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NIELS WERBER
"Er kann nur erobern und absorbieren"
Das Anti-Amerika-Bild der älteren deutschen Literatur prägt noch
die aktuelle Diskussion
1995 hat der ehemalige Amerikakorrespondent, Chefredakteur des Stern und
Geo-Herausgeber Rolf Winter in einem schmalen Buch namens Little America
die Deutschen davor gewarnt, dass Amerika "ein Born des Materialismus, des
Vulgären, der Muskelstärke, der Gewalt" sei. Beherrscht von einer
"Plutokratie", folge dort alle "Macht" dem "Geld", alles Denken müsse
sich in Dollars auszahlen, so dass selbst der Krieg als globales "business"
betrieben werde. Vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt
Winter fest: "Keine andere Nation hat in der jüngeren Geschichte mehr
und länger Kriege geführt als die amerikanische, keine andere mehr
an Kriegen profitiert, keine andere den Krieg so sehr auch als Mittel wirtschaftlicher
Stimulanz instrumentalisiert." "Kein Blut für Öl" würde heute
die Kurzformel dieser Kritik lauten. Vor einer "Ansteckung" mit dem amerikanischen
"Virus" warnte Winter die gesamte "alte Welt", auf deren scharfer Unterscheidung
von der "Neuen Welt" seine Polemik beruht. Diese Unterscheidung aber hat
samt ihrer Implikationen in old Europe Tradition.
"Die Welt wird in die Alte und Neue geteilt", beginnt Georg Wilhelm Friedrich
Hegel den Amerika-Abschnitt seiner Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte. Der neue Kontinent habe der europäischen Eroberung völlig
offen gestanden, denn was dort lebte, "mußte untergehen, sowie der
Geist sich ihr näherte". Zugrunde gegangen an der eigenen "Inferiorität",
stehe die "ursprüngliche Nation" Amerikas einer Besiedlung nicht im
Wege. Amerika ist also Raum ohne Volk - und so "kommt die wirksame Bevölkerung
meist aus Europa", das seinen "Überfluß" hinüber werfe. Die
neue Welt habe den unbestrittenen Vorzug der Gestaltbarkeit. Die "Auswandernden
haben vieles abgestreift, was ihnen in der Heimat beengend sein konnte, und
bringen den Schatz des europäischen Selbstgefühles und der Geschicklichkeiten
mit". Geist und Technik kommen jenseits der "versteinerten" Verhältnisse
des alten Europas zur freien Entfaltung.
Doch der amerikanische Vorzug der Weite und unbegrenzten Möglichkeiten
schlage um in ein Problem, weil sich die Bevölkerung im Raum verliere,
statt sich in einem "wirklichen Staat" zusammenzuschließen. Hegel ist
der Ansicht, dass Europa seine evolutionären Errungenschaften: Staatlichkeit,
Ordnung, Recht und Kultur seiner Dichte verdanke. Nur der unvermeidlichen
Reibung der europäischen Völker aneinander sei das Profil ihrer
Nationalkulturen und ihr Fortschritt zu verdanken. Die "französische
Revolution", behauptet Hegel, wäre niemals "ins Leben getreten", wenn
die unendlichen "Wälder Germaniens noch existiert hätten", denn
die sozialen und politischen Spannungen wären in der Weite des Raums
verpufft, statt ausgetragen zu werden, um aus dem "Streit" neue Formen der
Ordnung zu gebären. Daher hat Europa Staaten mit Geschichte und Kultur,
Amerika dagegen nur einen lose gekoppelten Bund von "Freistaaten". Für
dichtere Organisation fehle der Druck, jede "Spannung" könne durch Abwanderung
in die "Ebenen des Mississippi" abgeleitet werden, was "das Fortbestehen
des jetzigen Zustands ... verbürgt". In Europa dagegen sei "ein solcher
natürlicher Abfluß der Bevölkerung nicht vorhanden". Die
Wälder Germaniens sind längst abgeholzt, das Land bestellt. Entsprechend
müsse man warten, bis der "unermeßliche Raum" Amerikas "ausgefüllt
und die bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre",
um Amerika überhaupt mit Europa vergleichen zu können.
Amerika sei daher bis auf weiteres "weltgeschichtlich" das "Land der Zukunft",
also ein Land, das in der weltgeschichtlichen Gegenwart keine Rolle spiele.
Nichts, was den Historiker interessieren könnte, werde passieren, solange
Nordamerika nur seinen schier "unermeßlichen Raum" auffülle, statt
im Kampf Differenzen auszutragen und in Ordnungen zu überführen.
Die geringe amerikanische Bevölkerungsdichte stehe erst einmal dem Krieg
und also dem Geist entgegen, verdeutlicht Hegel die bellizistische Pointe
seiner Thesen, deren Klartext lautet, dass Europa deshalb alleiniger Schauplatz
der Weltgeschichte ist, weil allein die Staaten des eng besiedelten Abendlandes
im Kampf der Nationalkulturen gegeneinander Krieg führen müssen,
weil sie nicht einfach in den Raum ausweichen können. Mit Hegels Worten:
Amerika wird die "Feuerprobe des Krieges zu bestehen" haben, wenn es Geschichte
schreiben will.
