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Ein
Stillstand des Rechts
Der
italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht in der Politik des
"Ausnahmezustands" eine gängige undemokratische Praxis
VON
NIELS WERBER
Giorgio
Agambens politische und juristische Genealogie des Ausnahmezustands
Offenbar gibt es trotz aller Menschenrechte und Konventionen Orte auf
der Welt, an denen Menschen vorsätzlich, systematisch und
folgenlos unmenschlich behandelt werden können. Man kann darin
singuläre Vergehen gegen eine Rechtsordnung sehen, die nun im
Rahmen dieser Ordnung bestraft werden müssen. Oder aber man
könnte mit Agamben nach den Orten fragen, an denen Rechtsordnungen
permanent aufgehoben werden, um all das zu suspendieren, was sich der
absolut willkürlichen Behandlung von Menschen entgegen stellen mag.
Diese Frage, die bereits Homo Sacer und Was von Auschwitz
bleibt orientiert hat, ist auch in Agambens neuem Essay über
den Ausnahmezustand die gleiche geblieben: Grenzt die
politische Souveränität einen Raum aus, in dem der Mensch
aller Rechte entkleidet und als "nacktes Leben" behandelt, gepeinigt,
erniedrigt oder getötet werden kann, ohne dass damit ein
Verbrechen im Sinne des sonst geltenden Rechts begangen würde?
Auschwitz markiert für Agamben nur den vorläufigen
Höhepunkt einer Entwicklung, die von antiken Rechtsinstituten
über die politische Theologie der "Zwei Körper des
Königs" bis in die Biopolitik der Moderne führt und in allen
Zeiten daran zu erkennen ist, dass das Politische eine "Sphäre"
konstituiert, "in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen".
Es gebe keine Form politischer Souveränität, so lautet die
starke These, die nicht homini sacri produzierte, Positionen
für Individuen also, die außerhalb der normalen
Rechtsordnung ganz nach Belieben des Souveräns traktiert werden
könnten - von der Zwangssterilisierung bis zur Vivisektion. -
Unter Rückgriff auf Michel Foucault und Carl Schmitt hat Agamben
derartige "Sphären" der institutionalisierten Rechtsfreiheit als
Produkte einer Normalisierung des Ausnahmezustandes beschrieben. Was
bei Gefahr im Verzug ausnahmsweise zum Schutz von Staat und Verfassung
nötig sei: Nämlich die zeitlich begrenzte Aufhebung der
Rechtsordnung werde nun an gewissen Orten auf Dauer gestellt.
Agamben hatte mit der Behauptung irritiert, das "Lager" sei "der neue
biopolitische nómos des Planeten", und die Rezensenten
haben in einer Art spekulativen Präzisierung Guantanamo Bay als
Beispiel genannt. Agamben hat diese Deutung nun bestätigt. Gerade
dieses Lager entspringe dem Ausnahmezustand. Die dort internierten
Kämpfer genießen keinen präzisen Status, etwa als
Kriegsgefangene oder Verbrecher, und werden ohne Anklage und ohne "jede
Form rechtlicher Kontrolle" festgehalten und rechtlich unbestimmten,
willkürlichen Maßnahmen unterworfen. "Vergleichbar ist dies
allenfalls", schreibt Agamben über die entsprechenden
"Anordnungen" Bushs, "mit dem rechtlichen Status der Juden in den
Nazi-Lagern". Was hier verglichen werden soll, ist nicht der Grad an
Grausamkeit oder Unsicherheit, dem die Internierten ausgesetzt sind,
sondern der rechtliche Zustand, der die Ausgrenzung solcher Zonen
ermöglicht: Und dies ist der Ausnahmezustand.
