Widerstand und Ergebung, 137 Der gesamte Brief vom 5.5.1944 ist eine der wichtigsten Überlegungen zur Weltlichkeit.

[36] Widerstand und Ergebung, 137. Beispiel für Barths Jenseitstheorien mag KD II 2, 56f mit der Prädestinationslehre sein: „auf Erden seinen Willen vollstreckend, wie er im Himmel, in seinem alles Zeitliche vorwegnehmenden ewigen Ratschluß schon vollstreckt ist.“ Allein schon die Konnotation von „vollstrecken“, was im Naziterror die Todesurteile meinte, hat einen sehr trefflichen Beigeschmack: Wenn die 50 Millionen Kriegsopfer Hitlers Vollstreckung des ewigen Ratschlusses Gottes waren, darunter 6 Millionen des Volkes Gottes, wirft dies ein schillerndes Licht auf Gott. Weder eilte Israel auf Jesus zu, wie Barth aaO schwülstig fabuliert, noch ist Israel das „besondere Volk, das diesen Namen trägt, zum ‚Licht der Heiden‘, zur Hoffnung, zur Verheißung, zur Einladung, zum Ruf an alles Volk, … zum Gericht über die ganze Menschheit und jeden einzelnen Menschen eingesetzt und ausgerüstet“. Angesichts der Vertreibung der Palästinenser ab 1948 aus ihrer Heimat hätte man damit einen Vorgeschmack von diesem Licht der Heiden. KD III 3,200 macht Barth den König Israels zum „Subjekt der Weltregierung“, nicht nur gedanklich, sondern „als Wirklichkeit“. Er listet als Wirkstätten Jahwes Kanaan, Ägypten, Samaria, Syrien, Kleinasien, Griechenland und Rom auf. Auschwitz kommt nicht vor in dieser Liste. Bonhoeffers Abscheu vor einer allzu vollmundigen Christologie ist genau das, was ich bei Lektüre der KD empfinde.

[37] Widerstand und Ergebung 137

[38] Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,203; Ders., Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf, Frankfurt/Main (Suhrkamp)  1974,254: »Vermittlung der 'Normen', der Inhalte und Formen des Bewußtseins, der Sprachfiguren und Sprachregeln kann nicht auf kommunikationstheoretisch-oberflächlicher Ebene begründet werden, sondern muß in einer 'tiefen' Übertragung von Praxisfiguren fundiert sein. Mit anderen Worten: Praxis wird durch Praxis hergestellt.«

[39] Widerstand und Ergebung 179 Wer bin ich?

[40] Verschlimmernd kommt Barths Arroganz hinzu, entscheiden zu wollen über „Glaube wie … Unglaube an Gottes Weltregierung“ als „Frage des richtigen oder unrichtigen Verhältnisses zur Wirklichkeit“ des historischen Geschehens der biblischen Erzählungen, in denen Gott als König Israels zugleich die ganze Welt regiert, so in KD III 3, 201. Das richtige Verhältnis zur Bibel ist in der Theologie geklärt: Quellenstudien, Quellenscheidung, Kontextualität, Umweltforschung, kurz: historisch kritische Bibelarbeit, von der in Barths Römerbrief nichts zu erkennen ist. Richtig für ihn ist dasjenige Verhältnis zur Bibel, in dem als Ergebnis herauskommt, daß Gott Israel und die Welt regiert. Diese wertvolle Erkenntnis darf Barth dann gerne den Juden verkünden, die ihre Eltern und Geschwister im Gas verloren haben, deren Rauch aus den Krematorien der KZs zum Schöpfer aufgestiegen ist. Ist Auschwitz eine liebend-züchtigende Regierungsweise Gottes?

[41] Widerstand und Ergebung 136

[42] Widerstand und Ergebung 193