·Der
Name „Surrealismus“
Will man dahinterkommen, worin die Eigenart und
die spezifische Intention einer literarisch-künstlerischen Bewegung
besteht, so liegt es nahe, beim Namen dieser Bewegung anzusetzen. Oft genug
sind Namen Programme in Kurzform, vor allem, wenn sie von den Angehörigen
der jeweiligen Bewegung selbst als Etikett akzeptiert und in Umlauf gebracht
worden sind. Dies ist hier der Fall. Der Begriff „Surrealismus“ wurde 1917
von Guilleaume Apollinaire geprägt. André Breton, der wohl
wichtigste und bekannteste Repräsentant der von Frankreich ausgehenden
Bewegung, benutzte den Ausdruck im Sinn eines Programms; er verfaßte
mehrere Manifeste des Surrealismus. „Sur-realismus“, so suggeriert das
aus zwei Bestandteilen zusammengesetzte Wort, ist etwas anderes als „Realismus“,
aber er nimmt auf diesen Bezug. Die französische Vorsilbe „sur“ suggeriert,
Surrealismus sei etwas, das „über“ dem Realismus seinen Ort habe,
und zwar (diese Suggestion ist ebenso gewollt wie die erste), weil das,
womit er sich befasse, eine Art „Über“-Realität sei.
Jean Starobinski hat in einem Essay über „Freud,
Breton, [und] Myers“ den Glauben an eine Über-Realität als prägend
für den Surrealismus interpretiert; als die Manifestationen dieser
anderen Dimension sei - und da kann sich Starobinski auf Breton und andere
berufen - der wundersam erscheinende Zufall gesehen worden.
„Breton glaubt daran, daß es möglich
sei, die Wunder zu retten, indem er sie weniger ‘wahnwitzig’ [als die konventionellen
Wundergläubigen] interpretiert. Er schreibt sie einer Surrealität
zu, die nicht in einem immateriellen Jenseits, sondern mitten in der Welt
liegt. Er sieht darin einen Aspekt der unvermuteten Fülle unserer
Welt, einen Beweis für die Kraft des inkarnierten Gedankens.“ (Jean
Starobinski: Freud, Breton, Myers. In: Wege der Forschung: Surrealismus.
Hg. v. Peter Bürger. Darmstadt 1982. S. 153)
Hinter dem Namen „Surrealismus“ stecken verschiedene
Implikationen und ein doppelter Anspruch. Zu den Implikationen gehört
die Voraussetzung der Existenz einer anderen, dem Alltagsverstand und seiner
Logik unzugänglichen Dimension der Realität, eben einer „Über-Realität“.
Der doppelte Anspruch besagt, daß (erstens) surrealistische Kunst
und Literatur diese andere Dimension des Realen erschließen sollen,
und daß sie sich (zweitens) damit von konventioneller, „realistischer“
Kunst und Literatur absetzen und etwas Neues leisten. Die Surrealisten
haben sich selbst dezidiert als ästhetische Avantgarde verstanden.
Auch hinsichtlich der Beziehung zur ästhetisch-literarischen Tradition
geht es um die Bewegung des Darüber-Hinaus.
Enge Beziehungen bestehen zwischen dem Surrealismus
und dem Dadaismus, wenngleich beide auch nicht vorschnell miteinander kurzgeschlossen
werden dürfen. Der führende Surrealist, André Breton,
ließ sich von Tristan Tzara, der zentralen Gestalt der Dada-Bewegung
anregen, hat die dadaistischen Anstze aber fortgeführt - dem Dadaisten
Hans Richter zufolge im Sinne einer theoretischen und methodischen Konsolidierung.
„Breton übernahm nicht nur Dada, sondern
führte es auch weiter, indem er eine umfassende Theorie und methode
entwickelte, die Traum und Zufall bis hin zur Halluzination einbezog. Es
ist dieser theoretische und methodische Unterbau, der den Surrealismus
von Dada unterscheidet.“ Hans Richter: DADA - Kunst und Antikunst, Köln
1978, im folgenden: Richter, S. 201)
„Weder Dada noch der Surrealismus sind Einzelerscheinungen.
Sie können voneinander nicht isoliert werden, sondern bedingen einander
wie das Anfang das Ende und das Ende den neuen Anfang. Sie sind im Grunde
eine einzige zusammenhängende Lebenserfahrung, die wie ein großer
Bogen von 1916 bis etwa zur Mitte des zweiten Weltkrieges reicht, eine
Renaissance der Kunstbedeutung, eine Veränderung des Blickfeldes,
der eine umwälzende Veränderung unserer Zivilisation entspricht.
Das alles wuchs ‘naturhaft’ auf jenem ‘Holzapfel-Baum’ Dadas, den Breton
umzuschlagen vorschlug, von dessen Früchten der Surrealismus sich
aber ernährte, nachdem er den Baum veredelt, beschnitten und gepflegt
hatte (...). Beide Bewegungen haben ihre Bedeutung als Mobilisierungen
des Unbewußten zu einer neuartigen Konzeption von Kunst.“ (Richter,
DADA, S. 201)
Wie der Dadaismus ist der Surrealismus, auch seinem
eigenen Selbstverständnis nach, eine Avantgardebewegung. Avantgarden
aber lieben Manifeste. Manifeste sind eine Textgattung mit besonderem Bezug
zur Wirklichkeit. Sie sind Aufrufe zur Aktion, appellativ, oft performativ.
Breton liebte Manifeste besonders; er hat eine ganze Serie davon verfaßt,
in denen er sich immer wieder neu um eine Bestimmung dessen bemühte,
was den Surrealismus ausmacht.
„Der Surrealismus ist die Systematisierung
der Konfusion. Der Surrealismus schafft scheinbar eine Ordnung, aber nur
so, daß die Idee eines Systems selbst verdächtig wird in der
Assoziation. Der Surrealismus ist destruktiv, aber er zerstört nur,
was er als Ketten betrachtet, die unsere Vision einschränken.“ (Breton,
nach Richter, DADA, S. 200)
Über die genaue Grenzlinie zwischen dem Dadaismus
und dem Surrealismus besteht kein Konsens. Ein Werk mit dem Titel „Le champs
magnétiques“, von dem 1919 die ersten drei Kapitel unter dem Namen
André Bretons und Philippe Soupaults erschienen, sind laut Breton
„die erste surrealistische (und keineswegs dadaistische) Veröffentlichung“,
da sie „Frucht der ersten systematischen Anwendung der automatischen Schreibweise“
war (nach Richter DADA, S. 200). Richter bestreitet die Berechtigung, solcherart
zwischen Dadaismus und Surrealismus abzugrenzen; die für die ‘magnetischen
Felder’ erprobte ‘écriture automatique’ (dazu später mehr)
sei bereits von den Zürcher Dadaisten praktiziert worden. Überhaupt
betont Richter die Nähe und Ähnlichkeit beider Bewegungen, die
Ähnlichkeit auch der Manifeste.
„Der Surrealismus hat Dada gefressen und verdaut.
Solch kannibalische Methoden sind in der Geschichte nicht eben selten.
Und da der Surrealismus einen guten Magen hatte, sind die Eigenschaften
des Verschlungenen mit in den gekräftigten Körper des Überlebenden
eingegangen. Gut so!“ (Richter, DADA, S. 201)
Der Surrealismus ist - wie andere Avantgardebewegungen
auch - dadurch charakterisiert, daß er sich gern in theoretisch-programmatischen
Texten selbst beschreibt. Eine Bemerkung zur Grenze zwischen Literatur
und theoretisch-manifestartiger Selbstbeschreibung vorab: es gibt diese
Grenze nicht. Die Manifeste besitzen eine literarische Dimension; diverse
theoretisch-poetologische Texte könnten sogar auf ihren Anteil an
Fiktionalem hin befragt werden.
·Zur
Geschichte der surrealistischen Bewegung und zu ihren wichtigen Vertretern
„Der Surrealismus ist die Systematisierung der Konfusion.“
(Breton) Das klingt nach einem Programm, welches über die Kunst hinaus
in die politische Praxis ausgreift, und tatsächlich ist der Surrealismus
durch seine gesellschaftskritischen Züge charakterisiert. Als sich
die surrealistische Bewegung konstituiert, ist jedoch (wie auch Peter Bürger
bemerkt) kein spezifisches politisches Bewußtsein der Mitglieder
zu registrieren. Dagegen verbindet sie das Interesse an avantgardistischen
Strömungen der Gegenwartskunst. 1916 haben Tristan Tzara (1896-1963)
und andere Künstler die Zürcher Dada-Gruppe gegründet; Dadaistische
Aktionen und Provokationen folgten. André Breton (1896-1966)tritt
im Januar 1919 zunächst schriftlich in Verbindung zu Tzara; 1920 besucht
dieser Paris und eine Pariser Dadaistengruppe formiert sich. 1921 kommt
es zu Unstimmigkeiten in der Gruppe, 1922 geht sie wieder auseinander.
Die Interessen Tzaras und Bretons sind nicht ganz deckungsgleich; ersterer
legt es auf Provokationen des Publikums an, Breton will die politische
Aktion, gerichtet gegen nationalistische Kräfte in Frankreich 1922
bereitet sich der Zusammenschluß der surrealistischen Gruppe vor,
1924 publiziert Breton das „Manifeste du Surrealisme“ und tut sich zusammen
mit Louis Aragon (1897-1982), Paul Eluard(1895-1952),
Benjamin Péret (1899-1959), Philippe Soupault (1897-1990) und anderen
Gleichgesinnten.
Neben dem Dadaismus haben andere den Weg der Surrealisten
vorbereitet, so der Lautréamont, Arthur Rimbaud und Alfred Jarry.
Einige wenige literarische Hauptdokumente des Surrealismus seien genannt
(und später dann teilweise noch ein wenig genauer vorgestellt). 1919
erschienen die „champs magnétiques“, eine Mischung aus Prosatexten,
Lyrik und Aphorismen. 1924 publizierte Breton das erste surrealistische
Manifest, 1928 seinen Roman „Nadja“, 1937 „L’amour fou“, 1941 „Fata morgana“,
1944 „Arcane 17“, 1947 die „Ode an Charles Fourier“. Louis Aragon hat in
seinen früheren Jahren, obwohl Breton der Romangattung kritisch gegenüberstand,
vorwiegend Romane geschrieben.„Anicet
ou Le panorama“ (1921), „Les aventures de Télémaque“ (1922),
„Le paysan de Paris“ (1926), ferner Erzählungen unter dem Titel „Libertinage“
(1924) und ein Pamphlet: „Traité de style“ (1928). Philippe Soupault
veröffentlichte 1928 den Roman „Le dernières nuits de Paris“. Ein
Jahr zuvor erschienen war „Le nègre“, Produkt der Auseinandersetzung
mit afrikanischer Kunst.
Paul Eluard war vor allem Lyriker; er publizierte
in den 20er und 30er Jahren mehrere Gedichtbände: „Mourir de ne pas
mourir“ (1924), „Capitale de la douleur“ (1926), „L’amour la poésie“
(1929), „La vie immédiate“ (1932), „La rose publique“ (1934). -
Ich breche die Aufzählung an dieser Stelle, notgedrungen willkürlich,
ab.
Als Surrealisten oder dem Surrealismus zumindest
nahestehende Autoren zu nennen sind neben den bereits genannten: Antonin
Artaud, René Char, René Crevel, Robert Desnos, Julien Gracq,
Michel Leiris, Jacques Prévert, Roger Vitrac und, unter Vorbehalt,
Raymond Roussell.
Die Namensliste verrät es schon: Der Surrealismus
ist eine von Frankreich ausgehende und vorwiegend von französischen
Künstlern und Literaten getragene Bewegung, die allerdings ohne außerfranzösische
Vorläufer, Mitstreiter und Fortsetzer nicht zu denken ist. Er strahlte
nachhaltig auch in andere Länder aus, insbesondere nach Westeuropa
- die Spanier Dali und Bunuel gehören zu den wichtigsten Vertretern
der Bewegung. Doch im folgenden soll (aus Zeitgründen) vom französischen
Kernbereich die Rede sein, insbesondere von der Zentralfigur André
Breton. Die Namen Dali und Bunuel deuten schon darauf hin, daß der
Surrealismus keineswegs eine innerliterarische Strömung war (was kaum
der Erwähnung bedarf, gehören doch surrealistische Maler wie
René Magritte, Max Ernst oder eben Dali zu den bekanntesten Repräsentanten
der bildenden Kunst dieses Jahrhunderts. Aber diese (die bildende Kunst)
ist heute auch nicht mein Thema (sondern nächste Woche das von Frau
Sykora), sodaß eine weitere Beschränkung anzusagen ist: die
auf Literatur - und auf Reflexionen über Literatur, denn es wird sich
zeigen, daß diese im Prozeß der Konstitution der surrealistischen
Bewegung eine entscheidende Rolle spielt.
In die Jahre 1924 bis etwa 1928/29 fällt die
fruchtbarste Etappe surrealistischen Wirkens; aufgelöst wurde die
Bewegung erst 1969. Nach Bürgers Einschätzung leben die Surrealisten
in der ersten Bewegungs-Phase von 1918 bis 25 eher „geschichtsfern“. Der
französische Marokkokrieg dann wird 1925 zum Anlaß einer dezidierteren
Politisierung und zum Zusammenschluß mit anderen Kräften, die
gegen den imperialistischen Kampf der Kolonialmacht Frankreich sind. Politische
Differenzen führen zur Entzweiung der Surrealisten untereinander.
Grundsätzlich prägend für die surrealistische
Bewegung ist die Absicht zur Veränderung. Im Kernbegriff „révolution“
kommt die Idee einer Veränderung der Wirklichkeit zum Ausdruck. Der
Titel der seit 1924 erscheinenden Zeitschrift „La Révolution surréaliste“
bezieht sich aber (nach Bürger 29) nicht primär auf eine gesellschaftliche,
sondern auf eine „geistige Veränderung“. Später wird Revolution
auch im Sinne der politisch-sozialen Umwälzung verstanden und gefordert.
Bürger registriert Tendenzen, die nach einer „Heilserwartung“ durch
totale Befreiung des Menschen klingen.
Der Surrealismus hat sich seit der Mitte der 20er
Jahre zunehmend als politisch-revolutionäre Bewegung verstanden. In
der „Erklärung vom 27. Januar 1925“ heißt es:
„Wir haben nichts mit der Literatur zu tun,
aber wir sind durchaus in der Lage, uns ihrer notfalls wie jeder andere
auch zu bedienen. / Der Surrealismus ist kein neues oder einfaches Ausdrucksmittel,
nicht einmal eine Metaphysik der Poesie; er ist ein Mittel totaler Befreiung
des Geistes und all dessen, was ihm ähnlich ist. / Wir sind fest entschlossen,
eine Revolution zu machen. / Wir haben das Wort Surrealismus mit
dem Wort Revolution nur deshalb verklammert, um auf den selbstlosen,
gleichgültigen und sogar verzweifelten Charakter dieser Revolution
hinzuweisen. / Wir wollen nichts an den Sitten der Menschen ändern,
aber wir beabsichtigen, ihnen die Fragwürdigkeit ihres Denkens zu
demonstrieren, ihnen deutlich zu machen, auf welch schwankendem Grund,
über welchen Höhlen sie ihre anfälligen Häuser erbaut
haben. (...) Wir sind Spezialisten der Revolution. Es gibt keine Aktionsform,
die wir im Bedarfsfall nicht anzuwenden verstünden. (...) Der Surrealismus
ist keine Form der Poesie. Er ist ein Schrei des Geistes, der zu sich selber
zurückfindet und fest entschlossen ist, voller Besessenheit seine
Fesseln zu sprengen, notfalls mit richtigen Hämmern!“ (Zit. nach Karlheinz
Barck (Hg.), Surrealismus in Paris 1919-1939. Ein Lesebuch. Leipzig, 2.
Aufl. 1990, S. 134-137.)
10 Jahre lang versuchen die Surrealisten, sich mit
den Kommunisten zusammenzuschließen; Breton und andere treten 1927
in die kommunistische Partei ein. Breton besucht Leo Trotzki 1938 in dessen
mexikanischem Exil. Ideologische Auseinandersetzungen, Parteieintritte
und -austritte gehören mit zur Geschichte des Surrealismus. Insbesondere
die Politisierung führt zu Spaltungstendenzen. Denen, die primär
an politischen Aktivitäten gelegen ist, stehen die gegenüber,
die den Surrealismus primär für eine künstlerische Bewegung
halten.
„Schon seit seinen Anfängen befand sich
der Surrealismus in einem Spannungsfeld auf der grenze zwischen Innenwelt
und Außenwelt, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Kunst und
Leben, zwischen geistiger Revolution und politisch-sozialer Revolution,
zwischen Anspruch und Realität von individueller und geschichtlicher
Entwicklung, zwischen Reationalität und Irrationalismus wie auch zwischen
Individuum und Gruppe. Als eine zugleich ‘poetische, moralische und revolutionäre
Bewegung’ war der Surrealismus auch Grenzgänger zwischen Poesie, Moral
und Revolution.“ (Hans T. Siepe: Surrealismus, in R. Grimminger, J. Murasov,
J. Stückrath: Literarische Moderne, S. 352f.)
Später bricht Breton mit der KP und verfaßt
das Manifest „Position politique du surréalisme“ (1935), das sich
keinem Parteiprogramm zuordnen läßt. 1941 emigriert er in die
USA. Als späte surrealistische Werke entstehen „Fata Morgana“ (1941),
„Arcane 17“ (1944), „Ode à Charles Fourier“ (1947).
Skandale gehörten mit zum ästhetischen
Arrangement des Surrealismus; sie waren ein Stück Kunst und ein Stück
Leben zugleich - und damit ein Beitrag zur Synthese beider.
„Die Surrealisten verfaßten ein kollektives
Pamphlet mit dem Titel ‘Ein Kadaver’ zum Tod des Schriftstellers Anatole
France, der 1924 ein Staatsbegräbnis erhielt; sie gruppierten sich
im ersten Heft ihrer Zeitschrift ‘La Révolution Surréaliste’
mit ihren Fotos um ein Porträt der Anarchistin und Mörderin Germaine
Berton und fügten ein Zitat von Baudelaire hinzu: ‘Die Frau ist das
Wesen, das den größten Schatten und das größte Licht
in unsere Träume wirft’. Sie beantworteten öffentlich die selbstgestellte
Frage, ob der Selbstmord eine Lösung sei (Januar 1924), ebenso wie
sie Umfragen zum Sexualverhalten (1928) und zur Liebeskonzeption (1929)
durchführten. Sie richteten skandalöse Pamphlete sowohl an den
Papst wie an den Dalai-Lama und an die Chefärzte der psychiatrischen
Heilanstalten (1925); sie unterbrachen im gleichen Jahr ein Festbankett
wegen nationalistischer Elemente mit den Zwischenrufen ‘Es lebe Deutschland!’
und richteten sich gemeinsam mit einer politischen Avantgarde-Gruppe um
die Zeitschrift ‘Clarté’ in dem kollektiven Manifest ‘zunächst
und immer Revolution’ gegen den französischen Kolonialkrieg in Marokko.
