Wir sind nicht die anderen

                   Das politische Buch: Deutsche Identitätsbildung

                   Von Niels Werber

                   Zehn Jahre nach der "friedlichen Revolution", mit der die DDR-Bürger
                   überraschend die deutsche Einheit erzwangen, hat die Nation allenthalben
                   Konjunktur; Frank Böckelmanns Essays aber sollte man lesen. Er spannt
                   einen weiten historischen Bogen bis hinein ins Mittelalter: Zurückverfolgt
                   wird, dass die Bestimmungen des Deutschen immer negativ funktionieren.
                   Deutsch sein heißt, den unsrigen zuzugehören, statt "welsch" zu sein, kein
                   Romane also. Dabei ist es bis heute geblieben: "Wir Deutschen sind keine
                   Franzosen."

                   Nicht genau zu wissen, wer man sei, hat schon im 18. Jahrhundert bei den
                   einen zu einer Frankophilie geführt, die eigene Identität bei einer anderen
                   Nation ausleiht; den anderen beschert das ein Gefühl der Unterlegenheit,
                   die sich vor der Eleganz und dem Esprit des anderen schämt, stottert,
                   verstummt. Die Klassik versucht, diese Einfalt zur stillen Größe zu
                   nobilitieren, allein vergeblich. Wer einmal akzentfrei Italienisch oder
                   Französisch parliert, gibt sich lieber nicht als Deutscher zu erkennen.

                   Wir sind wir, die anderen sind die anderen - deshalb muss man den
                   anderen kennen, um die eigene Identität zu fassen. Das Essay
                   "Judenvernichtung" treibt diese These auf die Spitze. Für die Nazis ist "der
                   Jude" jener andere, von dem man sich unterscheiden muss, um deutsch zu
                   sein. Böckelmann zeigt an Biografien untergetauchter Juden, dass die
                   Unterscheidung aber unmöglich ist. Alle Versuche von Rassekundlern und
                   Anthropologen, signifikante Merkmale zur Beschreibung einer jüdischen
                   Ethnie zusammenzustellen, scheitern: "Mit der gesetzlichen Verpflichtung
                   zum Abstammungsnachweis gesteht die nationalsozialistische Führung ein,
                   dass Juden durch bloßen Augenschein nicht kenntlich sind. Seltsamer
                   Rassismus, der auf Wahrnehmbarkeit besteht und sie zugleich anzweifelt."

                   1945 bekennt Hitler, Juden wiesen keine physischen Merkmale einer
                   Rasse auf, sondern bildeten eine "geistige Rasse", die jeden "moralisch
                   verseuchen" könne. Gegen jeden erhebt sich der Verdacht des
                   Jüdischseins, weil "der Jude den Deutschen so nahe war": gleichsam das
                   Andere im Deutschen. Aus dem "Fiasko" des Rassismus, die Juden als
                   Rasse zu erfassen, schließt Böckelmann, "dass die Judenverfolgung der
                   Beginn einer unbeendbaren Selbstzerstörung war". Deshalb ist an
                   Kapitulation nicht zu denken, deshalb planen die letzten Führerbefehle den
                   Untergang des deutschen Volkes. Die Judenvernichtung soll mit dem Tod
                   des Wirtskörpers abgeschlossen werden.

                   Die Tradition der Nation, sich nur negativ bestimmen zu können, wird in
                   der BRD fortgesetzt. So beschreibt Böckelmann die Begeisterung für die
                   Globalisierung und Vernetzung als letzten Negationsversuch des
                   Deutschseins: "Die Verkünder des absolut Negativen treten aus
                   Deutschland direkt ins Unbegrenzte (Weltgemeinschaft, WWW)." Sie
                   setzen damit die "deutsche Selbstverneinung", die an den Massenmorden
                   der Vergangenheit beteiligt war, "in geschichtsblinder Abkehr von
                   Deutschland" fort. "Auschwitz" soll jene Tradition der Negation kaschieren,
                   die etwa im Verzicht auf die Definition deutscher Interessen der
                   Außenpolitik greifbar wird, derentwillen wir für andere "unberechenbar und
                   orientierungslos" bleiben. Der Verzicht auf Souveränität im "Namen von
                   Auschwitz" schreibt so die verhängnisvolle Geschichte der
                   Selbstverneinung fort.

                   Böckelmanns intelligente, kontroverse Aufsätze überraschen allesamt mit
                   einer ungewohnten Perspektive auf ihr Thema: die Deutschen, und sie
                   ragen stilistisch heraus mit ihrer schönen, klaren Prosa.

                   Frank Böckelmann: Deutsche Einfalt. Betrachtungen über ein
                   unbekanntes Land. Hanser Verlag, München 1999, 263 Seiten, 39,90
                   Mark.

 

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                   Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
                   Dokument erstellt am 14.10.1999 um 20.45 Uhr
                   Erscheinungsdatum 15.10.1999