Wer eine Treppe runterfällt, fühlt, dass die Welt nicht nur aus Zeichen besteht, sondern auch aus Fleisch und Blut. Jean Baudrillard wurde seit Jahrzehnten vorgeworfen, diese Tatsachen geleugnet zu haben. Die Welt bestehe keineswegs nur aus Zeichen, hielt der gesunde Menschenverstand seiner Theorie der Simulakren entgegen.
Sobald man sich aber fragt, was für eine Treppe das denn eigentlich gewesen ist, eine barocke Prunktreppe, die der höfischen Inszenierung dient, oder eine Leiter, die zur chambre bonne hinaufführt, betritt man das Reich der Zeichen: Material, Dekor, Architektur - alles will gedeutet sein, und es macht einen enormen Unterschied, ob man auf der Marmortreppe oder einer Holzstiege ausgleitet, auch wenn die Knie vielleicht in beiden Fällen in gleicher Weise schmerzen. Wie diese Zeichen erzeugt, gedeutet und von den Mächten dieser Welt instrumentalisiert werden, ist das Lebensthema Baudrillards gewesen.
James Der Derian hat Paul Virilio gefragt, was von Baudrillards Behauptung zu halten sei, der Golfkrieg habe nicht stattgefunden. Virilio antwortete, diese Negation habe er Baudrillard immer vorgehalten. Tatsächlich hat Baudrillard 1991 die "Operation Desert Storm" als "Nichtkrieg" bezeichnet, nicht aber geleugnet, dass es Bombardierungen und Tote gegeben habe. Genauso wenig hat er in Abrede gestellt, es habe bei den Anschlägen vom 11. September 2001 keine Opfer gegeben.
Sein "Nichtkrieg" bezeichnet vielmehr das Ende des gehegten Krieges gegen einen ebenbürtigen Feind - und damit den Beginn globaler Operationen gegen einen Gegner, der entweder unsichtbar bleibt, weil er sich von beliebigen anderen Leuten nicht unterscheidet, oder nur als Symbol sichtbar wird auf einem der Myriaden von Bildschirmen des elektronischen Schlachtfelds, das dann ausgeknipst wird. Beim Schläfer, der jederzeit zum Terroristen mutieren kann, wie beim "Target" im virtuellen Krieg handelt es sich um ein Problem der Zeichen und ihrer Bedeutung.
"Wir hätten Verdacht schöpfen müssen", schreibt Baudrillard 1991, "als die Kriegserklärung ausblieb." Dann verschwanden das Kriegsende und "die Unterscheidung zwischen Siegern und Besiegten." Dieser Nichtkrieg hat auch nach Bushs triumphaler Inszenierung 2003 auf der U.S.S. Lincoln und seinem Ausspruch der "mission accomplished" nicht aufgehört. Während die einst zentralen Unterschiede zwischen Krieg und Frieden verloren gehen, werden jene Differenzen, auf die es jetzt ankommt, als Simulakren produziert: Dies mag einmal Chomeini als Symbol des Bösen gewesen sein, dann wurde es der barbarische Tschetnik mit Säbel, und heute sind es Ussama Bin Laden als Höhlenbewohner oder der fanatische Islamist mit Bart, AK-47 und Dynamitgürtel. Derartige Bilder sind hyperreal, weil das, was sie darstellen, völlig referenzlos ist. Nicht dass es keine Ajatollahs, Serben oder Muslime gäbe - die gibt es genauso wie Treppen; doch als Symbole des absolut Bösen, dessen Bekämpfung jeden Kollateralschäden rechtfertigt, sind sie reine Simulation.
Baudrillards These der Hyperrealität besagt also nicht, dass niemand mehr von Treppen falle oder von Clusterbomben und Katjuschas getötet werde. Sondern dass die Bedeutung dieser Ereignisse von den Zeichen abhängen, die man ihnen zuweist. Dies lässt sich nicht einfach als "Baudrillardismus" abtun.
NIELS WERBER
taz Nr. 8220 vom 8.3.2007, Seite 19, 121 Portrait NIELS WERBER, Nachruf
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