/ Gegen eine verlogene Rimbaud-Ehrung in dessen Heimatstadt Charleville
protestierten sie 1927 ebenso heftig wie mit einem Flugblatt zur Verteidigung
von Charlie Chaplin, der von seiner zweiten Frau öffentlich der sexuellen
Perversion in der Ehe angeklagt worden war. Innerhalb der Gruppe wehrten
sich 1930 ausgeschlossene Mitglieder mit dem Pamphlet ‘Ein Kadaver’ gegen
Breton. Georges Sadoul und Louis Aragon wurden wegen Beleidigung der Armee
und der Nation angeklagt. Im gleichen Jahr verwüstete eine Gruppe
von Surrealisten ein Nachtlokal, das der Besitzer nach dem Titel eines
Buchs von Lautréamont, dem verehrten Vorfahren, benannt hatte..
1931 beteiligten sie sich an einer Gegenausstellung zur regierungsoffiziellen
Kolonialausstellung. 1933 verurteilten Eluard und Péret die Mitverantwortung
des französischen Imperialismus für die Errichtung einer faschistischen
Diktatur in Deutschland, und 1936 engagierten sie sich für die spanische
Republik.“ (Hans T. Siepe: Surrealismus, in R. Grimminger, J. Murasov,
J. Stückrath: Literarische Moderne, 351)
Öffentlich ergriffen die Surrealisten Partei
für zwei Mörderinnen, die, als Dienstmädchen beschäftigt,
Mutter und Tochter ihres Arbeitgebers ermordet hatten - indem sie als Motivation
eine „sozial motivierte Paranois“ (Siepe) statuierten. 1934 verteidigten
sie eine Vatermörderin, die zuvor sexuell Mißbraucht worden
war. Gegen das Münchner Abkommen von 1938 protestierten die Surrealisten
mit einem Flugblatt. Aragon, René Char, Eluard und andere gehörten
zur Resistance-Bewegung. Auf die Aufbruchsjahre in den 20er folgte ein
langes Nachspiel; Breton publiziert neue Manifeste und alte Manifeste neu;
surrealistische Literatur entsteht auch in den 30er, 40er und 50er Jahren
·Grundlegendes
I: Die Idee der Einheit von Kunst und Leben
Die Surrealisten erstrebten ein doppelten Neuansatz,
der für sie kein doppelter war: Sie wollten das Neue in der Kunst
(im Sinne der Erprobung neuer Darstellungsformen und Ausdrucksmittel),
und sie wollten neue Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen und vermitteln.
Beides setzt die Bereitschaft zur Überschreitung konventioneller Grenzen
und zum Tabubruch voraus. Und beides ist für die Surrealisten nicht
voneinander zu trennen, da sie zwischen Kunst und Lebenspraxis nicht trennen.
Sie postulieren - und das gehört schon als ein konstitutiver Zug zum
Programm surrealistischer Ästhetik - eine Integration der Kunst in
die Lebenspraxis und, wenn man so will, eine Integration der Lebenspraxis
in die Kunst. Peter Bürger hat dies in seinem Buch über den französischen
Surrealismus betont:
„Die Kunst erhält (...) eine grundlegend
andere Funktion als bisher: sie tritt nicht mehr als selbständiger
Bereich dem Leben gegenüber, sondern erhebt den Anspruch, unmittelbar
an der Gestaltung der individuellen Lebenspraxis mitzuwirken. Die von den
Surrealisten immer wieder proklamierte Vereinigung aller Gegensätze
läßt sich wahrscheinlich auf den einen, für die grundlegenden
Gegensatz von Kunst und Leben zurückführen. Jedes nennenswerte
surrealistische Werk ist ein Versuch, diesen Gegensatz zu überwinden.“
(Peter Bürger: Der Französische Surrealismus. Studien zum Problem
der avantgardistischen Literatur. Frankf./M. 1971 [im folgenden: Bürger,
FS], S.107).
Plakativ gesagt, ist der Surrealismus rebellisch.
Seine Rebellion gegen bestehende Lebensverhältnisse und Formen der
Praxis (die künstlerische eingeschlossen) geht einher mit der Infragestellung
allgemein als gültig akzeptierter Regeln, ja mit der Bereitschaft
zur Provokation. Peter Bürger hat in seinem Buch über den frz.
Surrealismus von 1971 unter Anspielung auf die politischen Ereignisse von
1968 von der Aktualität des Surrealismus gesprochen; gemeinsam sei
der Maibewegung und den Surrealisten die „Revolte gegen eine als Zwang
empfundene Gesellschaftsordnung“, der „Wille zur totalen Umgestaltung der
zwischenmenschlichen Beziehungen“ und das „Streben nach einer Vereinigung
von Kunst und Leben“ (Bürger, FS, S. 7). Die „radikale Infragestellung
des Wirklichen“ hat laut Peter Bürger „das Zentrum der surrealistischen
Intentionen“ ausgemacht (FS, S. 13). An ausschließlich literarisch-künstlerischen
Innovationen waren die Surrealisten nicht interessiert. In diesem Sinn
ist es zu verstehen, wenn Bürger schreibt, der Surrealismus intendiere
„keine literarische Erneuerung, er will nicht neue Formen an die Stelle
überlebter Formen setzen, sondern eine Veränderung der Mentalität
des Menschen bewirken“ (FS, S. 17). Im Zeichen der Aufhebung der Grenze
zwischen Kunst und Lebenspraxis verstand sich Kunst als im weiteren Sinne
politische Aktion.
·Grundlegendes
II: Aufhebung von Grenzen - Einebnung von Gegensätzen
Wenn die Surrealisten die Differenz zwischen Kunst
und Leben einzuebnen suchten, so ergab sich dies konsequent aus anderen
leitenden Ideen. Diese legten es allesamt auf die Einebnung von Gegensätzen
an. Die Revolte der Surrealisten zielte auf nicht weniger als auf die dem
abendländisch-rationalen Denken vertrauten Leitdifferenzen. Und weil
auch die Differenz zwischen Sein und Schein, Realität und Illusion,
Erfahrung und Imagination attackiert wurde, war es plausibel, daß
man zwischen Kunst und Literatur einerseits, Realitätserfahrung und
Lebenspraxis andererseits keine Trennungslinie mehr ziehen wollte.
„Der Surrealismus zielt (...) auf die Einbeziehung von Traum, Zufall, Wunderbarem ins Leben, was die Aufhebung der herrschenden Gegensätze von bewußt/unbewußt, rational/irrational, wirklich/imaginär, Handeln/Denken, Leben/Kunst bedeutet.“ (Jürgen Grimm/Margarete Zimmermann: Literatur und Gesellschaft im Wandel der III. Republik. In: Jürgen Grimm (Hg.). Französische Literatur-Geschichte (Metzler), Stuttgart, 2. Aufl. 1991, S. 301)
Ebenso plausiblerweise interessieren sich die Surrealisten
für solche Dimensionen der Erfahrung und solche Erlebnisse, welche
Übergänge zwischen Bewußtem und Unbewußtem, Erfahrung
und Imagination, Rationalem und Irrationalem stiften. „Traum“, „Zufall“
und „Wunderbares“: damit sind die drei zentralen Stichworte genannt, mit
denen sich die surrealistischen Interessen benennen lassen: drei Schwellen
zwischen Kunst und Leben, zwischen Erfahrung und ästhetischer Imagination.
Alle drei, „Traum“, „Zufall“ und „Wunderbares“, prägen aus surrealistischer
Sicht die Beziehung des Menschen zur Welt sowie das literarisch-künstlerische
Schaffen.
„Ich glaube an die künftige Auflösung
dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit
in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.“
(Breton: Manifeste, S. 18; erstes Manifest)
(4) Grundlegendes III: Gegenstände
surrealistischer Demontage
Die kritischen Attacken der Surrealisten gelten
verschiedenen Gegnern: Zunächst und vordergründig der Alltagswelt
mit ihren Spielregeln und Konventionen, ihren Normen, Hierarchien und festgeschriebenen
Strukturen. Dann, auf einer höheren Ebene, den Strukturen des abendländischen
Denkens selbst, den Ordnungen des Diskurses, dem System rationaler Begriffe,
den gültigen Leitdifferenzen, an denen sich das rationale Denken zu
orientieren pflegt, dem Primat des Verstandes, der Privilegierung von einzelnen
Bereichen der Erfahrung und Praxis auf Kosten anderer, der Verdrängung
des Irrationalen, Traumhaften, Lebendigen und Anarchischen im Menschen.
Auf einer wiederum anderen Ebene dann auch den politischen Herrschaftsverhältnissen
und Strukturen. Die Attacken gegen Konventionen des Alltagslebens, ästhetische
Konventionen, Konventionen des Denkens (gängige Differenzierungen),
Ausgrenzungen des begrifflich-rational nicht zu Fassenden und konkrete
Machstrukturen erfolgen nicht getrennt, sondern integrativ mit jeder literarisch-künstlerischen
Aktion. Miteinander gekoppelt werden die Polemik gegen Zweckrationalismus,
bürgerlichen Lebensstil, Konventionen im Alltagsleben und in der Kunst.
„Der Surrealismus, wie ich ihn verstehe, manifestiert
genügend unseren absoluten Non-Konformismus, um nicht im Prozeß
gegen die reale Welt als Entlastungszeuge zitiert werden zu können.
Er wird vielmehr nur den vollkommenen Zustand der Distraktion, der Zerstreutheit,
rechtfertigen können, den wir hier unten eines Tages wohl zu erreichen
hoffen. (...) Die Welt ist nur sehr bedingt auf der Höhe des Denkens
(...). Der Surrealismus ist der ‘unsichtbare Strahl’, der uns eines Tages
unsere Gegner besiegen lassen wird. ‘Du zitterst nicht mehr, Gerippe.’
In diesem Sommer sind die Rosen blau; der Wald ist aus Glas. Die Erde,
grün ausgeschlagen, macht nicht mehr Eindruck auf mich als ein Geist
aus einer anderen Welt. Leben und nicht mehr leben, das sind imaginäre
Lösungen. Die Existenz ist anderswo.“ (Breton: Manifeste, S. 43)
Radikaler noch klingt dies im zweiten Manifest (1930),
wo Breton die Beziehung des Surrealismus zur alltäglichen Wirklichkeit
und ihrem Erleben so beschreibt:
„(...) gerade aus dem ekelerregenden Gebrodel
dieser sinnentleerten Abbilder erwächst und nährt sich das Verlangen,
über die unzulängliche absurde Unterscheidung von schön
und häßlich, von wahr und falsch, von gut und böse hinauszugelangen.
Und da von der Stärke des Widerstands, dem dieser Entwurf begegnet,
der mehr oder weniger entschiedene Aufschwung des Geistes zu einer endlich
bewohnbaren Welt abhängt, wird man begreifen, daß der Surrealismus
von einem Dogma der absoluten Revolte, der totalen Unbotmäßigkeit,
der obligatorischen Sabotage nicht zurückgeschreckt ist und daß
er sich einzig von der Gewalt etwas verspricht. Die einfachste surrealistische
Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße
zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.
Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit
dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung
aufzuräumen - der gehört eindeutig selbst in diese menge und
hat den Wanst ständig in Schußhöhe.“ (Breton: Manifeste,
S. 56)
Wollte man gewichten, so dominiert die Kritik an
ästhetischer Trivialisierung über andere zivilisationskritische
oder politische Anliegen- oder bildet
doch deren Kernstück.
„Unter allen ihren Erscheinungsformen bekämpfen
wir die poetische Nichtsagenheit, die Unterhaltungskunst, die gelehrte
Forschung, die reine Spekulation - wir wollen nicht gemein haben weder
mit den kleinen noch mit den großen Sparern des Geistes. (...) nichts
wird uns hindern, mit diesem Mist fertig zu werden.“ (Breton: Manifeste,
S. 59)
Ihrem Selbstverständnis nach repräsentieren
die Surrealisten die Moderne, weshalb sie historischen Ableitungen gegenüber
auch reserviert bleiben.
„Diese Geisteshaltung, die wir surrealistisch
nennen und die sich ganz von sich selbst erfüllt zeigt, scheint es
offenbar immer weniger nötig zu haben, daß man ihr Vorläufer
sucht; ich für mein Teil widerspreche den Chronisten (...) jedenfalls
nicht, die sie als spezifisch modern bezeichnen.“ (Breton: Manifeste, S.
57)
Dabei jedoch gibt es Vorläufer und Voraussetzungen,
ohne die der Surrealismus gar nicht denkbar gewesen wäre.
·Voraussetzungen:
Der Surrealismus und das Erbe (a) der Romantik, (b) Nietzsches,(c ) der
Psychoanalyse
Die surrealistische Programmatik entsteht nicht
aus dem Voraussetzungslosen. Drei wichtige Erbschaften vor allem sind es,
welche die Surrealisten antreten: das der Romantik (insbesondere der deutschen),
das Nietzsches und das der Psychoanalyse. Dazu nur wenige skizzenhafte
Bemerkungen:
(a)Schon die Romantik
hatte die Grenze zwischen Realem und Imaginärem überschritten
und hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit in Frage gestellt; schon die Romantiker
hatten die Welt als vieldeutig, doppelbödig, unenträtselbar,
dem rationalen Verstand und seinen Begriffen widerständig gesehen.
Schon in der Romantik hatte sich die Literatur als eine Instanz vorgestellt,
welche die Grundkategorien und Leitopppositionen des rationalen Diskurses
zu unterlaufen vermochte. Und schon in der Romantik waren Traum, Entrückungs-
und Rauschzustände als wichtige Quellen der Erfahrung und Selbsterfahrung
aufgewertet worden.
(b)Nietzsche dann
hatte die Fundamente des abendländischen Denkens und des rationalistischen
Diskurses endgültig und irreversibel erschüttert. Er hatte Kritik
an den Leitkategorien des Denkens geübt, insbesondere an der Kategorie
der Kausalität, d.h. am Projekt der Suche nach „Gründen“. Laut
Nietzsche macht sich das Denken (abbreviatorisch gesagt) seine Welt zurecht,
indem es sie mittels seiner Begriffe interpretiert. Das Motiv dafür
ist der Wille zum Leben, der sich als Wille zur Wahrheit maskiert. Es existieren
aber keine als solche vorgegebenen Wahrheiten; sie alle sind zurechtgemacht.
Produkt solchen Zurechtmachens sind auch kausale Zusammenhänge, also
Bedingungsverhältnisse; der menschliche Intellekt konstruiert zu dem,
was er erfährt, „Gründe“ hinzu. Aber er operiert im Grundlosen.Nietzsche
hat, salopp gesprochen, das Projekt „Begründung“ abgeblasen - und
daraus erwächst das für die Moderne charakteristische Kontingenzbewußtsein.
Es gibt keine Gründe - nichts hat einen Grund - wir bewegen uns im
Grundlosen und erfinden Gründe. Was ist, ist beliebig (kontingent)
und könnte auch anders sein; die kausale Ableitung von etwas aus einem
Bedingungsgrund ist illusionär. All dies betrifft unter anderem auch
das Selbstverständnis der Literatur und der Kunst, die ebenfalls im
Grundlosen operieren. Eine Konsequenz ist das verstärkte Interesse
der Moderne am Zufall.
( c) Mit der Entstehung der Psychoanalyse waren
jene Dimensionen der menschlichen Psyche ins Zentrum der Aufmerksamkeit
gerückt, deren Manifestationen und Aktivitäten einer anderen
Logik folgen als der der Rationalität. Traumerfahrungen traten tendenziell
gleichberechtigt neben die Erfahrungen im Wachzustand; die Abgründe
des Inneren wurden in ihrer Unauslotbarkeit erahnbar - und gleichzeitig
verschärfte sich das Bewußtsein von der Produktivkraft, dem
Erfindungsreichtum, der Kreativität der unbewußten Instanzen
innerhalb der Seele. Entsprechend lag es nahe zu fragen, inwiefern sich
die Produktivkräfte des Unbewußten für Literatur und Kunst
fruchtbar machen ließen. Man begann sich für die kreativen Manifestationen
von Personen zu interessieren, welche nicht der Kontrolle des Bewußtseins
unterlagen - für Traumartikulationen ebenso wie für die Schöpfungen
„primitiver“, „infantiler“ oder „wahnsinniger“ Künstler, kurz, für
Dinge, die sich vor der Bewußtseinsschwelle bzw. jenseits des Reichs
rationaler Ordnung und Begriffe ereigneten.
„Es ist [so schreibt Breton] (...) unsere Aufgabe
(...) zu versuchen, immer klarer zu sehen, was sich gegen den Willen des
Menschen in den Tiefen seines Geistes tut, wenn er uns auch zuerst seine
eigenen Verwirrungen übelnimmt.“ (Breton: Manifeste, S. 79)
Der Traum wird schon im Ersten Manifest in seiner
Bedeutung anerkannt; er bedeutet für Breton insbesondere einen Zustand
der Entfernung von der Zweckrationalität des Alltags.
„Bretons Absicht ist es, dem auf die Spur zu kommen,
was man die Logik des Traums nennen könnte (...) Er weigert sich,
diesen als weniger real anzusehen als die Wahrnehmung im Zustand des Wachseins.“
(Bürger FS, S. 88)
„Traum“, „Zufall“ und „Wunderbares“: so die drei
Programmworte des Surrealismus, und man kann, wiederum vereinfachend sagen,
daß das Interesse am Wunderbaren das romantische Erbteil, das am
Zufall vor allem ein Vermächtnis Nietzsches, und das am Traum eine
Leihgabe der Psychoanalyse war. Doch auch Nietzsche hatte sich für
den Traum interessiert (vgl. Werke, hg. v. Karl Schlechta, München
1969, Bd. 1, S.1098f.; „Morgenröte“)
„Der Traum und die Verantwortlichkeit.
- In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume!
Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute!
Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts ist mehr euer Werk!
Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer - in diesen Komödien seid
ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch (...)
Ich schließe daraus: daß die große Zahl der Menschen
sich abscheulicher Träume bewußt sein muß. Wäre es
anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für
den Hochmut der Menschen ausgebeutet haben! - Muß ich hinzufügen,
daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht
für unsere Träume - aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich
sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und
Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat?“
·Leitinteressen
der Surrealisten
Im Zeichen des (mindestens) dreifachen Erbschaft
von Zufall, Traum und Wunderbarem bildete sich ein spezifisch modernes
Selbstverständnis von Kunst heraus. Das „Wunderbare“ als das, was
die Ordnung der alltäglichen Erfahrung stört und den rationalen
Begriffen des Verstandes inkompatibel ist, wurde als Gegenstand des Interesses
und der literarisch-künstlerischen Darstellung legitimiert (oder rehabilitiert).
damit war die Voraussetzung dafür geschaffen, daß sich Literatur
und Kunst dezidiert dem Unerhörten, Irritierenden, Unerklärlichen,
Rätselhaften zuwandten. „Traum“ und „Zufall“ wurden als ästhetische
Prinzipien - als Impulsgeber bzw. kreative Instanzen - legitimiert (bzw.
rehabilitiert). Surrealistische Literatur und Kunst widmeten sich der Darstellung
oder der Simulation von Traumerfahrungen und traumhaften Dimensionen des
Wirklichen. Und sie standen im zeichen des Versuchs, das Zufällige
in den ästhetischen Prozeß zu integrieren. Dabei kam den Literaten
und Künstlern die Doppeldeutigkeit des Zufalls gerade gelegen: Zufall
ist zum einen ein Ausdruck für das, was einem „zufällt“ - im
Sinne höherer Schickung: ungeplant, ungerufen, aber als Zeichen des
Wirkens einer der rationalen Kontrolle entzogenen und dem Willen nicht
unterworfenen höheren Instanz. Das Wort „Zufall“ ist zum anderen aber
auch ein Synonym für das schlechthin Grundlose, Beliebige, Kontingente.