Eine Generation später gehen deutsche Literaten der Frage nach, was
mit den europäischen Einwandern in den unendlichen Weiten Amerikas geschehe.
Unisono stellen sie fest, dass sie ihre kulturellen Eigenheiten, ihren Geist
und ihre Individualität verlieren. Die Dimensionen des amerikanischen
Raums bringe einen anderen Typus hervor: den Yankee. Ferdinand Kürnberger
schreibt in seinem Roman Der Amerikamüde (1855): "Der Amerikaner ist
nicht Bauer, nur Freibeuter. Er setzt seinen Fuß auf die Erde, haut,
sticht, sengt und brennt in sie hinein, und verläßt sie dann wieder.
Er hat kein Gemütsverhältnis zum Boden, auf dem er sitzt. Sein
Haus liegt da wie ein viereckiger Kasten, der vom Möbeltransportwagen
herabgefallen ist. Er blickt dich an, so kalt, so nüchtern, ohne Horizont,
ohne Perspektive. Oft kommt die ganze Stadt auf dem Transportwagen, und glänzend
vom Hobel her, und stellt sich auf wie aus der Puppenschachtel."
Ein globalisierungsfähiges Konzept: Überall auf der Welt könnte
die Stadt wieder abgeladen und aufgebaut werden. Ein ganzes Jahrhundert später
behauptet der Hegelianer Gotthard Günther in diesem Sinne: "Die seelischen
Differenzen, die in Europa den Menschen der französischen, deutschen
usw. Landschaft auszeichnen, halten sich nur in der ersten Generation von
Einwanderern. In der nächsten sind sie völlig ausgelöscht,
als wären sie nie gewesen. Der moderne amerikanische Mensch" habe keine
"Heimat" und lebe "nur relativ zum ganzen Kontinent", wenn nicht gar zur
Welt. So entstehe die "anthropologische Voraussetzung zu einer planetarischen
Hochkultur", die so mobil und flexibel sei, wie bereits Kürnberger sie
beschreibt: Alles sei "fabriksmäßig uniform", wo in kürzester
Frist an beliebigem Ort Städte errichtet werden, in denen eine Straße
die andere, ein Haus das andere, ein Quartier das nächste, und ein Bewohner
den anderen wiederhole. Gut dialektisch verwandele sich der Mensch in Amerika
aus einem Individuum in einen Massentypus.
Auch Gustav Freytag entwirft den Amerikaner als mobilen Pragmatiker: Er "wird
sich nie in seine Hütte, seine Fenz, in seine Zugtiere verlieben. Was
er besitzt, das hat ihm gerade nur den Wert, der sich in Dollars ausdrücken
läßt." Der Amerikaner lebe allein in der Gegenwart, kaufe, was
er "für den täglichen Gebrauch nötig" habe, um es wegzuwerfen,
wenn der "Tand" seine Nützlichkeit eingebüßt habe. Sein Leben
in Gegenwart, sein Pragmatismus und seine Mobilität machen ihn zum Nomaden
ohne Eigenschaften, der im grenzenlosen Raum seines Kontinents nie Wurzeln
zu schlagen und nie eine Regionalkultur auszubilden vermag. Deshalb wird
ihm die ganze Welt zum Handlungsraum: Der Amerikaner, so liest man 1841 im
Kajütenbuch von Karl Anton Postl, ist "überall zu Hause" und tritt
überall "als Herr" auf.
Wo immer auch "nur ein Dutzend Amerikaner zusammentreffen", schreibt Postl
weiter, da sei Amerika. Es sei überall, wo Amerikaner sich vereinigen
und ihre Interessen definierten, auch in Mexiko, Timbuktu oder China. Wer
sich diesem Export in den Weg stelle, gelte dem Yankee nicht allein als "Feind
unseres Landes", sondern als "Feind der Menschheit", weil der Amerikaner
nicht nur global agiere, sondern auch beanspruche, überall die Menschheit
schlechthin zu repräsentieren. Der Amerikaner sei vollkommen "anpassungsunfähig",
führt Herman Graf Keyserling 1930 die Überzeugungen von 1842 weiter,
und trete daher "stets und immer als Missionar" auf. Der Amerikaner "kann
nicht einsehen, daß ,Demokratie', wie er sie versteht, vielleicht nur
eine Lebensform unter anderen ist; seiner Meinung nach müssen seine
Besonderheiten die absolut besten Eigenschaften in abstracto sein." Der Amerikaner,
so geht es weiter in dieser Liste der Stereotypien, "beurteilt alles Nichtamerikanische
instinktiv als minderwertig, wenn nicht als moralisches Greuel". Er passe
sich daher nirgends an, "er kann nur erobern und absorbieren."