Wie stets bei Agamben, versucht er mit einer Lektüre antiker Texte
die Gestalt des Phänomens zu bestimmen. Im iustitium des
römischen Rechts (der zeitlich begrenzten Aussetzung aller
rechtsgeschäfte) findet er den "Archetyp des modernen
Ausnahmezustands". In kritischer Auseinandersetzung mit der
Rechtsgeschichte deutet er das iustitium als ultimative
Reaktion des Senats auf einen tumultus. Angesichts von Unruhen
und der Gefährdung der Republik selbst verhängt der Senat
einen "Stillstand des Rechts", eine "Suspendierung der gesamten
Rechtsordnung". Die Maßnahmen, die während dieses
Ausnahmezustands ergriffen werden, um die Sicherheit und Ordnung
wiederherzustellen, liegen "jenseits des Rechtsbereichs". Der
Ausnahmezustand, dies ist Agamben wichtig, ist also keine Diktatur.
Tatsächlich besteht zwischen der Diktatur und einer Rechtsordnung
auch gar kein Widerspruch, hierin wären sich Rechtspositivisten
wie Hans Kelsen und Dezisionisten wie Carl Schmitt einig.
Das Zwangsregime "totalitärer Staaten" vollzieht sich, so Kelsen
1934, innerhalb des Rechts dieser Staaten, nicht außerhalb. Der
Ausnahmezustand dagegen hebt die Verfassung auf und ist ein politischer
Zustand, in dem, so Schmitt 1931, das "Zentrum des Staates offen
zutage" tritt. Der Souverän selbst zeigt sich als derjenige, bei
dem die letzte Entscheidung darüber steht, ob jene "erhebliche
Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" besteht,
zu deren Bekämpfung die Verfassung, die geschützt werden
soll, aufgehoben wird.
Der 1933 von Hitler verhängte Ausnahmezustand wurde bis 1945 nie
beendet. Die bestürzenden Maßnahmen des Regimes bis hin zur
Einrichtung von Vernichtungslagern deutet Agamben als Elemente dieses
auf Dauer gestellten Zustands der Suspension der Rechtsordnung,
während der jüdische Jurist Kelsen noch die "Internierung von
Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rasse in
Konzentrationslagern" als "Sanktion" einer "Rechtsautorität"
versteht, die man zwar "auf das schärfste verurteilen" mag, an
deren Rechtscharakter aber nicht zu zweifeln sei. Gerade weil Agamben
ganz unpositivistisch und unrelativistisch an die Menschenrechte
glaubt, kann er im KZ nur eine Aufhebung des Rechts sehen, niemals
seinen Vollzug.
Der Ausnahmezustand des NS-Regimes ist keine Ausnahme geblieben. Das
Regieren mit Erlassen und Maßnahmen sei "zur geläufigen
Praxis" geworden. Die westlichen Republiken seien "nicht mehr
parlamentarisch, sondern gouvernemental": Die Exekutive handelt wie im
Ausnahmezustand. Die Anordnungen des US-Präsidenten nach dem 11.
September 2001 deutet Agamben als andauernde Suspendierung der
internationalen und nationalen Rechtsordnung, die Probe aufs Exempel
macht selbstredend Guantanamo: "Ja, der Ausnahmezustand hat heute erst
seine weltweit größte Ausbreitung erreicht. Der normative
Aspekt des Rechts kann ungestraft entwertet werden." Bedarfsweise werde
alles Recht von den USA einfach ignoriert, das macht ihre Macht aus.
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Giorgio
Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer Teil II, Band 1. Aus dem
Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 2004, 113 Seiten, 9 Euro. |
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Agamben
zieht die Schlussfolgerung: "Just in dem Moment, in dem die politische
Kultur des Westens anderen Kulturen Unterricht in Sachen Demokratie
geben will, macht sie sich nicht klar, dass ihr der Maßstab
dafür völlig abhanden gekommen ist." Wenn die Rechtsordnung
sozusagen "zum Schutz von Volk und Staat" nach Belieben aufgehoben
werden kann, lässt sich die politische Verfasstheit dieser Ordnung
nicht länger als Demokratie begreifen.
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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 27.06.2004 um 16:32:36 Uhr
Erscheinungsdatum 28.06.2004