Die Einschätzung dessen, was in Literatur und Kunst unter Mitwirkung
des Zufalls erzeugt wird, ist notwendigerweise ambivalent - ähnlich
übrigens wie die Einschätzung dessen, was durch Träume zustande
kommt: Es könnte sein, daß diese literarisch-künstlerischen
Erzeugnisse eine tiefere Dimension des Wirklichen und der Seele zum Ausdruck
bringen, daß sie eine Sinnfülle bergen, welche der beschränkte
Verstand kaum oder gar nicht ermessen kann, daß sie also unendlich
viel sagen - es könnte aber auch sein, daß sie gar nichts
sagen, daß sie sinnlos sind, weil sich nichts und niemand in ihnen
ausdrückt.
Diese Ambivalenz von Texten und Bildern, die unter
dem Einfluß von Traum und Zufall entstehen, ist gewollt. Allein durch
ihre ambivalente Existenz brüskieren jene Werke den Intellekt, der
verstehen im Sinne von entschlüsseln will. Und zugleich setzen sie,
die ja Zeugnisse für das kreative Potential des Unbewußten und
des Zufalls sind, im Leser und Betrachter kreative Potentiale frei: Auch
das, was an sich nichts sagt, kann uns etwas sagen, ja es sagt uns immer
schon etwas, indem es unsere Verstandesbegriffe in ihre Grenzen verweist,
die Spielregeln unserer Alltagserfahrung unterläuft, eine andere Wirklichkeit
und ein anderes Wissen aufruft. Der Prozeß der Kunst findet im Leben
des Betrachters also seine Fortsetzung.
Zwei Fragen können als Leitfaden dienen, wenn
es um den Surrealismus geht, und ihnen entsprechen zwei ebenso aufschlußreiche
Projekte. Die erste Frage lautet: Wie entsteht das Werk und was (nicht
„wer“) drückt sich in ihm aus? Ihre Konsequenz ist das intensive Interesse
der Surrealisten am literarisch-künstlerischen Produktionsprozeß
und seinen Implikationen, konkreter gesagt, vor allem am Nicht-Rationalen
und Un-Bewußten. Die zweite Frage lautet: Wie wirken sich Literatur
und Kunst auf den Prozeß der Erfahrung und Interpretation von Wirklichkeit,
mithin auf das „Leben“, aus? Hieraus resultieren literarische und künstlerische
Experimente zur Destabilisierung konventioneller Sehweisen und Lesemuster.
Breton und seine Gefährten sind anderen Sinnordnungen - denen des
Traums, denen des Wunderbaren, denen des Wahnsinns auf der Spur. Die Lösung
von Logik und Rationalität versteht sich als ein Akt der Befreiung.
„Bei Tzara richtet sich der Angriff gegen
die Logik überhaupt, ihre Schlüsse sind falsch, illusorisch,
sie töten die Unabhängigkeit des Individuums. Breton richtet
sich nicht gegen die Logik, sondern gegen die Vorherrschaft der Logik.
Nicht fehlerhafte Operationen wirft er ihr vor, sondern er kritisiert die
Art ihrer Anwendung. (...) [Für ihn] stellt die Logik eine Verengung
der geistigen Tätigkeiten des Menschen dar. (...) Während bei
Tzara der Ablehnung der Logik keine Aufwertung der anderen Geisteskräfte
die Waage hält, wird von Breton die Imagination gepriesen. Ähnliches
ließe sich für den Begriff der liberté erweisen, der
bei Breton eine Befreiung der unterdrückten Seelenkräfte des
Menschen meint, während er bei Tzara nur negativ auf bestehende Zwänge
bezogen ist.“ (Bürger, FS, S. 49)
·Was
ist Surrealismus? Die Manifeste
Bretons Manifeste des Surrealismus verraten viel
über das Selbstverständnis der Bewegung, allerdings nicht im
Sinne einfacher Informationen, die sich ohne weiteres entschlüsseln
ließen. Diese Manifeste können selbst als literarische Texte
gelesen werden, bei denen mit rhetorischen Mitteln gearbeitet und Mehrdeutigkeit
erzeugt wird. Im thematischen Zentrum steht die ästhetische Produktivität.
Imagination und Inspiration sind die wichtigsten Termini zur Charakteristik
des surrealistischen Modells ästhetischer Produktion. Im Vorwort von
1929 zu einer Neuausgabe der Manifeste schreibt Breton, die Imagination
sei es, welche „allein die realen Dinge schafft“ (Man. 7).
Im Ersten Manifestvon
1924 beschwört Breton die Kindheit als eine Zeit vor der Domestizierung
durchZweckrationalität herauf
und projiziert in sie die Utopie kreativen Lebens hinein.
„Wenn er [der Mensch] sich einige Hellsichtigkeit
bewahrt hat, dann kann er nicht anders, als sich nun wieder seiner Kindheit
zuzuwenden, die ihm, sosehr sie auch durch die Bemühungen seiner Dresseure
verpfuscht sein mag, dennoch als von Zauber erfüllt scheint. Das Fehlen
jeglichen sonst üblichen Zwangs läßt ihm dort die Hoffnung
auf mehrere, zu gleicher Zeit geführte leben; an diese Illusion klammert
er sich. (...). jener Phantasie, die keine Grenzen kannte, erlaubt man
[in späterer Zeit] nur noch, sich nach den Gesetzen einer willkürlichen
Nützlichkeit zu betätigen; diese untergeordnete Rolle durchzuhalten,
ist sie nicht lange fähig, und um das zwanzigste Lebensjahr zieht
sie es im allgemeinen vor, den Menschen seinem lichtlosen Schicksal zu
überlassen.“ (Breton: Manifeste, S. 11)
„Zuzulassen, daß die Imagination versklavt
wird, auch wenn es um das ginge, was man so leichthin das Glück nennt
- das hieße, sich allem entziehen, was man in der Tiefe seiner selbst
an höchster Gerechtigkeit findet. Einzig die Imagination zeigt mir,
was sein kann, und das genügt, den furchtbaren Bann ein wenig zu lösen;
genügt auch, mich ihr ohne Furcht, mich zu täuschen, zu ergeben
(als wenn man sich noch mehr täuschen könnte). Wo beginnt sie,
Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für
den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit,
richtig zu denken?“ (Breton: Manifeste, S. 12)
Das Erstes Manifest des Surrealismus von 1924 thematisiert
vor allem das kreative Potential derjenigen Zustände, die der Kontrolle
durch das Bewußtsein, der Zensur der Rationalität entgleiten:
dem Traum, dem Rausch, dem Wahnsinn, der Breton in erster Linie als Zustand
intensivierter Imaginationsfähigkeit gilt. Er selbst - und das ist
typisch - spricht nicht als Wahnsinniger, sondern über Wahnsinnige;
diese könnten im ästhetischen Experiment des Surrealismus mitspielen
- aber Breton wäre dabei zuständig für die Versuchsanordnung.
„Bleibt der Wahnsinn, ‘der Wahnsinn, den man
einsperrt’, wie man so trefflich gesagt hat. (...) Jeder weiß in
der Tat, daß die Geisteskranken nur auf Grund einer geringen Zahl
von gesetzwidrigen Handlungen eingesperrt werden (...). Daß sie gewissermaßen
Opfer ihrer Einbildungskraft sind, will ich durchaus zugestehen, insofern
als diese sie zur Nichtbeachtung gewisser Konventionen treibt, ohne welche
die Gattung Mensch sich sofort getroffen fühlt (...). Aber die tiefe
Gleichgültigkeit, die sie unserer Kritik gegenüber zeigen, und
selbst gegenüber den verschiedenen Strafen, die man über sie
verhängt - sie läßt die Vermutung zu, daß sie aus
ihrer Imagination einen großen Trost schöpfen und ihr Delirium
hinreichend auskosten, um zu ertragen, daß es nur für sie selbst
Gültigkeit besitzt. Und tatsächlich sind Halluzinationen, Illusionen
usw. keine geringzuachtende Quelle des Genusses (...). Ich könnte
mein Leben damit verbringen, die Wahnsinnigen zu ihren Bekenntnissen zu
provozieren. Sie sind Menschen von peinlicher Ehrlichkeit und einer
Unschuld, die sich nur mit der meinen vergleichen läßt. Kolumbus
mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und
seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen hat - und Dauer.“
(Breton, Manifeste, S. 12)
Die Rationalität erscheint als ein Gefängnis,
aus welchem auszubrechen eine Freisetzung der Psyche und ihrer schöpferischen
Kräfte gleichkäme.
„Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik
(...). Aber die logischen Methoden unserer Zeit wenden sich nur noch der
Lösung zweitrangiger Probleme zu. Der nach wie vor führende absolute
Rationalismus erlaubt lediglich die Berücksichtigung von Fakten, die
eng mit unserer Erfahrung verknüpft sind. (...) Unter dem Banner der
Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles
aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als
Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die
nicht der gebräuchlichen entspricht. Scheinbar durch den größten
Zufall nur ist vor kurzem ein Bereich der geistigen Welt wieder ans Licht
gehoben worden - meines Erachtens der weitaus wichtigste Bereich -, um
den man sich angeblich nicht mehr zu kümmern brauchte. Insofern sind
wir den Entdeckungen Freuds zu Dank verpflichtet. (...) Die Imagination
ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. Wenn
die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, die imstande sind,
die der Oberfläche zu mehren oder gar zu besiegen, so haben wir allen
Grund, sie einzufangen (...).“ (Breton: Manifeste, S. 15f.)
·Traum-Inspirationen
und automatisches Schreiben
Die Idee der unbewußten Produktivität
und der Produktivität des Unbewußten steht im Zentrum surrealistischer
Programmatik und prägt auch die literarische Praxis.
„SURREALISMUS, Subst., m. - Reiner psychischer
Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede
andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht.
Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen
oder ethischen Überlegung. / (...) Der Surrealismus beruht auf dem
Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter
Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel
des Denkens. Es zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen
psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen
Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.“ (Breton: Manifeste, S. 26f.)
Die Surrealisten postulierten das automatische Schreiben
nicht nur, sie praktizierten es auch. Allerdings sind die Produkte dieser
Experimente niemals im Rohzustand belassen worden. 1919 erschienen die
(bereits erwähnten) „champs magnétiques“.
„Zur Erforschung des Unbewußten regt Breton die ‘écriture automatique’ an, einen den Kontrollinstanzen des Verstandes entzogenen ‘Seelenschreiber’. Im ‘Littérature’-Kreis notiert man in gemeinsamem Experiment Äußerungen, die unter Hypnose gesprochen, geschrieben oder gezeichnet werden. Das Beispiel hatten Breton und Soupault mit den gemeinsam verfaßten Texten zu ‘Les champs magnétiques’ (1921) gegeben. Diese ‘Zeit der Schlafzustände’ wurde 1924 in Aragons Buch ‘Une vague de reves’ zusammengefaßt, und noch im Gruppenorgan ‘La Révolution Surréaliste’ (1924-29) nehmen Traumtranskriptionen zunächst breiten Raum ein. Ihr literarischer Habitus zeigt aber, daß sie redigiert und in grammatische Form gebracht sind. Ebenso baute man die ‘cadavres exquis’, jene Spiele, bei denen drei oder vier Teilnehmer den ihnen unbekannten Satz des Vorgängers weiterschrieben, automatisch nach Subjekt, Prädikat und Objekt auf und deutete gezeichnete Versionen anthropomorph als Kopf, Rumpf und Beine aus. Die ‘écriture automatique’ war also ein Scheinproblem; es ging darum, unbelastet von Tradition und Verstandeskategorien ins Werk zu gelangen. War diese Inhibitionsspanne überwunden, kamen persönliche Gestaltungsprozesse in Gang.“ (Günter Metken: Surrealismus. In: Propyläen Kunstgeschichte. Bd.: Die Kunst des 20. Jahrhunderts 1880-1940. (von Giulio Carlo Argan). Berlin 1990.S. 239ff., hier: S. 240; Unterstreichung von mir, MSE)
Jean Starobinski hat den metaphysischen Hintergrund
des Konzepts automatischer Schöpfung betont:
„Was sich im automatischen Schreiben ausspricht,
sagt Breton, ist (...) die Spontaneität des wahrhaften Gedankens,
der nicht zur Erbschaft des genies gehöre, sondern Gemeingut aller
Menschen sei. Dieses Reden, das unter den Oberflächenschichten unseres
Bewußtseins sein ‘unaufhörliches Murmeln’ dahinströmen
lasse, gehöre zum Kostbarsten unseres innersten Wesens. Gleichzeitig
behauptet Breton, daß dieses Reden in jedem Sprecher die gleiche
Botschaft übermitteln könne: es ist ein neutraler Strom, bei
dem das Bewußtsein, um die verworrene und wunderbare Stimme der Welt
aufzunehmen, sich seiner Individualität entäußern muß.
So kommt Breton dazu, im Sinne eines magischen Materialismus seine eigenen
metaphysischen Hypothesen zu formulieren:
‘Ich habe immer an der Überzeugung festgehalten,
daß nichts von alledem, was gesagt oder getan wird, den geringsten
Wert besitzt, wenn es nicht jenem magischen Diktat gehorcht. (...)’“
(Jean Starobinski: Freud, Breton, Myers. In: Wege der Forschung: Surrealismus.
S. 153. Das Breton-Zitat stammt aus: Entrée des médiums. In:
Les Pas perdus, Paris 1949, S. 150f.)
Die Traum-Texte stellen noch ein anderes typisch
surrealistisches Genre dar: sie wurden ja in Erinnerung an Träume
aufgezeichnet - wobei es unausweichlich zu nachträglichen Arrangements
kam.
Hier ein Beispiel für einen Traum-Text, der
scheinbar nur die Transkription eines Traumes ist, folglich also nicht
als Behandlung eines Themas zu lesen wäre (Antonin Artaud, in: Als
die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente. Hg. u. eingel.
v. Günter Metken [im folgenden: Als die Surrealisten...], S. 53f.:)
„Es war bei Luftaufnahmen; von einem stillstehenden
Flugzeug aus filmte man den Start einer exakt arbeitenden Maschine, die
genau wußte, was sie tat. Die Luft war voll von hartem Dröhnen,
gleich dem Licht, das sie erfüllte. Aber der Scheinwerfer verfehlte
manchmal die Maschine. Schließlich waren wir nur noch zu zweit oder
dritt auf den Tragflächen des Flugzeugs. Es hing am Himmel. Ich befand
mich in einem unangenehm-labilen Gleichgewicht. Als sich die Maschine jedoch
umdrehte, mußten auch wir eine Umdrehung im leeren Raum machen, wobei
wir uns mit Hilfe von Ringen wieder aufrichteten. Schließlich gelang
das Manöver, aber meine Freunde waren weg; es blieben nur noch die
Mechaniker, die im leeren Raum ihre Bohrer betätigten.
In diesem Augenblick riß einer der beiden
Drähte. ‘Hört auf zu arbeiten’, schrie ich ihnen zu, ‘ich falle!’
Wir befanden uns fünfhundert Meter über dem Erdboden. ‘Nur Geduld’,
antwortete man mir, ‘Sie sind zum Fallen geboren’.
Wir mußten vermeiden, die Tragflächen
der Maschine zu betreten; ich fühlte jedoch ihre Festigkeit unter
mir. ‘Ich falle nämlich!’ brüllte ich; ich wurßte sehr
wohl, daß ich nicht fliegen konnte. Und ich fühlte, wie alles
auseinanderzubrechen drohte- Ein Schrei: ‘Schießt die Rettungsschlingen
ab!’ Und sofort hatte ich das Gefühl, daß meine beine
von einem schneidend scharfen Lassoschlag weggerissen wurden, das Flugzeug
glitt unter meinen Füßen weg, und ich hing, mit den Füßen
oben aufgehängt, im leeren Raum.
Die Surrealisten, Breton vor allem, versuchten sich
an neuen Begründungen für das literarische Werk, da ihnen die
alten nicht mehr genügten. So knüpften sie an den alten Topos
der Inspiration an und verwendeten ihn erneut - allerdings unausweichlich
als Zitat.
Breton hält in seinen Manifesten ein Plädoyer
für die Inspiration: „(...) sie war es, die zu allen Zeiten und überall
dem höchsten Ausdrucksverlangen Nahrung bot“. (Breton: Manifeste,
S. 80) Octavio Paz (in seinem Essay „Der Bogen und die Leier“) betont die
strategische Funktion der Inspirationsidee. Insbesondere werde sie dazu
verwendet, eine Überschreitung der Grenzen individueller Subjektivität
zu denken
„Im Unterschied zu den früheren Dichtern,
die sich darauf beschränken, die Inspiration zu erleiden, benutzt
der Surrealismus sie als Waffe. Er verwandelt sie in Idee und Theorie.
Der Surrealismus ist keine Poesie, sondern eine Poetik, und darüber
hinaus, und noch entschiedener, eine Vision der Welt. Als äußere
Erscheinung bricht die Inspiration das subjektivistische Labyrinth auf:
sie ist etwas, das uns überfällt, kaum daß das Bewußtsein
schläfrig wird, etwas, das durch eine Tür eindringt, die sich
nur öffnet, wenn sich die Türen des Wachens schließen.
Als innere Enthüllung bringt sie unseren Glauben an die Einheit
und Identität eben dieses Bewußtseins ins Wanken: es gibt kein
Ich, und in jedem von uns streiten sich mehrere Stimmen.“ (Octavio Paz:
Der Bogen und die Leier. Frankf./M. 1983, orig.: Mexico 1965, S. 223)
Bretons Bemerkungen über Zustände der
Inspiration verdeutlichen klar, daß diese aus einem künstlichen
Arrangement heraus entstehen soll - also nicht als göttliche Gabe,
die den Menschen einfach überkommt, sondern als etwas, das der Mensch
sich selbst, genauer: das das Bewußtsein dem Unbewußten entlockt.