Auf die innere Kolonisierung, die den Raum immer nur vorübergehend ausbeute
und "den Amerikaner" nirgends sesshaft werden ließ, folgt also konsequent
die Globalisierung. Bereits 1835 hatte Alexis de Toqueville die These vertreten,
die USA würden in ihrer Ausdehnung am Pazifik nicht haltmachen: "falsch
wäre es, zu glauben, die Angloamerikaner würden irgendwo für
dauernd haltmachen; dafür haben sie sich schon heute zu weit ausgedehnt."
Und Gotthard Günther meinte entsprechend, dass sich die USA als "prinzipiell
unbegrenzt ausdehnungsfähig" verstünden. Amerika erkundet die Grenzen
seines Raums, erreicht den Pazifik, "öffnet" Japan, annektiert die mexikanischen
Provinzen, nimmt Kuba, trennt Panama von Kolumbien ab, annektiert die Philippinen
und wird als Konkurrent Britanniens zur Weltmacht. Die USA nehmen den Streit
auf und kommen in der Weltgeschichte an - als "Europas Feind". Man zieht
daher, wie Graf Keyserling, ihren Willen zur "Welteroberung" in Betracht.
Amerika habe, schreibt Herman George Scheffauer 1923, eine "Amerikanisierungs-Maschinerie"
in Gang gesetzt, die "Ehrgeiz genug besitzt, um ... der ganzen Menschheit
eine oberflächliche, mechanische und materialistische Wirtschafts- und
Staatsordnung aufzuzwingen." Aus Streit und Krieg entsteht nun eine Nation,
die an der "raummißachtenden Verwandlung der Erde in einen abstrakten
Welt- und Kapitalmarkt" arbeitet. Es gehe den USA um die "raum- und grenzenlose
Ausdehnung liberaldemokratischer Prinzipien auf die ganze Erde und die ganze
Menschheit", behauptet Carl Schmitt im Jahre 1940. Die imperiale Handhabung
der Monroe-Doktrin hebe alle "räumlichen Grenzen und Unterscheidungen
auf", um eine "in alles sich einmischende Welt- und Weltkriegspolitik" zu
treiben. Der Amerikaner, der in Amerika nie zu einem "Sohn der Erde" werden
konnte, hebt nun alle Raumordnungen der Welt auf, die nun, wie Gotthard Günther
wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefolge Hegels wie Schmitts formuliert,
den "transzendental restlos entleerten Spielregeln für ein Zusammenleben
auf diesem Planeten" zu folgen habe. Da der Amerikaner als Nomade keine Grenzen
kenne, sei sein Handlungsraum global, und weil er als Typus überdies
kein Verständnis für kulturelle "Einzigkeit" hege, könne er
sie weltweit ignorieren und seine eigenen Interessen kurzerhand mit denen
der Menschheit gleichsetzen.
Den Vereinigten Staaten widmet Goethe 1827 eine Xenie: "Amerika, du hast
es besser / Als unser Kontinent, das alte, / Hast keine verfallene Schlösser
/ Und keine Basalte. / Dich stört nicht im Innern / Zu lebendiger Zeit
/ Unnützes Erinnern / Und vergeblicher Streit." Ernst Jünger zitiert
das Gedicht, um die Fähigkeit der USA zur Totalen Mobilmachung zu plausibilisieren,
der keine Tradition einen Stein in den Weg lege. Dieses Land erlege sich
keine Zwänge auf, es operiere global wie total, jedes Mittel aus dem
Reservoir seiner unbegrenzten Möglichkeiten sei recht und billig. Amerika
kenne keine kulturellen oder geistigen Hindernisse, sondern nur physische,
die es pragmatisch zu überwinden verstehe. Der Amerikaner sei der "Gott
der Materie", schreibt Kürnberger schon 1855, wofür er sich das
"Geistige vom Halse geschafft" habe.
Hegel zufolge hat der Yankee aus seinem Profit eine Religion gemacht, und
seine Macht schütze nun jenes nur "formelle Recht", in dessen Deckung
"die amerikanischen Kaufleute" die übrige Welt zu "betrügen" suchen.
Postl erscheinen selbst Völker- und Menschenrechte nur als ein pragmatisches
Mittel zum Zweck der Hegemonie, das sofort gegen ein anderes ausgetauscht
werden könnte, wenn es opportun erscheine. Das amerikanische Motto e
pluribus unum wird so seit dem 19. Jahrhundert gedeutet als Amerikanisierung
aller Kulturnationen dieser Welt. Diese Traditionslinie einer literarisch-philosophischen
Imagination Amerikas ließe sich leicht bis in die aktuellen Debatten
verlängern. Sie gehört zu unserem Erbe und sagt womöglich
mehr über Europa aus als über die USA.
Niels Werber ist Privatdozent am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität
Bochum.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 21.03.2003 um 17:36:23 Uhr
Erscheinungsdatum 22.03.2003