„Der Surrealismus (...) zielt auf nichts so
sehr (...), als auf die künstliche Reproduktion dieses idealen Augenblicks,
da der Mensch, im Banne einer ganz besonderen Gemütsbewegung plötzlich
ergriffen wird von etwas, ‘was stärker als er’ ist und ihn, gegen
allen Widerstand, ins Unsterbliche wirft. Bei hellem Bewußtsein ginge
er voller Schrecken aus diesem Abenteuer hervor. Alles hängt davon
ab, daß er nicht entlassen wird daraus, daß er dauernd weiterspricht,
solange das geheimnisvolle Läutwerk anhält: tatsächlich
gehört er von dem Augenblick, da er sich selbst nicht mehr gehört,
uns an. Diese Ergebnisse psychischer Aktivität, die dem Wunsch, etwas
zu bedeuten, denkbar fernstehen, so unbeschwert wie möglich sind von
den jederzeit wie Bremsen wirkenden Vorstellungen von der Verantwortlichkeit,
so unabhängig wie möglich von allem, was nicht das passive
Leben der Intelligenz ist - diese Ergebnissen wie wir sie durch das
automatische Schreiben und die Traumberichte gewonnen haben, sind von mehrfacher
Bedeutung: Als einzige können sie einer Kritik, die sich auf dem Gebiet
der Kunst so merkwürdig ratlos gibt, weitreichende Wertmaßstäbe
liefern, erlauben sie eine allgemeine Neuordnung der Werte im Dichterischen.
Sie bieten uns den Schlüssel, der diesen Kasten mit doppeltem Boden,
welcher sich Mensch nennt, ins Unendliche öffnet (...).“ (Breton:
Manifeste, S. 81f.; Unterstr. von mir, MSE)
Neben dem alten Topos von der poetischen Inspiration ist es die moderne Wissenschaft der Psychoanalyse, bei der Hilfe gesucht wird, wo es um die Grundlagen ästhetischer Schöpfung geht, und zwar deshalb, weil die Psychoanalyse dem Traum als einer spezifischen Dimension des Erlebens ihr intensives Interesse entgegenbringt. Diese Berührung der Interessen bezüglich des Traums sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Interesse der Surrealisten am Traum anders motiviert ist als das der Psychoanalyse. Letztere sucht die Träume zu deuten und in eine wissenschaftliche Beschreibungssprache zu übersetzen. Die Surrealisten interessieren sich für das Unübersetzbare an Träumen.
„Mit vollen Recht hat Freud seine Kritik auf
das Gebiet des Traumes gerichtet. Es ist in der Tat völlig unzulässig,
daß dieser beträchtliche Teil der psychischen Tätigkeit
(bietet doch - zumindest von der Geburt des Menschen bis zu seinem Tode
- das Denken keinerlei kontinuierliche Lösung, und ist doch die Summe
der Traum-Momente, selbst wenn man nur den reinen Traum, den des Schlafes
betrachtet, zeitlich gesehen nicht geringer als die Summe der Wirklichkeits-Momente,
sagen wir einfach: der Momente des Wachseins), daß der Traum noch
so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Tatsache, daß der gewöhnliche
Beobachter den Ereignissen des Wachseins und denen des Schlafes so äußerst
unterschiedliche Wichtigkeit und Bedeutung beimißt, hat mich schon
immer in Erstaunen versetzt.“ (Breton: Manifeste, S. 16)
Die Ordnung des Traums erscheint als Inbegriff
einer anderen Ordnung der Dinge.
„Innerhalb der Grenzen, in denen er sich vollzieht
(zu vollziehen scheint), besitzt der Traum allem Anschein nach eine Kontinuität
und Anzeichen von Ordnung. Einzig das Gedächtnis maßt sich das
Recht an, Kürzungen darin vorzunehmen, Übergänge nicht zu
beachten und uns eher eine Reihe von Träumen darzubieten als den Traum.
Ebenso haben wir nur für den Augenblick eine deutliche Vorstellung
von den Realitäten, und ihre Koordination ist Sache des Willens.“
(Breton, Manifeste, S. 16)
„(...) da es keineswegs erwiesen ist, daß
(...) die ‘Realität’, die mich beschäftigt, im Traumzustand fortbesteht,
daß sie nicht ins Unerinnerliche versinkt - warum sollte ich dem
Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen
Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die
Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird?“ (Breton, Manifeste,
S. 16f.)
Der Traum wird zum Stimulus schöpferischer
Arbeit erklärt - aber von außen, von jemandem, der nicht träumt.
„Wann werden wir schlafende Logiker, schlafende
Philosophen haben?“ (Breton: Manifeste, S. 17), so fragt Breton, und er
schildert, wiederum aus theoretischer Distanz, ein Beispiel:
„Man erzählt, Saint-Pol-Roux habe jeden
Tag, bevor er sich schlafen legte, an die Tür seines Landhauses von
Camaret ein Schild hängen lassen, auf dem zu lesen war: Der
Dichter arbeitet.“ (Breton: Manifeste, S. 18)
„Es ging darum, zu den Quellen der dichterischen
Imagination hinabzusteigen und vor allem dort zu bleiben.“ (Breton: Manifeste,
S. 21)
Solche Geschichten von der künstlerischen Produktion
sind Modellgeschichten. Nicht nach ihrer historischen Wahrheit ist zu fragen,
sondern nach ihrem Programmcharakter - auch wenn sie sich autobiographisch
geben wie bei Breton. Er habe begonnen, so berichtet Breton, seine „Aufmerksamkeit
auf mehr oder weniger vollständige Sätze zu richten, die, in
völliger Einsamkeit, beim Einschlafen, für den Geist wahrnehmbar
werden, ohne daß man für sie eine vorhergegangene Bestimmung
entdecken kann“ (Breton: Manifeste, S. 22).
„Ich hatte begonnen, übermäßig
vorsichtig und sparsam mit den Worten umzugehen, um des freien Raums willen,
den sie um sich gewähren, um ihrer Berührung willen mit unnennbaren
anderen Worten, die ich nicht aussprach.“ (Breton: Manifeste, S. 22)
„Eines Abends (...), vor dem Einschlafen,
vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir unmöglich
war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner
Stimme, einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen
Geschehnissen, in die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt
war, es war ein Satz, der mir eindringlich erschien, ein Satz, möchte
ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich davon Kenntnis und wollte
es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Dieser
Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute
behalten können, er lautete etwa so: ‘Da ist ein Mann, der vom Fenster
entzweigeschnitten wird’, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er
von der schwachen bildhaften Vorstellung eines gehenden Mannes begleitet
war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem Fenster
durchschnitten wurde.“ (Breton: Manifeste, S. 23)
„(...) sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken,
als es [das Bild] meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. Kaum
hatte ich es derart aufgezeichnet, als es auch schon von einer fast ununterbrochenen
Reihe von Sätzen abgelöst wurde, die mich kaum weniger überraschten
und mir den Eindruck einer solchen Willkürlichkeit vermittelten, daß
die Selbstkontrolle, mit der ich bis zu diesem Tag gelebt hatte, mir illusorisch
erschien und ich nur noch daran dachte, dem endlosen Streitin
meinem Innern ein Ende zu bereiten.“ (Breton: Manifeste, S. 24)
Nochmals: An die Psychoanalyse erinnern mag die
hier geschilderte Verfahrensweise der Notation von Vorstellungen, die nicht
dem Bewußtsein entsprungen sind. Aber während die Psychoanalyse
auf Erhellung des Unbewußten abzielt und nach einer Art Grammatik
der Träume fragt, sucht Breton nicht den Weg hinter die Traum-Oberflächen.
Clifford Geertz hat Freuds Anliegen so charakterisiert: Es gelte, „den
enigmatischen Text des manifesten Traumes durch den verständlichen
Text der latenten Traumgedanken“ zu ersetzen. (Clifford Geertz: Dichte
Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankf./M.
1983, S. 253). Auf diese Idee des Verständlich-Machens möchte
sich Breton hingegen keineswegs verpflichten - im Gegenteil
„Ich beschäftigte mich damals noch eingehend
mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im
Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können, und
beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen
haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden
Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt,
der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so
weit wie nur möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den
Eindruck, und ich habe ihn noch - die Art, in der mir der Satz vom zerschnittenen
Mann gekommen war, beweist es -, daß das Tempo des Denkstroms nicht
größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht
unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert.“ (Breton,
Manifeste, S. 24f.)
Es folgt die Geschichte eines Selbstversuchs.
„Mit dieser Auffassung begannen wir - Philippe
Soupault (...) und ich -, Mengen von Papier zu beschreiben, voller Verachtung
für das, was dabei literarisch herauskommen würde. Die Leichtigkeit
der Ausführung tat das ihre. Am Ende des ersten Tages konnten wir
uns um die fünfzig so gewonnene Seiten vorlesen und unsere Ergebnisse
vergleichen. Im ganzen gesehen wiesen Soupaults und meine Seiten eine bemerkenswerte
Analogie auf: die gleichen Konstruktionsfehler, Schwächen gleicher
Art, bei beiden aber auch die Illusion von außerordentlichem Elan,
starker Emotion, eine bemerkenswert große Auswahl derartig guter
Bilder, wie wir auch nur ein einziges bei langer Vorbereitung nicht zustande
gebracht hätten, etwas eigenartig Malerisches und hie und da irgendeinen
äußerst komischen Einfall. Der einzige Unterschied zwischen
den beiden Texten schien mir wesentlich in unserer jeweiligen Stimmung
zu liegen (...) und darin, daß Soupault (...) den Fehler begangen
hatte, manche Seiten mit Titeln zu versehen, ohne Zweifel aus Spaß
an der Mystifikation. Hingegen muß ich gerechterweise betonen, daß
er sich immer mit allen Kräften der geringsten Überarbeitung,
der geringsten Korrektur von Stellen widersetzte, die mir in ihrer Art
nicht gelungen erschienen. Und darin hatte er völlig recht.“ (Breton:
Manifeste, S. 24f.)
„Wir (...), die wir uns mit keiner Art von
Filtrierung abgegeben haben, die wir uns in unseren Werken zu tauben Empfängern
so vielen Widerhalls gemacht haben, zu bescheidenen Registriermaschinen,
welche nicht wie hypnotisiert auf ihre eigenen Aufzeichnungen starren -
wir dienen vielleicht einer (...) größeren Sache. Und so geben
wir in aller Rechtschaffenheit das ‘Talent’ zurück, das man uns zuspricht.“
(Breton: Manifeste, S. 28)
Mit Freud ist Breton einmal zusammengetroffen -
und man verstand sich gar nicht. Kein Wunder: Die Intentionen, aus denen
heraus sich der Surrealist und der Analytiker mit Träumen beschäftigen,
sind so unterschiedlich wie die eines Fischers, der zu lebenspraktischen
Zwecken auf Fang geht, oder auch eines Meeresbiologen, der nach Objekten
wissenschaftlicher Analyse sucht - und eines passionierten Tauchers, der
sich von Unterwasserspaziergängen faszinieren läßt.
„Allerdings akzeptiert Breton die Freudsche
Traumdeutung nur halb. Er verabsolutiert den Traum vor der Analyse, seinen
manifesten Inhalt. Hier findet er jene Formen psychischer Entfremdung,
jene widersprüchlichen Wirklichkeiten, die sich als Erlebnis der Gespaltenheit
poetisieren lassen. Das Es, nicht das Ich, bleibt die treibende Kraft.
Das Es, nicht das Ich, bleibt die treibende Kraft. Bretons enttäuschende
Begegnung mit Freud in Wien (1921) entspricht diesem Mißverständnis.
Der Analytiker verhält sich reserviert gegenüber einem Dichter,
den die wissenschaftliche Interpretation des Traums, die erst eine Behandlung
der Neurose ermöglicht, nicht interessiert. Die von Freud intendierte
Erweiterung des Ichs tangiert Breton nicht. Er kehrt die rationalistische
Schulpsychologie, aus der er kommt, sozusagen um, indem er das Unbewußte
verabsolutiert.“ (Bürger, FS, S. 240)
Experimentalcharakter, wie die Traum-Texte und die
automatischen Texte besitzt auch das Erste Manifest (1924) Bretons selbst,
da es eine Kombination verschiedenartiger Reflexionsansätze, gleichsam
eine Theoriecollage, darstellt.
„Dieses zwischen Konfession, Untersuchung
und Pamphlet schwankende Dokument demonstriert, wie unverbunden und oft
wenig durchdacht die Ansätze noch nebeneinanderstehen. André
Breton preist das Wunderbware (‘le merveilleux’) und Bizarre, das sich
in der romantischen und symbolistischen Literatur, aber auch im Schauerroman
(‘roman noire’) findet (...). Die Kindheit gilt ihm als die einzige Zeit,
in der sich das Individuum ganz realisieren kann, bevor die Zwänge
der Spezialisierung und des Geldverdienes einsetzen. Deshalb wird auch
der Traum als korrigierende Abrundung des gestutzten Wachzustands rehabilitiert.
Er fördert die verdrängten Inhalte des Unbewußten zutage,
das Spiel der Assoziationen und Fehlleistungen, dem Sigmund Freud in ‘Der
Witz und seine Beziehung zum Unbewußten’ nachgeht. Träumend
vollzieht man jene freien, alogischen Verbindungen, die Breton in den Dichtungen
von Lautréamont und Pierre Reverdy, in den Bildern Giorgio de Chiricos
und in den Collagen von Max Ernst frappieren.“ (S. 240)
Die „champs magnetiques“ sind hinsichtlich ihres Programmcharakters schwer zuzuordnen: einerseits erscheinen sie als Manifestationen seelischer Kräfte jenseits der Bewußtseinsschwelle, wodurch sie „vielsagenden“ Charakter bekämen, andererseits als Spielart der Zufallskunst, was sie dem Verdacht aussetzt, nichts-sagend zu sein. Einzelne Theoretiker der surrealistischen und dadaistischen Zufallskunst haben die Nähe zu magischen Praktiken betont, so Hans Richter, für den das „automatische Schreiben“ auch ein Weg hinter die Oberfläche des Bekannten und Vertrauten ist.
Hans Richter hat nachträglich klar gestellt,
daß hier enge Berührungen mit dem Dadaismus bestanden:
‘Uns erschien der Zufall als eine magische
Prozedur, mit der man sich über die Barriere der Kausalität,
der bewußten Willensäußerung hinwegsetzen konnte, mit
der das innere Ohr und Auge geschärft wurden, bis neue Gedanken- und
Erlebnisreihen auftauchten. Der Zufall war für uns jenes ‘Unbewußte’,
das Freud schon 1900 entdeckt hatte.’ (...) ‘Es handelte sich darum,
die ursprüngliche Magie des Kunstwerkes wiederherzustellen und zu
jener ursprünglichen Unmittelbarkeit zurückzufinden, die uns
auf dem Wege über die Klassik (...) verlorengegangen war. Indem wir
das Unbewußte, das im Zufall enthalten ist, direkt anriefen, suchten
wir dem Kunstwerk Teile des Numinosen zurückzugeben, dessen Ausdruck
Kunst seit Urzeiten gewesen ist.’“ [Hans Richter]
‘Selbst in unseren Gesprächen und Diskussionen
begann der Zufall eine Rolle zu spielen, in der Form einer mehr oder weniger
assoziativen Sprechweise, in welcher uns Klänge und Formverbindungen
zu Sprüngen verhalfen, die scheinbar Unzusammenhängendes plötzlich
in Zusammenhängen aufleuchten ließen.’ [Hans Richter]
Nüchterner als der Vergleich mit magischen Praktiken erscheint der Vergleich mit bestimmten Gesellschafts-Schreibspielen, bei welchen es darum geht, zunächst unzusammenhängende Einzelelemente in eine Ordnung zu fügen - also mit im weiteren oder auch engeren Sinn aleatorischen Praktiken.
„Parallelen zwischen Literatur und Musik, aleatorische Ansätze betreffend, lassen sich im Dadaismus sowie im Surrealismus feststellen, wo Zufall auf sprachlicher Ebene mitspielt. (...) Als berühmtestes (Bei-)Spiel des Surrealismus, der zur Auflösung von Logik und Syntax, zum Verzicht auf rationale Faßbarkeit und bewußte Formgebung hinführt, ist das Phänomen des cadavre exquis zu nennen. Hierbei schreiben verschiedene Mitspieler jeweils einen bestimmten, vorher festgelegten, Satzteil nacheinander auf, so daß der nächste Spieler das bereits Geschriebene nicht kennt. Durch diese Art des procedere bringen solche verbale Collagen wunderlich-lächerliche Wirkungen hervor. Der Zufall oder die Zufälligkeit des Ergebnisses ist insofern gelenkt, als eine vorher bestimmte Person das Subjekt, eine andere das Objekt usw. des Satzes liefert. / Musikalisch entspricht dies der Gruppenimprovisation, in der das zufällige Moment in der Regel jedoch nicht im Nacheinander, sondern im Simultanen liegt.“ (Histor.Wörterbuch d. Rhetorik, Artikel: „Aleatorik“, Sp. 328f.)
Gebrauchsanweisungen zur Herstellung von Literatur
und Selbstinszenierungen der Surrealisten in Experimentalanordnungen sind
selbst ein integraler Bestandteil surrealistischer Literatur. „GEHEIMNISSE
DER SURREALISTISCHEN MAGISCHEN KUNST“, so nennt Breton eine solche Gebrauchsanweisung.
Sie besitzt paradoxe Züge, insofern hier Bewußtlosigkeit gefordert
wird. Als Rezept gelesen, wirken diese Anweisungen ironisch; ironisch sind
auch diverse Details.
Weitere analoge Ratschläge werden erteilt „Um
sich in Gesellschaft nicht mehr zu langweilen“, „Um Reden zu halten“ -
oder auch „Um falsche Romane zu schreiben“, was dann so klingt:
„Wer Sie auch sind, wenn Ihnen der Sinn danach
steht, verbrennen Sie einige Lorbeerblätter, und ohne das schwache
Feuer unterhalten zu wollen, fangen Sie an, einen Roman zu schreiben. Der
Surrealismus wird es ihnen möglich machen; Sie brauchen nur den Zeiger
von ‘beständig’ auf ‘Aktion’ zu stellen, und schon gelingt der Streich.
Da haben wir Personen höchst unterschiedlicher Art; ihre Namen sind
für Sie während Ihrer Niederschrift lediglich eine Frage von
Großbuchstaben, und Sie werden sich mit derselben Leichtigkeit gegenüber
den Verben betragen, wie das unpersönliche Fürwort es
gegenüber Wörtern wie: regnet, gibt, muß, usw.;
Sie bestellen sie sich sozusagen; und wo Beobachtung, Überlegung und
Fähigkeit zum verallgemeinern Ihnen nicht zu Hilfe kamen, können
Sie sicher sein, daß sie Ihnen tausend Absichten unterstellen werden,
die Sie nicht gehabt haben. Dieser Art mit einer kleinen Anzahl von physischen
und geistigen Eigentümlichkeiten ausgestattet, werden diese Wesen
- die Ihnen in Wahrheit so wenig schulden - nicht mehr von einer bestimmten
Verhaltensweise abweichen, um die Sie sich weiter nicht zu kümmern
brauchen. Eine mehr oder weniger kompliziert scheinende Handlung wird sich
daraus entwickeln, die Punkt für Punkt das rührende oder befriedigende
Ende rechtfertigt, aus dem Sie sich überhaupt nichts machen. Ihr falscher
Roman wird auf wunderbare Weise einen wirklichen nachahmen; Sie werden
reich werden, und man wird sich darüber einig sein, daß ‘etwas
in Ihnen steckt’, worin dieses Etwas sich ja schließlich auch zu
befinden pflegt.“
Es versteht sich von selbst, daß Sie
mit der entsprechenden Methode und unter der Bedingung, nichts von dem
zu verstehen, worüber Sie berichten, sich mit Erfolg der falschen
Kritik widmen können.“ (1. Manifest, hier nach: Als die Surrealisten
noch recht hatten, S. 39f.)
Man hat den Eindruck, Breton interessiert sich für
die Erfindung neuer Methoden zur Texterzeugung ebensosehr wie für
solche Texterzeugung selbst. Die Meta-Texte wuchern - und sind zugleich
keine Meta-Texte mehr.
An dieser Stelle eine Bemerkung genereller Art:
Unter den Textzeugnissen des Surrealismus sind, wie erwähnt, diverse
Manifeste und wie man so sagt theoretische Manifestationen. Aber diese
Texte unterlaufen die Grenze zwischen Literatur und Theorie. Die Literatur
wird ihre eigene Theorie, die Theorie wird Literatur. Diese Meta-geschichten
über das Erzeugen literarischer Texte können selbst als literarische
Texte gelesen werden.
Die Literatur - diese Einsicht steht dahinter -
kann nicht begründet werden; sie ist grund- und bodenlos. Darum kann
sie sich selbst erfinden und muß dies auch tun.
Bretons Manifeste sind Theorie-Akrobatik:
eine spezifische Form des literarischen Kunststücks.
„Dem Menschen wurde die Sprache gegeben, damit er
einen surrealistischen Gebrauch davon mache. Sofern er sich unbedingt verständlich
machen muß, gelingt es ihm recht und schlecht, sich auszudrücken
und damit einigen Funktionen zu genügen, die zu den primitivsten zählen.“
(Breton: Manifeste, S. 32)
„Das stärkste Bild, muß ich gestehen,
ist für mich das, das von einem höchsten Grad von Willkür
gekennzeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in
die Alltagssprache zu übersetzen, sei es, daß es einen besonders
hohen Grad an offenkundiger Widersprüchlichkeit aufweist, sei es,
daß einer seiner Ausdrücke merkwürdig verborgen bleibt,
sei es,daß es sensationell
zu sein verspricht und sich dennoch leicht auflösen läßt
(,..), sei es, daß es eine ungenügende formale Rechtfertigung
in sich selbst findet, sei es, daß es etwa Halluzinatorisches in
sich trägt, sei es, daß es ohne weiteres dem Abstrakten die
Maske des Konkreten verleiht oder, umgekehrt, daß es die Verneinung
irgendeiner grundlegenden physischen Eigenschaft in sich begreift, sei
es, daß es Gelächter auslöst. (...).“ (Breton: Manifeste,
S. 36)
Die Anweisung, Papierschnipsel zur Textproduktion
einzusetzen, wie sie ähnlich schon der Dadaist Tristan Tzara gegeben
hatte, gehört ebenso zu den Meta-Geschichten über Literatur -
und zwar unabhängig davon, daß man das Rezept tatsächlich
in Praxis umsetzen kann.
„Im übrigen sollten die surrealistischen
Mittel erweitert werden. Alles ist geeignet, um von bestimmten Assoziationen
den erwünschten Überraschungseffekt zu erlangen. Die Papier-Collagen
von Picasso und Braque besitzen den gleichen Wert wie die Einführung
eines Gemeinplatzes in eine stilistisch zurechtgefeilte Abhandlung. Man
darf sogar Gedicht nennen, was man durch eine so zufällig wie
möglich gemachte Assemblage erhält (berücksichtigen wir,
wenn Sie wollen, die Syntax), und zwar von Titeln und Titelfragmenten,
die man aus Zeitungen ausgeschnitten hat Gedicht / Ein Auflachen / von
Saphir auf der Insel Ceylon / Das schönste Stroh / hat welke Haut
/ wohl verriegelt“. (Breton: Manifeste, S. 38)
Man könnte angesichts der Idee automatischen
Schreibens und des Interesses der Surrealisten an Träumen auf die
Idee kommen, Surrealismus habe substantiell etwas mit Spontaneität
zu tun; Breton propagiert die Spontaneität ja explizit. Doch dies
wäre irrig: Wenn Spontanteität im Spiel ist, dann gewollte Spontaneität
- und das ist etwas Paradoxes. Die „Spontaneität“ der Surrealisten
ist Reaktion auf entgegengesetzte Konzeptionen der künstlerischen
Arbeit - aber eine Spontaneität, die reagiert, ist keine Spontaneität
mehr. Die große Antagonistenfigur Bretons ist der französische
Schriftsteller Paul Valéry (1871-1945), zu dessen Leitideen die
des Kalküls, der Klarheit, der Transparenz, der insgesamt durchdachten
Artifizialität gehören - und der zwischen der Sphäre des
Ästhetischen und der des Lebens nachdrücklich differenzierte.
Eine Reihe von Reflexionen Bretons und Paul Eluards mit dem Titel „Bemerkungen
zur Poesie“ sind als direkte Repliken auf Reflexionen Valéry angelegt.
Die surrealistische Poetik erweist sich auch in dieser Hinsicht als Meta-Poetik.
(Zitate aus: Als die Surrealisten noch recht hatten, 224ff.)
Valéry: „Präambel: Die Existenz
der Poesie läßt sich wesentlich leugnen; man kann daher sehr
leicht der Versuchung zum Hochmut verfallen. In diesem Punkt gleicht sie
Gott.“ (224)
Breton/Eluard: „Präambel: Die Existenz
der Poesie ist in hohem Maße gewiß; darauf muß man stolz
sein. In diesem Punkt gleicht sie dem Teufel.“ (224)
Valéry: „Ein Gedicht muß ein
fest des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein.“ (225)
Breton/Eluard: „Ein Gedicht muß ein
Zusammenbruch des Intellekts sein. Es kann nichts anderes sein.“(225)
Valéry: „’Vollendung’ ist Arbeit.“ (233)
Breton/Eluard: „’Vollendung’ ist Faulheit.“ (233)
Valéry: „Die Poesie ist ein Überleben.“
(227)
Breton/Eluard: „Die Poesie ist eine Pfeife.“ (227)
Keine Spontaneität, schließlich, im Umgang
mit dem Mythischen. Wie die deutschen Romantiker rund 130 Jahre zuvor,
denken die Surrealisten über eine neue Mythologie nach - aber das
ist etwas ganz anderes als ein naiver Umgang mit Mythen. Mythische Motive
tauchen in surrealistischer Literatur und Kunst vielfach auf - aber stets
als Zitate, die als solche gelesen werden wollen.
Als Literaturwissenschaftler entwickelt man wohl
leicht ein professionelles Mißtrauen gegenüber Leuten, die einem
erklären, wie Literatur gemacht wird. Dieses Mißtrauen könnte
auch angebracht sein, wenn man Bretons Anweisungen zur Herstellung surrealistischer
Texte oder die Programmschriften der ecriture automatique liest: Sie wirken
wie Pseudo-Begründungen der Texte, angefertigt in der ironischenAbsucht,
auf die letztliche Unbegründbarkeit poetischer Texte hinzuweisen und
Ersatz-Gründe zu erfinden.
Wir wissen bei den „automatischen“ Texten nie, ob
sie wirklich unter weitgehender Ausschaltung der Bewußtseinskontrolle
entstanden, wie wissen bei den Traumtexten nicht, ob sie tatsächlich
Traumprotokolle sind. Und diejenigen, die diese Texte verfaßten,
wußten, daß wir dies nicht würden wissen können,
und wir wissen, daß sie wußten, daß wir dies nicht würden
wissen können, etc: Wir sind in ein Spiel hingezogen worden, bei dem
die Idee zu erklären, was surrealistische Literatur ist, wie eine
- freilich zentrale - Spielfigur gehandhabt wird. Die Theorie des Schreibens
und die Theorie des schöpferischen Unterbewußten sind gleichsam
die Königinnen in der surrealistischen Partie.
Bretons Attitüde gegenüber Theorien
ist ironisch.
Was an Begründungen geliefert wird, sollte
nicht buchstäblich geglaubt, sondern auf seinen Gleichnischarakter
hin befragt werden. Dies betrifft vor allem die Konzeption des „Zufalls“,
die ja an sich schon ambivalent ist: Schicksal oder Beliebigkeit?
Die Charakterisierung von Texten als Zufalls-Texte
ist Umschreibung für deren Bodenlosigkeit - unabhängig davon,
welche Rolle der Zufall wirklich bei ihrer Entstehung gespielt hat. Bodenlosigkeit:
das heißt: diese Texte verhalten sich resistent über jeglicher
Erklärung, Explikation, Funktionalisierung, Einordnung. Und damit
ist ein wichtiger Teil des surrealistischen Programms schon realisiert.
Ein Blick auf die späteren Manifeste Bretons
zeigt gewisse Erweiterungen und Umakzentuierungen bei konstanten Leitideen:
Integration der Kunst ins Leben (oder des Lebens in die Kunst), Krisenbewußtsein,
Innovationswille.
Im ZWEITEN MANIFEST DES SURREALISMUS (1930) ist
der Ton kämpferischer, radikaler, aggressiver geworden; mit der Forderung
nach Auslösung einer Bewußtseins-Krise mit ästhetischen
Mitteln antwortet Breton auf die Krisenhaftigkeit seiner Zeit.
„Ungeachtet der verschiedenartigen Unternehmungen
all derer, die sich auf den Surrealismus berufen haben und sich noch auf
ihn berufen, wird man letztlich doch zugestehen müssen, daß
er nichts so sehr erstrebte, als in intellektueller und moralischer Hinsicht
eine Bewußtseinskrise allgemeinster und schwerwiegenster Art
auszulösen; und daß lediglich die Erreichung oder Nicht-Erreichung
dieses Zieles über seinen geschichtlichen Erfolg oder Mißerfolg
zu entscheiden hat.
Auf intellektuellem Gebiet ging und geht es
noch immer darum, mit allen Mitteln und um jeden Preis die Faktizität
der alten Antinomien aufzuzeigen und bloßzulegen, die man scheinheilig
dazu ausersehen hat, jeder ungewöhnlichen Regung des Menschen vorzubeugen
- und sei es bloß dadurch, daß man ihm eine nur dürftige
Vorstellung von seinen Möglichkeiten gegeben hat, indem man ihm die
Überzeugung nahm, sich dem universalen Zwang in nennenswerter Weise
entziehen zu können. Die Vogelscheuche des Todes, die Tingeltangel
des jenseits, der Schiffbruch der noch so schönen vernunft im Meer
der Gleichgültigkeit, der lastende Vorhang der Zukunft, die Türme
von Babel, die Spiegel des Unbeständigen, die unüberwindbare,
hirnbespritzte Mauer des Geldes, diese allzu erschütternden Bilder
der menschlichen Katastrophe sind vielleicht nur Bilder. Alles läßt
uns glauben, daß es einen bestimmten geistigen Standort gibt, von
dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges,
Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und unten nicht mehr als widersprüchlich
empfunden werden. Indessen wird man in den Bemühungen des Surrealismus
vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen
Standort zu bestimmen. Das beweist zu genüge, wie unsinnig es wäre,
ihm lediglich eine destruktive oder konstruktive Bedeutung zuzuschreiben:
der fragliche Punkt ist a fortiori derjenige, wo Konstruktion und Destruktion
nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können.“ (Breton: Manifeste,
S. 55)
„Es leuchtet aber auch ein, daß der
Surrealismus kein besonderes Interesse für das hat, was sich neben
ihm tut unter dem Vorwand der Kunst oder gar der Anti-Kunst, der Philosophie
oder Anti-Philosophie, mit einem Wort für alles, was nicht auf die
Zerstörung des Seins zielt (...). Was hätten wohl diejenigen
von dem surrealistischen Experiment zu erwarten, die sich noch um den Platz
Gedanken machen, den sie morgen in der Welt einnehmen werden?“ (Breton:
Manifeste, S. 55)
Zugleich erfolgt eine stärkere Akzentuierung
des sprachlichen Aspekts surrealistischer Literatur (1930).
„Das Problem der sozialen Aktion ist (...)
nur eine Erscheinungsform von einem allgemeineren Problem, das aufzuwerfen
der Surrealismus sich verpflichtet hat und welches das des menschlichen
Ausdrucks in allen seinen Formen ist. Wer Ausdruck sagt, sagt zuerst
einmal Sprache. Man braucht sich also nicht zu wundern, wenn man sieht,
wie sich der Surrealismus zuerst fast ausschließlich auf die sprachliche
Ebene konzentriert hat und ungeachtet aller Streifzüge, die er zwischendurch
unternahm, nicht etwa dorthin wie auf neuerobertes Land zurückkehrt.
Nichts mehr kann in der Tat daran ändern, daß dieses Land zum
großen Teil erobert ist. Die Horden von im wörtlichen Sinne
entfesselten Wörtern, denen Dada und der Surrealismus die Tore öffneten,
gehören, was auch geschehe, nicht zu denen, die sich vergeblich zurückziehen.
Diese Horden werden gemächlich, todsicher in die kleinen Gartenstädte
der Literatur, wie sie heute noch gelehrt wird, eindringen, und sie werden,
ohne viel Federlesens, feine und arme Stadtviertel vermengend, in aller
Ruhe eine menge von Elfenbeintürmen schlucken. In der Annahme, daß
alles, was unter unseren Händen merklichen Schaden erlitten, der Poesie
angehört, hat die Bevölkerung hie und da unbedeutende Dämme
errichtet.“ (Breton: Manifeste, S. 74)
Die Besonderheit surrealistischer Sprachbehandlung
wird auch 1953 nochmals betont, wobei sich Breton nun in den größeren
Kontext einer ästhetischen Moderne einordnet, welche Entautomatisierung,
Entfunktionalisierung und Erneuerung der Sprache auf ihr Programm setzt
(„Was der Surrealismus will“, 1953):
„Es ist heute allgemein bekannt, daß
der Surrealismus als organisierte Bewegung seinen Ursprung in einer weitgespannten,
auf die Sprache zielenden Aktion hat. (...)
Worum also ging es? Um nichts Geringeres als
das Geheimnis einer Sprache wiederzufinden, deren Elemente nicht mehr wie
Treibgut an der Oberfläche eines toten Meeres schwömmen. Zu diesem
Zweck mußte man sie aus ihrem zunehmend nur zweckhaften Gebrauch
herauslösen; es war dies die einzige Möglichkeit, sie zu befreien
und ihnen ihre ganze Kraft zurückzugeben.. Dieses Bedürfnis,
mit drakonischen Mitteln gegen die Herabwürdigung der Sprache vorzugehen
- hierzulande durch Lautréamont, Rimbaud, Mallarmé, in England
zur gleichen Zeit durch Lewis Carroll demonstriert-, hat sich seither unausgesetzt
gebieterisch manifestiert. Beweise dafür haben wir in Versuchen von
sehr unterschiedlichem Wert, so in den ‘Befreiten Worten’ des Futurismus,
in der recht relativen Spontaneität von ‘Dada’, auch in dem Übereifer
von ‘Wort-Spiel’-Produktionen, (...), sowie in der Entfesselung einer ‘Revolution
des Wortes’ (James Joyce, E.E. Cummings, Henri Michaux), welche folgerichtig
im Lettrimus enden mußte. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst zeigte
die Entwicklung die gleiche Unruhe.“ (Breton: Manifeste, S. 127)
Und Breton proklamiert - hier in Übereinstimmung
mit Vertretern anderer Avantgarden, wichtigen Vertretern der Nachkriegslyrik
und wichtigen Vertretern moderner Poetik, den „Wille(n) zum Aufstand gegen
die Tyrannei einer gänzlich entwerteten Sprache“ (Breton, Manifeste,
S. 127).
„Wir stehen hier (...) vor einer ganz anderen Absicht,
als sie etwa Joyce hegen konnte. Es geht hier nicht mehr darum, sich der
freien Gedankenassoziation zu bedienen, um ein literarisches
Werk hervorzubringen, das durch das Heranziehen polyphonischer, polysemantischer
und anderer Mittel jedoch eine ständige Rückkehr zur Willkür
bedeutet. Für den Surrealismus ging es einzig darum, den ‘Urstoff’
(im Sinne der Alchimie) der Sprache erfaßt zu haben: von da an wußte
man, wo er zu suchen war, und es war selbstverständlich uninteressant,
ihn nun bis zum Überdruß zu reproduzieren; das nur für
diejenigen, die sich darüber wundern, daß bei uns die Praxis
des automatischen Schreibens so schnell vernachlässigt worden
ist. Bisher hatte man vor allem hervorgehoben, daß durch die Gegenüberstellung
von Ergebnissen dieser Methode Licht auf jenen Bereich geworfen wurde,
wo das Begehren sich ungehemmt entfaltet, den Bereich, wo auch die Mythen
ihren Ursprung haben. Man hat jedoch nicht genug hingewiesen auf den Sinn
und die Tragweite eines Vorgehens, das die Sprache ihrem wahren Leben zurückzugeben
suchte; das, statt von der bezeichneten Sache zum sie überlebenden
Zeichen zurückzugehen (was sich übrigens als unmöglich erweist),
ungleich besser noch sich blitzartig den Ursprung des Bezeichnenden vergegenwärtigt.
Der Geist, der ein solches Vorgehen ermöglicht,
ja begreiflich macht, ist der gleiche, der zu allen Zeiten die Geheimphilosophie
inspiriert hat und demzufolge - da am Beginn von allem die Benennung steht
- ‘der Name sozusagen keimen muß, wenn er nicht falsch sein
soll’. Der Hauptbeitrag des Surrealismus in der Dichtung sowohl als auch
in der Kunst besteht darin, daß er dieses keimen genügend gepriesen
hat, um sichtbar werden zu lassen, wie unzulänglich alles ist, was
nicht daran teilhat.“ (Breton: Manifeste, S. 128)
Eine Art Zwischenbilanz zur Charakteristik
des Surrealismus:
1.Der Surrealismus
möchte die Trennung zwischen Kunst und Leben, die andere literarisch-künstlerische
Bewegungen proklamiert hatten, rückgängig machen, da er sie für
unsinnig hält. Entsprechend paßt es ins Programm, Fundstücke
aus dem Alltagsleben in literarische Texte zu integrieren.
2.Der Surrealismus
fällt diskursgeschichtlich gesehen in ein Zeitalter jenseits der Metaphysik
und jenseits des Glaubens an vorgegebene Ordnungen. Die Sprache, das System
der Begriffe und die Strukturen der Wirklichkeit selbst folgen nicht mehr
einer verbindlichen und stabilen Ordnung, sondern sie erscheinen als kontingent,
als beliebig. Wie instabil Ordnungen sind, erfährt man auch in anderer
Hinsicht: Die geschichtliche Wirklichkeit befindet sich in permanentem
Umbruch, wie vor allem der Erster Weltkrieg, und die Oktoberrevolution
zeigen. In einer historischen Welt, in der man offenbar jederzeit damit
rechnen muß, daß kein Stein auf dem anderen bleibt, ist die
Kunst im Positiven wie im Negativen zu ständigen Innovationen, De-
und Re-Strukturierungen aufgefordert.
3.Es scheint nun,
daß gerade der Surrealismus mit seiner Idee von der Existenz einer
„Überrealität“ eine Art Ersatz-Metaphysik kreiert, welche den
vom Auseinanderfallen bedrohten Dingen ihre Kohärenz sichern soll.
Die Auslegung des Zufalls ist besonders signifikant: Gerade dieser, als
Inbegriff des Un-Begründeten und damit Nichts-Sagenden, wird als bedeutsam,
als Ausdruck von verborgenen Zusammenhängen und Bedeutungen interpretiert.
4.Ich behaupte
nun: Das ist nur eine Auslegung, pointierter gesagt: eine literarische
Konstruktion, und nicht mit echtem Glauben zu verwechseln. Der Surrealismus,
erwachsen aus dem Bewußtsein heraus, daß es für nichts
wirklich bestimmende Gründe gibt, auch nicht für die Kunst, macht
es zu seinem Hauptziel, Ersatzgründe zu erfinden: So werden echte
Zufälle zu Schickungen.
5.Auch die mit
dem Surrealismus stets eng assoziierte Praxis des automatischen Schreibens
ist vor diesem Hintergrund zu sehen: Die Versuche der Ausschaltung des
Bewußtseins bei der Produktion von Texten sind nicht naiv als das
zu betrachten, als was sie manifestweise gelegentlich ausgegeben wurden:
Erstens sind sie nicht frei von Bewußtsein und Kontrolle; schon im
Versuchsarrangement liegt viel Planung, Und zweitens sind die publizierten
Erzeugnisse notwendig redigiert, manipuliert, der Kontrolle des Denkens
unterworfen worden. Nicht das Ergebnis ist das Entscheidende, sondern die
Versuchsanordnung als solche - und die ist ein geplantes, durchdachtes
Konstrukt.
6.Die automatischen
Schreibexperimente wie die Würdigungen des Zufalls sind Meta-Poesie:
In ihnen drückt sich der Wunsch aus, an sichNichtintentionales
als Ausdruck verborgener Intentionen zu würdigen, an sich Bedeutungsloses
als bedeutsam betrachten zu dürfen - als Zeichen unsichtbarer Zusammenhänge.
Als (proto-)literarisch behandelt, wird das Ungeplante, Zu-Gefallene zur
Literatur. Wenn man das Zufällige als Zeichen liest, dann wird es
(für den Leser) zum Zeichen: Darauf setzt der Surrealismus.
7.Und das ist
ein utopisches Projekt, dessen Bedeutung über das Ästhetische
im engeren Sinn in der Tat hinausgeht.
8.Wahnhafte Zustände
- als Zustände, in denen die Wirklichkeit anders „gelesen“ wird als
unter sogenannten normalen Umständen - sind potentielle Gleichnisse
des surrealistischen Einstellung zur Wirklichkeit. Salvador Dalí
hat der Paranoia einen Essay mit dem Titel „Der Eselskadaver“ gewidmet,
in der die folgenden Bemerkungen fallen, wie ein Licht auf die - künstlich
und bewußt erzeugte - Haltung der Surrealisten zur Wirklichkeit werfen:
„Eine Wirkung moralischen Strebens könnte hervorgerufen
werden durch den entschieden paranoischen Willen, System in die
Unordnung zu bringen. (...) Die Paranoia benutzt die äußere
Welt, um ihrer Wahnidee Geltung zu verschaffen, aber mit der erschütternden
Besonderheit, daß sie die Wirklichkeit dieser Idee für
andere gültig zu machen versucht. (...) Durch einen geradezu paranoischen
Prozeß ist es also möglich geworden, ein doppeltes Bild zu erhalten:
das heißt, die Vorstellung eines Gegenstandes, die zur gleichen Zeit
ohne die mindeste figürliche oder anatomische Veränderung die
Vorstellung eines anderen, völlig davon verschiedenen Objektes ist,
noch dazu fern jeder Art von Verunstaltung oder Anormalität, die auf
irgendeine willkürliche Einwirkung schließen lassen könnte.“
(S. Dalí: Der Eselskadaver. In: Als die Surrealisten noch recht
hatten, S. 344/345.)
Auch Starobinski, der die metaphysische Erbschaft
innerhalb des surrealistischen Programms betont, sieht die Verwaltung dieses
Erbes letztlich als Inszenierung an: Breton mache aus der „spiritistischen
Parapsychologie“ ein „Schauspiel“, doch dieses sei „von allen hypothetischen
Voraussetzungen, aus denen es doch hervorgegangen, abgeschnitten“:
„Trotz der glühenden Überzeugung
Bretons haben wir es hier doch wohl mit dem Schemen eines Schemens, dem
dichterischen Abglanz eines geisterhaften Abglanz[es] zu tun. Vom spiritistischen
Erbe sammelt der Surrealismus nur die Bilder. dasselbe tut er übrigens
mit den im Laufe der Geschichte von den überholten Kulten abgelegten
Bildern (primitive Masken etc.), den Bildern der veralteten Wissenschaften
wie der Astrologie, der Alchimie, der Wahrsagemagie, der Traumdeutungen.
Diese Bilder übernimmt er teilweise naiv - anstelle einer hinderlichen,
weil effizienten Wissenschaft -, zumeist aber befragt er sie (...) im Namen
einer Ausweitung der Bewußtseinskräfte (...). Der Surrealismus
ist damit unser größtes ‘Imaginäres Museum’ geworden, denn
er hat sich nicht auf die Kunst beschränkt. Der Mensch dieses Jahrhunderts
plaudert hier mit den Bildern, die abgelebten Formen des Glaubens buchstäblich
ausgerissen worden sind.“ (Jean Starobinski: Freud, Breton, Myers.
In: Wege der Forschung: Surrealismus, S. 154)
·Beispiele
surrealistischer Literatur und Kunst
Die Erzählung geht auf eine tatsächliche
Bekanntschaft Bretons mit Nadja zurück; sie ist protokollarisch angelegt
und verzichtet auf Ausdeutungen des Erzählten. Breton möchte
den Vorfällen keinen Sinn beilegen, sondern im Sinne der surrealistischen
Programmatik einer Logik des Wunderbaren vertrauen, die aus seiner Sicht
gegen die rationale Weltansicht steht.
„Auf jeden Fall hoffe ich, daß die Erzählung
.... dazu angetan ist, ein paar Männer zu inspirieren, auf die Straße
zu eilen, da ihnen, wenn schon nicht die Nichtigkeit, so wenigstens das
bedenkliche Ungenügen jeder sogenannten strengen Kalkulation über
sich selbst zum Bewußtsein gebracht wurde und daher jeder Handlung,
die eine regelmäßige Anstrengung erfordert oder die im voraus
überlegt werden kann.“
Nadja ist eine „Muse des Surrealismus“ bzw.
sie wird dazu stilisiert.
„Vom ersten bis zum letzten Tag habe ich Nadja
für einen ungebundenen Geist, für etwas wie eine jener Luftgenien
gehalten, die sich durch eine gewisse Magie für einen Augenblick binden
können, die man sich aber fraglos nicht unterordnen könnte.“
Das Tagebuch, in dem er die Begegnung mit Nadja
schildert, bildet nur einen Bestandteil des Gesamttextes, denn dieser berichtet
auch von anderen Ereignissen, die, zusammen mit Assoziationen und Erinnerungen
an Träume das Erlebte ergänzen sollen.
Bürger charakterisiert „Nadja“ als befremdliches
Werk: befremdlich wirken die Fotos in einem Text, den der „Leser zunächst
der fiktionalen Literatur zuzurechnen geneigt sein wird“; hinzu kommen
stilistische Unterschiede zwischen komplizierter analytischer Rede und
einfachem Bericht; erörtert werden disparate Gegenstände:
Grob gesprochen, besteht das Werk aus vier Teilen;
da sind: „eine theoretische Einleitung, eine Reihe scheinbar unzusammenhängender
Einzelbeobachtungen“, der „tagebuchartige Bericht über die Beziehung
Bretons mit Nadja“ und der „theoretische Schlußteil“.
Nadja sei „Antiliteratur“, so Bürger: „Hier
soll keine Fiktionswelt dargestellt, sondern ein Dokument mitgeteilt werden,
in dem die Erfahrung einer tabuierten Wirklichkeit faßbar wird.“
(FS, S. 125)
„Ziel des Buches ist die Mitteilung des surrealistischen
Lebenserfahrung, und diese Mitteilung wiederum ist nicht Selbstzweck, sondern
Agens, das eine Veränderung der Lebenshaltung des Lesers bewirken
soll.“ (Bürger, FS, S. 127)
Liest man die Forschungsliteratur über Nadja,
so scheint es, als lasse sich leichter sagen, was Breton hier nicht tut,
als zu sagen, was er tut.
„Breton zeichnet keine Entwicklungslinien; er beschränkt
sich auf einen relativ kurzen Zeitraum seines Lebens, und auch diesen stellt
er nicht unter das leitende Prinzip der Bereicherung des Ichs. Zwar berichtet
er durchaus nicht wahllos, im Gegenteil, das hervorstechendste Merkmal
der mitgeteilten Begebenheiten ist ihre Gleichartigkeit, aber er verzichtet
weitgehend auf eine Deutung des Materials.“ (Bürger, FS, S. 127)
„Präzis ist die Wiedergabe der einzelnen
Begebenheit, unbestimmt aber bleibt der ihr zuzuschreibende Sinn. Der Leser
erfährt zwar mit wünschenswerter Genauigkeit, was zu einem bestimmten
Zeitpunkt an einem bestimmten Ort dem Autor zugestoßen ist, aber
die Bedeutung des Geschehens wird nicht geklärt. Die Präzision
trifft also (...) ins Leere.“ FS, S. 129)
Über die Ereignisse, von denen berichtet
wird, bemerkt Bürger zu Recht:
„Auf den ersten Blick scheinen sie nur eine
gewisse Seltsamkeit gemein zu haben; bei näherem Hinsehen zeigt sich,
daß die meisten einem wiederkehrenden Grundmuster folgen: zwei zunächst
nicht zusammengehörige Fakten erweisen sich nachträglich als
zusammenhängend. Dabei wird das erste Faktum als vorausdeutender Hinweis
auf das zweite verstanden und letzteres durch eben die Tatsache, daß
es Gegenstand einer solchen Vorausdeutung ist, aus der Kette der alltäglichen
Ereignisse herausgehoben und mit einer Ära der Bedeutsamkeit umgeben.“
In „Nadja“ begegnen dem Leser in der Spur des Erzählers
also dauernd isolierte, parallele Ereignisse und Vorfälle. Thema des
Textes ist die Kontingenz der Dinge; Thema ist auch die Fremdheit der Welt.
Das Modell Spaziergang, auch für Nadja prägend,
gibt dem Zufall Raum. Die Folge der Erlebnisse und die daraus zusammengesetzte
Wirklichkeit unterliegt nicht der Steuerung, der Kalkulation, sondern dem
Zufall. Der Stift des Schreibenden folgt der Spur des Spazierwegs wie den
Träumen des Schläfers im Experiment der écriture automatique.
Ambivalenterweise wird der Zufall einerseits als sinnvoll propagiert -
aber andererseits wegen seiner Anarchie letztlich doch höher geschätzt.
Passage
de l’Opéra, 1924:
(Anfang:) „Man betet die Götter über
den Wolken heute nicht mehr an. Der Tempel Salomons ist nurmehr eine Metapher
und bietet Schwalbennestern und fahlen Eidechsen Schutz. Der Geist der
Kulte hat sich verflüchtigt, die heiligen Stätten sind dem verfall
überlassen. Doch andere Orte florieren bei den Menschen, Orte, an
denen sie unbekümmert ihr geheimnisvolles Leben führen, wo allmählich
eine tiefe Religion entsteht. Noch bewohnt die Gottheit sie nicht, sie
bildet sich dort erst. Es ist eine neue Gottheit, sie schlägt sich
auf diese modernen Ephesi nieder wie von Säure zersetztes Metall auf
den Grund eines Glases; das Leben ist es, das diese poetische Gottheit
hier erscheinen läßt, aber tausend Leute werden an ihr vorübergehen,
ohne etwas zu sehen, nur jene spüren sie plötzlich und werden
schrecklich von ihr heimgesucht, die sie dummerweise einmal wahrgenommen
haben. Metaphysik der Orte, du bist es, die die Kinder in den Schlaf wiegt,
du bist es, wovon sie träumen. Unser ganzes geistiges Gut säumt
diese Ufer des Unbekannten und des Schauders. Ich kann keinen Schritt in
die Vergangenheit tun, ohne daß mich wieder dieses Gefühl des
Fremdartigen überkommt, das mich ergriff, als ich noch das Staunen
selbst war, in einer Umgebung, wo mir zum erstenmal ein dunkler Zusammenhang
bewußt wurde, der in meinem Innern Widerhall fand. / Die ganze Fauna
der Phantasie samt ihrer Meeresvegetation stirbt dahin wie ein nächtlicher
Kometenschweif und lebt fort in den schlecht beleuchteten bereichen menschlicher
Tätigkeit. Dort tauchen die großen geistigen Leuchttürme
auf, die in ihrem Aussehen an weniger reine Zeichen gemahnen. Eine menschliche
Schwäche stößt die Tür zum Geheimnis auf und schon
befinden wir uns in den reichen des Schattens. (.-..) Im Dämmer der
Orte gibt es solche Türen zum Unendlichen, die schlecht schließen.
Dort, wo die Lebenden ihrer höchst zweifelhaften Tätigkeit nachgehen,
nimmt das Unbeseelte manchmal einen Abglanz ihrer geheimsten Beweggründe
an: unsere Städte sind so von unerkannten Sphinxen bevölkert,
die den nachdenklichen Passanten so lange nicht anhalten, als er seine
schweifenden Gedanken nicht auf sie richtet. Sie geben ihm keine todbringenden
Rätsel auf. Doch wenn er, dieser Weise, sie zu lösen versteht,
so möge er sie ruhig befragen, es sind immer nur seine eigenen Abgründe,
die er dank dieser ungestalteten Ungeheuer neu auslotet. Das Licht, das
das Ungewöhnliche heute erhellt, aber wird ihn fortan davon abhalten.
Dieses Licht herrscht seltsamerweise in jenen
gedeckten Galerien, von denen es in Paris in der Gegend der Grands Boulevards
mehrere gibt und die man irrigerweise passagen nennt. aös wäre
es in diesen des Tageslichts beraubten Gängen niemandem gestattet,
länger als einen Augenblick zu verweilen. Ihr Meergrün, (19)
irgendwie abgrundtief, hat etwas von der aufblitzenden Helle, wenn man
den Rock hochhebt und ein Bein entblößt wird. Das große
Bestreben der Amerikaner, von einem Präfekten des zweiten Kaiserreichs
in die Hauptstadt importiert, den Plan von Paris nach Meßband neu
zuzuschneiden, wird die Erhaltung dieser Menschen-Aquarien bald unmöglich
machen.“
Aragon versucht eine Lebensform zu propagieren,
die sich den Wertsetzungen des bürgerlichen Alltags entzieht, dem
Zweckrationalismus fernsteht und die Bereitschaft impliziert, sich vom
scheinbar Alltäglichen erstaunen und verwirren zu lassen.
„Wenn der Paysan de Paris ästhetisch
auch keine Einheit darstellt, eine solche vielmehr vom Autor gar nicht
intendiert ward, insofern er eine bloß ästhetische Rezeption
des Buches zu verhindern sucht, so gibt es doch eine Sinneinheit, ohne
die das Buch in eine wahllose Aneinanderreihung von Einfällen, Beschreibungen
etc. zerfiele. Zwei begriffe sind es, die diese Sinneinheit am deutlichsten
bezeichnen: vie poétique und mythologie moderne. (...) Es geht ihm
um eine Lebensform, die diejenige des tätigen Bürgers negiert
und die Elemente einer imaginären Tätigkeit, die in den Sonderbereich
des Ästhetischen verbannt sind, wieder in das Dasein einführt.
(...) Die Suche nach einer Mythologie moderne wäre (...) zu bestimmen
als der Versuch, innerhalb der modernen Lebenswelt der Großstadt
gewisse Verhaltensweisen wiedereinzuführen, die der Neuzeit nicht
zu entsprechen scheinen. (...) Zu Beginn des Manifeste du surréalisme
hat Breton die Entwicklung des einzelnen in der Gesellschaft als einen
allmählichen Verlust der vie réelle, des wahren, die Fülle
der Möglichkeiten ausschöpfenden Lebens, zugunsten von gesellschaftlich
notwendiger Arbeit und Anpassung geschildert.“ (Bürger, FS, S. 117)
Im Zeichen seiner Forderung nach einer neuen Einstellung
zu den Dingen proklamiert Aragon eine moderne Mythologie, welche die vom
Rationalismus und vom Kapitalismus verdrängte alte Mythologie ersetzen
soll und in der Alltagswelt ihren Ort hätte:
„Jedes Denken scheint seine kritische Phase
heute überwunden zu haben. Gemeinhin wird angenommen, daß die
abstrakten Begriffe des Menschen durch allgemeine und gründliche Untersuchung
mit der zeit hinreichend geklärt seien, daß menschlicher Erkenntnisdrang
selbst die letzten Winkel ausgeleuchtet habe und diesem universellen Prozeß
nichts entgangen sei, er allenfalls einer Revision bedürfe.(...)
Dieses Dunkel, von dem er, der Mensch, um das Licht zu beschreiben, absehen
zu können meint, ist der Irrtum mit seinen unbekannten Eigenschaften,
der Irrtum, der allein demjenigen, der ihn als solchen ins Auge gefaßt,
von der flüchtigen Realität zu zeugen vermöchte. Wer sieht
nicht ein, daß das Gesicht des Irrtums und das der Wahrheit gar keine
verschiedenen Züge haben können? Irrtum geht einher mit Gewißheit.
Irrtum drängt sich auf durch Evidenz. Und alles, was man von der Wahrheit
sagt, kann man ebensogut vom Irrtum sagen: man wird sich nicht mehr
täuschen. Es gäbe keinen Irrtum ohne das Gefühl für
Evidenz. (...)
Ich war so weit in meinen Gedanken, als plötzlich,
ohne daß es dafür irgendein Anzeichen gegeben hätte, Frühling
auf Erden wurde.
Das war an einem Abend gegen fünf Uhr,
an einem Sonnabend: auf einmal badet tatsächlich alles in einem anderen
Licht, und das, obgleich es noch ziemlich kalt ist; schwer zu sagen, wie
das kam. Aber wie dem auch sei, der gang der Gedanken konnte nicht der
gleiche bleiben; diese, so aus der Bahn geworfen, frönen einer herrischen
Zerstreutheit. Soeben hat man den Deckel von der Büchse der Pandora
genommen. Ich bin nicht länger Herr meiner selbst, so sehr spüre
ich meine Freiheit. Unnütz, etwas zu unternehmen. Ich werde keine
angefangene Arbeit wiederaufnehmen könne, solange diese paradiesische
Zeit währt. Ich bin das Spielzeug meiner Sinne und des Zufalls.“ (Louis
Aragon: Vorwort zu einer modernen Mythologie. In: Als die Surrealisten
noch recht hatten, S. 200/201/202)
„Jedwede Vorstellung, die ich von der Welt
habe, halte ich heute nur dann für untrüglich, wenn ich sie begrifflich
untersucht habe - so jedenfalls hat man mich durch tausend Schliche zu
denken gewöhnt. Man hat mir diesen kritischen verstand, diesen Geist
und dieses Bedürfnis mitgegeben. Und so wie jemandem, der sich aus
dem Schlaf reißt, kostet es mich einige Überwindung, mich von
dieser geistigen Gewohnheit zu trennen und einfach zu denken, was ganz
selbstverständlich zu sein scheint, indem ich mich an das halte, was
ich sehe und betaste.“ (S. 202)
„In dem dummen menschlichen Rationalismus
steckt mehr Materialismus als man denkt. Diese Angst vor dem Irrtum, an
die ich in meinemGedankenflug alle
Augenblicke erinnert werde, diese Manie, alles zu kontrollieren, hat zur
Folge, daß die Menschen der Einbildungskraft der Vernunft derjenigen
der Sinne den Vorzug geben. Nichtsdestotrotz ist immer die Einbildungskraft
allein am Werk. Nichts kann mir für Realität bürgen, nichts
bürgt mir dafür, daß ich sie nicht auf eine wahnwitzige
Interpretation gründe, weder die Strenge einer Logik noch die Intensität
einer Empfindung.“ (S. 203)
203: „Jedem Irrtum der Sinne entsprechen wunderliche
Blüten der Vernunft. Wunderbare Gärten absurder Überzeugungen,
Ahnungen, Obsessionen und Wahnvorstellungen. Da nehmen unbekannte und wechselnde
Götter gestalt an. Ich will mir diese fahlen Gesichter, diese Hanfkörner
der Phantasie einmal betrachten. Wie schön ihr seid, in euren Sandschlössern,
Rauchsäulen! Neue Mythen entstehen auf Schritt und Tritt. Wo der Mensch
gelebt hat, setzt die Legende ein, ja dort, wo er lebt. Ich will mich nur
noch mit diesen verachteten Wandlungen befassen. das Lebensgefühl
von heute ist morgen schon ein anderes. Eine Mythologie wird geknüpft
und löst sich wieder auf. Es ist dies eine Wissenschaft vom Leben,
an der nur jene beteiligt sind, die von ihr keine Ahnung haben. Es ist
eine lebendige Wissenschaft (...). Werde ich mir lange das Gefühl
für das täglich Wunderbare bewahren?“ S. 203)
Peter Bürger hat betont, daß Aragons
Konzept einer „modernen Mythologie“ als „Protest gegen die Entfremdungserscheinungen
der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft begriffen“ werden konnte:
ästhetisches Programm und politische Idee finden sich also auch hier
vereint. (Peter Bürger: Einleitung. In: Wege der Forschung: Surreaslimus,
S. 10.) Und Bürger weist zu Recht darauf hin, daß etwa Walter
Benjamin um 1930 noch die Hoffnung der Surrealisten „auf die Möglichkeit
einer ästhetischen Praxis, die nicht vom Leben abgespalten, sondern
zugleich revolutionäre Praxis wäre“, geteilt hat (Bürger,
Einleitung, S. 2); auch Benjamin hegte die Hoffnung, „Kunst könnte
in einer im weitesten Wortsinne politischen Praxis aufgehen.“ (S. 3). Hingegen
hat Theodor W. Adorno den Surrealismus einige Jahrzehnte später heftig
kritisiert. Er hält das ideologische Fundament des Surrealismus, insbesondere
die Traumtheorie, für irrig und die „surrealistischen Schocks“ für
„kraftlos“, nachdem die „europäische Katastrophe“ hereingebrochen
ist (Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus, Zuerst
1956. In: Wege der Forschung. Surrealismus, S. 32ff., hier: S. 33)
Zum vorläufigen Abschluß: Ein später
Briefwechsel Breton/Freud entspinnt sich als höflicher, aber subkutan
unfreundschaftlicher Streit um die Provenienz der Gedanken, die Vorarbeiten
anderer, die in die Freudsche „Traumdeutung“ Eingang fanden - über
die Nennung eines Vorläufers, der laut Breton hätte genannt werden
müssen, was aber unterblieb (wie Freud klarstellt, als Folge der Nachlässigkeit
beim Druck von Neuauflagen)... also mitnichten etwas zur Sache „Traum“.
Im letzten Brief Freuds das resignierte Bekenntnis,
dem sich vielleicht der (oder die) ancshließen mag, der (...) einen
Überblick über das geben soll, was „Surrealismus“ ist::
„Sehr geehrter Herr... (es folgt der Brief,
der eine kurze Auslassung über vorher Verhandeltes enthält; schließlich
der letzte Absatz:) „Und nun ein Geständnis, das Sie tolerant aufnehmen
wollen! Ich erhalte soviel Zeugnisse dafür, daß Sie und Ihre
Freunde meine Forschungen schätzen, aber ich selbst bin nicht im Stande
mir klarzumachen, was Ihr Surréalisme ist und will. Vielleicht brauche
ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen. /
In herzlicher Ergebenheit
Ihr
Freud.“ (Anhang zu Breton: Die kommunizierenden Röhren,
München 1980, S. 131)
In den letzten 20 Minuten sollen Beispiele surrealistischer
Texte vorgestellt werden, mit Aus-Blicken auf Bilder (die aber nicht mein
Hauptgelände oder -gewässer sind). Den Leitfaden bildet das Thema
Wasserwelt - nicht zufällig, denn der Surrealismus ließe sich
metaphorisch als ein Abenteuer in der Wassertiefe umschreiben - und nicht
zufällig nehmen Darstellungen von Wasserwelten sowie verwandte Motive
in der surrealistischen Literatur wie in der bildneden Kunst einen erheblichen
Raum ein. Die vorgestellten Beispiele haben demnach die doppelte Funktion,
zum einen zu illustrieren, wie surrealistische Texte aussahen, zum anderen
dem Surrealismus bei seiner metaphorischen Selbstbespiegelung zu helfen.
Dazu zeige ich Bilder Magrittes, die aber
nicht weiter kommentiert seien.
(Textbeispiel 1)
Nochmals zum Paysan de Paris: Wie Peter Bürger
betont, kommt in diesem Roman der Beschreibung eine größere
Bedeutung zu als im realistischen Roman, was überraschen könnte,
da sich Breton im surrealistischen Manifest von 1924 gegen die Beschreibungsliteratur
gewandt hatte. Bei Aragon jedoch ist laut Bürger die Beschreibung
„nicht mehr funktional auf etwas anderes hingeordnet, sondern Subjekt der
Erzählung“; ihr Gegenstand ist die „Realität (...), so wie die
dem Erzähler erscheint“ (FS, S. 104, S.105).
Bürger zieht als Vergleichsrelat eine Passage
aus Balzacs Erzählung „Le peau de chagrin“ heran: die Darstellung
eines Ladens mit exotischen und heterogenen Objekten, in der es über
den Helden einleitend heißt: „il sortit de la vie réelle,
monta par degrés vers un monde idéal, arriva dans les palais
enchantés de l’extase (...).“ Bei Aragon gibt es eine inhaltlich
analoge Ladenszene: Der Erzähler besucht ein Geschäft und erlebt
die „Verwandlung des Stockgeschäfts in eine submarine Landschaft,
wo ihm ein von einer Deutschlandreise bekanntes Mädchen als Sirene
im Schaufenster erscheint“ (FS, S. 105). Bürger betont, daß
Balzac und Aragon die von den jeweiligen Protagonisten erfahrene Verwandlung
der Wirklichkeit bei aller äußeren Analogie unterschiedlich
akzentuieren und motivieren.
„Während Balzac keinen Zweifel daran
läßt, daß die Verwandlung der Wirklichkeit auf den Zustand
dessen zurückzuführen ist, der sie erlebt, läßt Aragon
die Frage im unklaren; der Leser hat die Möglichkeit, die Verwandlung
als reale hinzunehmen oder aus dem angeheiterten Zustand des Erlebenden
zu erklären. (...) bei Balzac ist der Erlebende Objekt der Darstellung
(d.h. er wird gezeigt), bei Aragon dagegen Subjekt (d.h. er lädt zur
Identifikation ein), der Abstand zwischen erlebendem und erzählendem
Ich wird von Aragon nicht als Distanz schaffender Faktor eingesetzt. Der
entscheidende Unterschied zwischen den beiden Texten betrifft deren Funktion
innerhalb der beiden Werke. Was bei Balzac den Charakter einer Vorbereitung
auf das Kommende hat, also auf etwas anderes verweist, meint bei Aragon
sich selbst. Während bei Balzac die Erlebnisse des Helden im Antiquitätenladen
auf das zentrale Symbol des Romans, die peau de chagrin hindeuten, steht
bei Aragon die Episode im Stockgeschäft allein; sie hat keine funktionale
Bedeutung innerhalb des Buches, sondern ist nur durch Analogie mit anderen
Episoden verbunden.“ (Bürger, FS 105/106)
Aragons Ich-Erzähler begibt sich flanierend
in eine Passage - und ist plötzlich in einem Aquarium.
„Wie groß war meine Überraschung,
als ich, angelockt von einem mechanischen, monotonen Geräusch, das
aus dem Schaufenster des Stockhändlers zu kommen schien, sah, daß
dieses in einem grünlichen, irgendwie submarinen Licht badete, dessen
Quelle unsichtbar blieb. Es hatte etwas vom Phosphoreszieren der Fische,
wie ich es am Pier von Port-Bail im Cotentin habe feststellen können,
als ich noch ein Kind war. Doch obgleich ich mir sagte, daß schließlich
auch Stöcke die Leuchteigenschaften der Meeresbewohner haben könnten,
schien es keine physikalische Erklärung für diese übernatürliche
Helle zu geben und schon gar nicht für das Geräusch, das dumpf
das Gewölbe erfüllte. Ich erkannte letzteres wieder: es war jenes
Rauschen der Muscheln, das immer noch das Erstaunen der Dichter und der
Filmstars erregt. Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra! Die
Stöcke wiegten sich sanft wie Seegras. Ich war noch ganz im Banne
dieses Zaubers, als ich bemerkte, daß eine schwimmende Gestalt zwischen
die verschiedenen Reihen der Auslage schlüpfte. Sie hatte nicht ganz
die Normalgröße einer Frau, machte mir aber auch nicht den Eindruck
einer Zwergin. Daß sie so klein war, schien wohl an der Entfernung
zu liegen, obgleich sich die Erscheinung direkt hinter der Scheibe bewegte.
Ihr Haar war aufgelöst und zuweilen klammerte sie sich mit den Fingern
an die Stöcke. Ich glaubte, es im wahrsten Sinne des Wortes mit einer
Sirene zu tun zu haben, denn mir schien, daß diese bezaubernde Erscheinung,
die nackt war bis zum Gürtel, den sie übrigens recht tief trug,
nach unten hin in ein metallisches oder schuppiges oder vielleicht rosenblättriges
Kleid zulief, doch als ich meine Aufmerksamkeit auf das Gewoge konzentrierte,
das sie in die zebragestreifte Atmosphäre trug, erkannte ich diese
Person trotz ihrer verhärmten Züge und ihres verstörten
Ausdrucks plötzlich wieder. In der libidinösen Zeit der schimpflichen
Besetzung des Rheinlandes und der Wonnen der Prostitution war ich am Ufer
der Assr der Lisel begegnet, die sich gesträubt hatte, den Ihren auf
dem Weg ins Elend zu folgen, und die in der Sophienstraße ganze Nächte
hindurch Lieder sang, die ihr Vater, ein rheinischer Jägermeister,
sie gelehrt hatte. Was mochte sie hier zwischen den Stöcken wohl zu
tun haben? Sie sang immer noch, nach der Bewegung ihrer Lippen zu schließen,
denn das Getöse in der Auslage übertönte ihre Stimme, die
Wogen rollten über sie hinweg und schlugen hoch bis zur Spiegeldecke,
über der weder der Mond noch das drohende Dunkel der Klippen zu sehen
war: ‘Das Ideal!’ rief ich aus; in meiner Verwirrung fiel mir nichts Besseres
ein. Die Sirene sah mich erschreckt an und streckte die Arme nach mir aus.
Da befiel die Auslage ein allgemeiner Veitstanz. Die Stöcke drehten
sich um neunzig Grad nach vorne, so daß die obere Hälfte des
X der Scheibe sein V entgegenspreizte, wodurch vor der Erscheinung der
Fischervorhang aus den billigen Stöcken dichter wurde. Es war, als
wäre einem der Anblick des Schauspiels einer Schlacht durch Spieße
jäh verwehrt worden. Mit dem Rauschen des Meeres erstarb auch die
Helle.“ (...) (Louis Aragon: Pariser Landleben, München 1969, S. 29f.;
die deutsche Übersetzung hat einen etwas eigenwilligen Titel.)
„Ich muß noch erwähnen, daß die
Stockhandlung nicht ein, sondern zwei Schaufenster hat und daß die
Zauberei, die mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gehen wollte, in jenem
vor sich gegangen war, das den Boulevards am nächsten ist. (...) als
ich am Morgen zurückkam. sah alles wieder normal aus, außer
daß im zweiten Schaufenster eine Meerschaumpfeife, die eine Sirene
darstellte, wie in einer gewöhnlichen Schießbude in ihrem Ständer
zerbrochen war ohne daß es einem weiter aufgefallen wäre. Am
Ende desphantasievollen Rohrs wölbte
sich noch die doppelte Kurve ihres reizenden Busens und etwas weißer
Staub, der auf die Halbseide eines Regenschirms gefallen war, zeugte vom
einstigen Vorhandensein von Kopf und Haar.“ (Pariser Landleben, S. 30f.)
Aufschlußreich zur Erläuterung solcher
Szenen wie der Tiefsee-Szene Aragons sind einige Bemerkungen Bretons über
den Erkenntnisanspruch der surrealistischen Methodik:
„Die Haltung des Surrealismus gegenüber
der Natur wird vor allem durch die Ausgangskonzeption bestimmt, die er
sich vom poetischen ‘Bild’ gemacht hat. Es ist bekannt, daß er darin
das Mittel sah, unter Bedingungen äußerster Entspannung weit
eher als äußerster Konzentration des Geistes gewissermaßen
Lichtbögen herzustellen, erhellende Verbindungen, welche fähig
sind, zwei Elemente zu vereinigen, die so verschiedenen Kategorien der
Wirklichkeit entstammten, daß die Vernunft sich weigern würden
sie zueinander in Beziehung zu setzen, und daß man für den Augenblick
alles kritische Denken ausschalten muß, um eine solche Gegenüberstellung
anzunehmen. Dieses außergewöhnliche ständige Überspringen
von Funken - sowie man nur die Art seiner Entstehung entdeckt und sich
seine unerschöpflichen Möglichkeiten bewußt gemacht hat
- befähigt den Geist, sich von der Welt und von sich selbst eine weniger
undurchsichtige Vorstellung zu machen. Er erkennt dan, wenn auch fragmentarisch,
zumindest durch sich selbst, daß ‘alles, was oben ist, unten
ist’ und daß alles, was innen ist, außen ist. Die Welt bietet
sich ihm von neuem als ein Kryptogramm, das nur dann undechiffrierbar bleibt,
wenn man jene akrobatische Übung nicht beherrscht, die uns nach Belieben
von einem Gerät zum andern überwechseln läßt. Man
kann nicht oft genug darauf hinweisen, daß die Metapher, die im Surrealismus
jede Freiheit genießt, die Analogie (...) weit hinter sich läßt.“
(Breton: Manifeste, S. 130f.)
„(...) die poetische Intuition (...),
im Surrealismus endlich frei geworden, versteht sich nicht nur rein assimilatorisch
in Hinblick auf alle bekannten Formen, sondern kühn als Schöpferin
neuer Formen, fähig also, alle Strukturen der Welt, offenbare oder
nicht, in sich zu begreifen. Sie allein gibt uns den Faden an die hand,
der zurückführt auf den Weg der Gnosis, weil sie kenntnis der
suprasensiblen Realität ist, ‘unsichtbar sichtbar in einem ewigen
Geheimnis’.“ (Breton: Manifeste, S. 132)
(Textbeispiel 2)
André Breton: Löslicher Fisch. Edition
Sirene, Berlin. 1982. Orig.: Poisson Soluble. Das Original wurde 1924 publiziert
- als Bestandteil des ersten Manifestes des Surrealismus.
Der Text ist gegliedert in einzelne Abschnitte.
Diese haben untereinander keinen konventionellen Zusammenhang und enthalten
auch keine Geschichten, Berichte oder Reflexionen traditionellen Zuschnitts.
Was sie verbindet, ist eher die Schreibweise als solche: Sie sind angelegt
wie Protokolle, im Präsens, lesen sich wie Berichte eines traumhaften
Erlebens, bei dem sich Gegenstände des alltäglichen Lebens wie
Schwellen zu neuen Erfahrungen traumhafter Natur präsentieren. Durchgängig
wird die Suggestion einer doppelbödigen Wirklichkeit erzeugt, einer
Durchlässigkeit der Dinge auf Unbekanntes, Unerhörtes hin. Vom
Vertrauten ausgehend, findet eine Reise ins Sur-Reale statt. Um sie zu
unternehmen, sind Taucheranzüge nötig.
7. „Gäben die grellen Plakate ihr Geheimnis
preis, wären wir für uns selbst auf immer verloren, Ritter dieses
weißen Marmortisches, an dem wir jeden Abend Platz nehmen. Die hallende
Wohnung! Das Parkett ist ein Riesenpedal. Die Donnerschläge werfen
von Zeit zu Zeit das prächtige Silberzeug aus der Zeit der Inkas durcheinander.
Wir verfügen über eine große Vielfalt von verbrechen aus
Leidenschaft, unendlich fähig, die Freunde der Variante zu
erregen. Diesen Namen geben wir uns zuweilen, die Augen ineinander versenkt,
am Ende eines jener Nachmittage, wenn wir nichts mehr finden, was uns trennen
könnte. Die Zahl der Geheimtüren in uns selbst erhält uns
in bester Verfassung, aber Alarm wird nur selten gegeben. Man spielt auch,
Kraft- und Geschicklichkeitsspiele, je nachdem. Während wir schlafen,
ist die Königin der Launen mit dem Halsband aus erloschenen Sternen
beschäftigt, die Farbe der zeit zu wählen. So gewinnen die seltenen
Zwischenzustände des Lebens eine unvergleichliche Wichtigkeit. Seht
nur diese wunderbaren Ritter. Aus weiter Ferne, aus großer Höhe,
von dort her, von wo zurückzukehren man nicht sicher ist, werfen sie
den wunderbaren Lasso aus zwei Frauenarmen. Jetzt schaukeln die Planken,
die auf dem Fluß schwimmen, und mit ihnen die Lichter des Salons
(denn der zentrale Salon ruht ganz und gar auf einem Fluß); die Möbel
sind an der Decke aufgehängt: wenn man den Kopf hebt, entdeckt man
die großen Blumenbeete, die nicht mehr da sind, und die Vögel,
die wie gewöhnlich ihre Rolle zwischen Himmel und Erde spielen. Die
Wolkenbeete spiegeln sich flüchtig im Fluß, in dem die
Vögel ihren Durst löschen.
Selten betreten wir dieses Zimmer ohne Taucheranzüge
aus Glas, die es uns, wenn nötig, gestatten, auf dem Grund des Wassers
zusammen zu kommen, wohin uns die kippenden Dielen schicken. Dort verbringen
wir unsere besten Augenblicke. Man kann sich kaum die Zahl der Frauen vorstellen,
unsere ständig wechselnden Gäste, die in diese Tiefe hinabgleiten.
Sie sind natürlich auch in Glas gekleidet; manch eine steuert zu diesem
einförmigen Aufputz ein oder zwei freundlichere Attribute bei: Hobelspäne
als Hutgarnierung, Schleier aus Spinnweben, Handschuhe und Sonnenblumenschirme.
Der Schwindel packt sie, sie wenden sich uns kaum zu, wir aber klopfen
mit dem Huf unseres Pferdes jedesmal, wenn wir dieser oder jener bedeuten
wollen, daß wir froh wären, sie an die Oberfläche zurückzubringen.
Aus dem Abdruck des Hufs löst sich dann ein Schwarm fliegender Fische,
die den unvorsichtigen Schönen den Weg zeigen. Es gibt ein Unterwasser-Schlafzimmer,
nach dem Modell des Kellers einer Bank konstruiert, mit gepanzerten betten,
neuartigen Frisiertischen, wo man den Kopf aufrecht sieht, umgedreht, rechts
oder links in die Horizontale gebracht. Es gibt ein Unterwasser-Rauchzimmer
von besonders geistreicher Konstruktion, das im Wasser chinesische Schattenfiguren
(26) umgrenzen, die man ohne sichtbare Leinwand zu projezieren wußte,
Schatten von Händen, die gräßliche Blumen pflücken
und dabei gestochen werden, Schatten von zauberhaften und furchtbaren Tieren,
Schatten auch von Ideen, vom Schatten des Wunderbaren zu schweigen, das
bisher noch niemand gesehen hat.
(...) Das Nordlicht im Schlafzimmer: das ist
schon etwas, aber nicht alles. Die Liebe wird sein. Wir werden die Kunst
auf ihren einfachsten Ausdruck zurückführen, und das ist die
Liebe; wir führen auch die Arbeit zurück, worauf, um Himmels
willen? Auf die Musik der schleichenden Züchtigungen, die mit dem
Tod bezahlt werden.(...) (27) Ich
schwöre, daß wir, die letzten Könige, es verstehen werden,
unter unsichtbarem Schilf Unrecht zu sprechen. Vorerst bringen wir mit
großen Kosten die Maschinen auf den Grund des Wassers, die nicht
mehr funktionieren, und auch einige andere, die zu funktionieren beginnen,
und es ist ein vergnügen zu sehen, wie der Schlick wollüstig
lähmt, was so gut funktionierte. Wir sind die Schöpfer der Wracks;
es gibt nichts in unserem Geist, was man mit Erfolg wieder flott machen
könnte. Wir nehmen unseren Platz ein auf der unterseeischen Kommandobrücke
dieser Ballons, dieser schlechten Schiffe, die nach dem Prinzip des Hebels
konstruiert sind (...).“ (Löslicher Fisch, S. 24-27)
„Hier bin ich, in den Gängen des Palastes,
jedermann schläft. Das Graugrün und der Rost, ist das wirklich
der Gesang der Sirenen?“ (S. 28)
Mit dieser Frage, diesem kurzen Absatz, endet
der Text von Abschnitt 7.
Abschnitt 31 ist ein dramatischer Text.
(Regieanweisung) „Auf der Bühne ein Pedalsystem,
in dem die Bewegung nach oben und unten mit der seitlichen Bewegung nach
rechts und links kombiniert ist, wobei sich zu Anfang je eine Figur auf
dem Totpunkt des Apparates befindet (zwei Männer im vertikalen, zwei
Frauen im horizontalen System.)
Die Personen sind Lucie, Hélène,
Marc und Satan.
„Das Ganze spielt sich in einem genauen cremefarbigen
Kubus ab, der auf den ersten Blick wie ein riesiges Gyroskop in seinem
Kasten wirkt. Der Kasten ruht mit einer seiner Kanten auf dem Rand eines
Stielglases und dreht sich um seinen Ruhepunkt im Kreis. Im Inneren des
Glasfußes präsentiert ein Soldat das Gewehr.“ (90)
Aus dem Dialog:
Satan: „Sehen sie über diesen Herren
und Damen die Insel Saint-Louis? Dort hatte der Dichter seine kleine Kammer.
(...) Er empfing jeden Tag den Besuch der Wasserfälle, den purpurnen
Wasserfall, der gern geschlafen hätte, und den weißen Wasserfall,
der wie eine Nachtwandlerin über das dach kam.
Lucie: Ich war der weiße Wasserfall.
Marc: Ich erkenne dich in der Gewalt dieser
Lüste hier wieder, obwohl du nichts als die Häkelspitze seiner
selbst bist. Du bist die vollkommene Nutzlosigkeit, die Waschfrau der Fische.
Hélène: Sie ist die Waschfrau
der Fische.“ (90/91)
Aus dem 1. Abschnitt:
„Die Frau, die neben mir stand, betrachtete
ihre Füße in einer Pfütze Winterwasser. / Aus der Entfernung
sehe ich nicht mehr klar. Es ist, als schöbe sich ein Wasserfall zwischen
das Theater meines Lebens und mich, der ich sein Hauptdarsteller nicht
bin.“ (9)
Der Surrealismus vertritt, zusammenfassend gesagt,
ein ästhetisches Programm, das mehr zu sein beansprucht als nur ein
ästhetisches Programm: Das Leben soll miteinbezogen, der Übergang
zwischen Kunst und Lebenspraxis verwischt werden. Surrealistische Literatur
möchte die Andere Seite des Ichs und der Dinge enthüllen und
erkunden - eher im Sinne einer Expedition, bei der man sich dem Erstaunen
aussetzt, als im Sinne der Erhellung durch Laborlampen und der Sektion
durch die Messer des Anatomen.
Kaum ein Gleichnis drückt das Abenteuer Surrealismus
besser aus als das des Abtauchens in Wasserwelten. Das flüssige, alles
durchdringende Element, in das man eintauchen kann, um sich danach in einer
Art Schwebezustand zu befinden, versinnbildlicht den anderen Zustand, in
den einzutreten surrealistische Literatur ermutigt. Das Durchdringen der
Alltagswelt mit dem anderen Element, ihre Verwandlung in ein Aquarium ist
Ausdruck eines Vorgangs, der gleichzeitig als Verfremdung des Normalen
und als Rückverwandlung in einen früheren Zustand beschrieben
werden kann.
(Textbeispiel 3)
Paul Celan über Edgar Jené: Edgard Jené
oder der Traum im Traume. In: Paul Celan: Werke. Hg. v. Beda Allemann.
Frankf./M. 1986, Bd. 3.
Paul Celan greift das Modell der Reise in die Tiefsee
auf, um einen Besuch in einer Bilderwelt poetisch zu reflektieren. Sein
früher Aufsatz über die Werke des surrealistischen Malers Edgar
Jéne ist als eine solche Reisebeschreibung angelegt. Der Grundeinfall
entspricht dem Selbstverständnis der surrealistischen Kunstrichtung,
deren Interesse den „Tiefen“ des Inneren gilt und die sich damit selbst
schon als Erkundung einer Tiefe versteht, so daß es für den
Betrachter surrealistischer Gemälde tatsächlich gälte, auf
den Spuren des jeweiligen Künstlers dessen Reiseroute nachzuvollziehen.
„Ich soll ein paar Worte sagen, die ich in
der Tiefsee gehört habe, wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht.
Ich schlug eine Bresche in die Wände und Einwände der Wirklichkeit
und stand vor dem Meeresspiegel. Ich hatte eine Weile zu warten bis er
zersprang und ich den großen Kristall der Innenwelt betreten durfte.
Mit dem großen unteren Stern der ungetrösteten Entdecker über
mir, folgte ich Edgar Jené unter seine Bilder.“
Celan greift zurück auf das Konzept der Gegen-Welt,
einer Gegensphäre zu dem, was als „Wirklichkeit“ etikettiert wird,
und es ist wiederum möglich, dies sowohl auf die Gegenwelt einer „inneren“
(im Gegensatz zur „äußeren“) Welt zu beziehen als auch auf die
Gegenwelt der Kunst. Eine Bresche gilt es zu schlagen, einen Durchbruch
zu schaffen, um das Andere zugänglich zu machen, wobei das Wortspiel
um „Wände und Einwände“ signalisiert, daß sich die Ausgangs-“Wirklichkeit“
offenbar durch „Wände“ gegen jene andere Sphäre abzugrenzen pflegt
und der Erkundung des Anderen damit Widerstände entgegensetzt, daß
ferner diese Wände aus Sprachlichem bestehen: „Einwände“ sind
Bestandteile einer sprachlichen Kommunikation, die sich nach den Regeln
logischer Argumentation vollzieht, solche Bestandteile zudem, die im Zeichen
von Kritik und Vorbehalt stehen. In diesem Fall suggeriert Celans Wortspiel
Vorbehalte, welche aus der Sphäre der sich mit Wänden schützenden
Wirklichkeit gegen die Tiefsee-Abenteuer erhoben werden. Der „Meeresspiegel“
wird zur Schwelle zwischen der „Wirklichkeit“ und dem Anderen; als Spiegel
ist er Indikator für die spezifische Ambivalenz der Fremde, die da
der Erkundung harrt: Es geht auch und gerade um das eigene Ich, dem aus
der Fremde sein eigenes Bild entgegensieht.
„Wenn ich auch gewußt hatte, daß
mir eine mühevolle Wanderung bevorstand, so war ich doch befangen,
als ich eine der Straßen betreten sollte, allein und von niemandem
geführt. Eine der Straßen! Ohne Zahl waren diese Straßen
und jede von ihnen lud mich ein, sie zu beschreiten, jede von ihnen bot
mir ein anderes Augenpaar, die schöne Wildnis auf der anderen, tieferen
Seite des Seins zu betrachten. Kein Wunder, daß ich in diesem Augenblick,
da ich noch meine alten eigenwilligen Augen hatte, um zu schauen, Vergleiche
anstellte, um wählen zu können. Mein Mund aber, der höher
lag als meine Augen und kühner war, weil er oft aus dem Schlaf gesprochen,
war mir vorausgeeilt und rief mir seinen Spott zu: ‘Alter Identitätskrämer!
Was hast du erblickt und erkannt, tapferer Doktor der Tautologie! Was hast
du erkannt, sag, am Rand dieser neuen Straße? Einen Auch-Baum oder
Beinah-Baum, nicht wahr? Nun suchst du wohl dein Latein zusammen für
einen Brief an den alten Linnaeus? Hol dir lieber ein paar Augen aus dem
Grund deiner Seele und setze sie dir auf die Brust: dann erfährst
du, was sich hier ereignet!’“
Das Reich der „Tiefsee“ verhält sich antagonistisch
zur Sphäre der Identifizierungen (der „Identitäten“, mit denen
man „handeln“ kann, also der eindeutigen Repräsentationen, als deren
Gleichnis das Geld erscheint), der Begriffsraster und Klassifikationen.
Damit wird der Bericht über das Tiefsee-Abenteuer zur Reflexion über
das Reich der Sprache, das sich der Bildsprache des Textes entsprechend
ebenfalls als geteilt in verschiedene Sphären (eine Sphäre der
„Identitäten“ und eine „tiefere Seite“) darstellt, denen verschiedene
Gebrauchsweisen von Sprache korrespondieren. Repräsentant der Sphäre
der identifizierenden und differenzierenden Begriffe ist Linnaeus, der
die Natur dem Raster seiner systematisch-klassifikatorischen Terminologie
unterwarf und sie dadurch parzellierte. Dem Prinzip der klassifizierenden
Identifikation widersetzlich verhält sich das „Ähnliche“. In
den Augen des Tiefseebesuchers ist vor von Jenés Bildern erschlossene
Sphäre ein Reich des Ähnlichen, des (Unter-anderem-)“Auch“ und
„Beinahe“, des Ungeschiedenen und Übergänglichen, wo das Verschwimmen
äußerer Konturen und das Versagen identifizierender und trennender
Begriffe wechselseitig aufeinander verweisen.
„Nun bin ich aber einer, der schlichte Worte
liebt. Zwar hatte ich, ehe ich diese Reise angetreten, eingesehen, daß
es arg und falsch zuging (156) in jener Welt, die ich verlassen, aber ich
hatte geglaubt, an ihren Grundfesten rütteln zu können, wenn
ich die Dinge bei ihrem Richtigen Namen nannte. Ich wußte, daß
ein solches Unternehmen die Rückkehr zu einer unbedingten Naivität
voraussetzte. Ich sah diese Naivität als eine von der Schlacke der
Jahrhunderte alter Lügen von dieser Welt gereinigte und ursprüngliche
Schau an. Hier gedenke ich eines Gespräches mit einem Freunde, dem
Kleists ‘Marionettentheater’ zugrunde lag. Wie sollte doch jene ursprüngliche
Anmut wiedererlangt werden, deren Bestand das letzte, also wohl auch höchste
Kapitel der Menschheitsgeschichte überschreibt? Auf dem Wege - so
deutete mein Freund - einer vernunftsmäßigen Läuterungunseres
unbewußten Seelenlebens könne jene Ursprünglichkeit wiedergewonnen
werden, die am Anfangwar, und die
auch am Ende diesem Leben einen Sinn geben und es lebenswürdig machen
würde. In dieser Anschauung fielen Anfang und Ende zusammen, und etwas
wie die Trauer um den ersten Sündenfall wurde laut. Die Mauer, die
Heute von Morgen trennt, sei niederzureißen und morgen würde
wieder Gestern sein. Was also sei zu tun in dieser unserer Zeit, um das
Zeitlose, das Ewige, das Morgen-Gestern zu erreichen? Die Vernunft sollte
walten, den Worten, also den Dingen, Geschöpfen und Begebenheiten
ihr eigentlicher (primitiver) Sinn wiedergegeben werden, indem man sie
mit dem Königswasser des Verstandes reinwusch. Ein Baum sollte wieder
ein Baum werden, sein Zweig, an den man in hundert Kriegen die Empörer
geknüpft, ein Blütenzweig, wenn es Frühling würde.“
(3/155f.)
„Hier kündigte sich der erste meiner
Einwände an und war eigentlich nichts anderes als die Erkenntnis,
daß Geschehenes mehr war als Zusätzliches zu gegebenem, mehr
als ein mehr oder minder schwer entfernbares Attribut des Eigentlichen,
sondern ein dieses Eigentliche in seinem Wesen veränderndes, ein starker
Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung.“ (3/156)
Einiges, nicht allein die Tatsache, daß es
sich um einen poetischen Text handelt, in dem jede Stimme als Rolle komponiert
ist, spricht dafür, in dem genannten „Freund“ und Dialogpartner die
„andere Seite“ des sprechenden Ichs selbst zu sehen (Immerhin formuliert
auch das Ich „Einwände“, zeigt also Affinitäten zum logisch-argumentativen
Diskurs), Wortführer einer „anderen Seite“ der Wirklichkeit und der
Sprache, deren Gegenwart den Dialog notwendigerweise stimuliert. Dieser
Freund setzt auf den Verstand, auf Reflexion, Transparenz, Erhellung des
Dunkels, Auslotung der Tiefe. Ihm gegenüber - aber eben auch: auf
seine Veranlassung hin - wird die Position der Tiefe verteidigt. Dabei
bestätigt sich die Bedeutung der Unterwasserwelt als Gleichnis des
Unauslotbaren der Sprache und der Wirklichkeit.
Der Erzähler nimmt nun „die Gefahren der Wanderung
durch die Tiefsee“ auf sich und folgt Jené „unter seine Bilder“
(3/158).Celans Erzähler-Ich macht sich mit seiner Erzählung über
Erkundungen in der „neuen Welt des Geistes“ eine (dem Surrealismus entsprechende)
ästhetische Programmatik zu eigen, die in einem gewissen Spannungsverhältnis
zu seiner eigenen Konzeption sich „anreichernder“ Sprache steht; es scheint,
als werde nun doch noch eine Art Paradies gesucht, nachdem zuvor dessen
prinzipielle Unmöglichkeit reflektiert worden war, als sei hier von
einer „Freiheit“ die Rede, an deren prinzipielle Möglichkeit kaum
mehr geglaubt werden kann.
Ein wenig selbstapologetisch klingt angesichts der
sich hier abzeichnenden inneren Spannung des Textes der abrupte und über
sich selbsthinausweisende Schluß,
der mit dem Bild von der„Tiefsee
einer Seele“ eine zuvor vermiedene Vereindeutigung vornimmt, welche der
in den hinteren Textabsätzen dominant werdenden Thematik des Unbewußten
entspricht.
„Ich habe versucht, einiges zu berichten,
das mir in der Tiefsee einer Seele erschien. / Edgar Jenés Bilder
wissen mehr.“ (3/161)
Ende: Um die Performance angemessen abzuschließen,
müßte jetzt der Hörsaal geflutet werden.
Handout:
Tristan
Tzara (1896-1963)
André
Breton (1896-1966)
Louis Aragon
(1897-1982)
Paul Eluard(1895-1952)
Benjamin
Péret (1899-1959)
Philippe
Soupault (1897-1990)
Lautréamont
= Isidore Lucien Ducasse (1846-1870)
Arthur
Rimbaud (1854-1891)
Alfred
Jarry.(1873-1907)
1919 „Champs
magnétiques“ (Breton/Soupault)
André
Breton: 1924 Erstes surrealistische
Manifest
1928
Nadja
1937
L’amour fou
1941
Fata morgana
1944
Arcane 17
1947
Ode an Charles Fourier.
Louis
Aragon: 1921 Anicet ou Le panorama
1922Les
aventures de Télémaque
1926
Le paysan de Paris
1924
Libertinage
1928
Traité de style.
Philippe
Soupault: 1927 Le nègre
1928
Le dernières nuits de Paris.
Paul
Eluard: „Mourir de ne pas mourir“ (1924), „Capitale de la douleur“ (1926),
„L’amour la poésie“ (1929), „La vie immédiate“ (1932), „La
rose publique“ (1934).