To make Britain stronger: Wie die Labour Party vom linken Weg abkam Von Niels Werber Die Londoner Buchmacher legten vor ein paar Tagen ihre Wettangebote 1 zu 33, dass die konservative Restopposition im Unterhaus unter 100 Sitze fallen wird. Die Labour Party wird heute also mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen, und deshalb ist es auch eine Wahl, die niemanden interessiert. Umfragen vom Wochenende prognostizieren nicht nur einen Erdrutschsieg Tony Blairs, sondern auch die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1918. "There are no issues", es
gebe keine Wahlkampfthemen, beklagen die politischen Kommentatoren die
völlige Abwesenheit von polarisierenden Streitfragen, und man könnte
fast zufrieden auf die Problemfelder der Biotechnologie, der Zuwanderung
oder der Rentenreform schauen, deren Entscheidung die hiesigen Parteien
tatsächlich zu unterscheiden scheinen. Nach vier Jahren Regierung
erheischt Tony Blair "a fresh mandat for radical change". Heute Abend wird
nach einem langweiligen, weil entschiedenen Wahlkampf der Premier in seinem
Amt bestätigt werden und verkünden, er werde mit seiner Politik
des institutionalisierten Wandels fortfahren.
Im Mai 1997 war es völlig anders und vor allem spannender. Blair verstand es, New Labour als doppelte Alternative zu positionieren: als Alternative zu den Konservativen und als Alternative zur eigenen Partei, zu Old Labour. Unter dem Logo des von Anthony Giddens ausgerufenen Dritten Weges vollbrachten Blair und seine Berater das Kunststück, am politischen Dualismus von Conservative Party und Labour Party festzuhalten, die der Wähler im gewohnten "entweder - oder" entscheiden konnte (Labours Wahlplakate stellen den konservativen Gegner in alter Manier als Klassenfeind da), und zugleich auf ideologischer Ebene genau diesen Extremismus zu vermeiden, indem sie New Labour als Mitte zwischen zwei Polen anpriesen. Seit Aristoteles gilt es als Tugend, "das rechte Maß in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig" und von "jedem der beiden Enden gleichen Abstand" zu halten. Aber Labours Dritter Weg erbt nicht nur eine Jahrtausende alte, tief verwurzelte Vorliebe für die Mitte, sondern kleidet sich in das zeitgemäße theoretische Gewand der reflexiven Modernisierung, während die marxistischen Lumpen in der Altkleidersammlung modern. Der Soziologe und Direktor der überaus renommierten Londoner School of Economics and Political Science, Anthony Giddens, bis 1999 Blairs Guru, hat unter diesem Arbeitstitel ein wissenschaftliches Programm aufgelegt, das die Sozialtheorie zwischen den Extremen der Akteurs- und Institutionentheorie platziert. Weder solle die Gesellschaft ganz aus den Strukturen ihrer Institutionen deduziert werden, weil dies den Individuen ihre Freiheit raube, noch könne sie allein als Summe individueller Einzelentscheidungen verstanden werden, weil die Akteure stets auf Rahmenbedingungen stoßen, welche ihre Handlungsmöglichkeiten verknappen. Giddens dritter Weg verschaltet Akteure und Institutionen in einen reflexiven Zusammenhang, der beide Seiten ernst nehmen will: die Individuen handeln innerhalb bestimmter Strukturvorgaben - können mit ihrem Handeln aber diese Strukturen ändern. Die dazu gehörige politische Agenda wird also weder ganz auf die Freiheit des Einzelnen setzen, wie das Feindbild des Neoliberalismus, noch völlig auf die regulierende Allmacht des Staates, wie das Feindbild des Sozialismus. Statt dessen sollen die Möglichkeiten des Einzelnen zur Entfaltung gebracht werden, wofür flexible Institutionen nötig sind, so dass Akteure und Institutionen in ein dynamisches Verhältnis der Steigerung gerbacht werden. Der Bürger soll nicht bevormundet, aber auch nicht allein gelassen werden. Unzählbar sind die rhetorischen Figuren dieses "weder noch". Mit dieser goldenen Formel des Dritten Wegs hat Labour 1997 nach 18 langen Jahren der Opposition die Wahl gewonnen - um dann als New Labour den Thatcherismus mit anderen Mitteln fortzusetzen. Wenn Tony Blair in einer Wahlkampfrede die Erfolge seiner Regierung aufzählt, klingt er wie ein Konservativer: hohes Wirtschaftswachstum, geringe Inflation, boomende High-Tech-Industrien, Abbau der Staatsschulden bei niedrigeren direkten Steuern, Absenken der Kriminalitätsrate. Und Blairs Vision für die nächsten Jahre heißt Liberalisierung: Hürden und Hemmnisse müssten abgebaut werden, damit jeder die Chance habe, seine "gottgegebenen Talente" zu nutzen. Tatsächlich werden die Potentiale von Bürger und Staat in ein reflexives Steigerungsverhältnis eingespannt, das Großbritannien zur "leading nation" in Europa machen soll. Jeder einzelne Bürger soll seine Fähigkeiten und Möglichkeiten optimal entfalten "to make Britain stronger". Würde Tony Blair nicht immer wieder daran erinnern, er vertrete die Labour Party, könnte man ihn für einen Neoliberalen reinsten Wassers halten. Jemand, der die Steuern senkt, den Staatsapparat verschlankt, die Kriminalität bekämpft und daran glaubt, dass jeder, der seine Chance ergreift, es schaffen kann, um so mit seinen Aktivitäten das Wohl aller zu befördern, gehört in den USA der Republikanischen Partei an. Man sollte also Blair nicht immer mit Clinton vergleichen, sondern mit Bush, dem Republikaner mit Herz. "No rights without responsibilities", hatte Giddens klargestellt. Der Staat richtet seine Dienstleistungsangebot nur an jene, die aktiv nachfragen und an einem Steigerungsverhältnis interessiert sind. Ein Recht auf Faulheit gibt es auch für Blair und Giddens nicht. New Labour hat sich von der sozialdemokratischen Tradition verabschiedet, unabhängig von den Leistungen des Einzelnen mit staatlichen Mitteln für Gleichheit zu sorgen, um statt dessen "opportunities" anzubieten. Dieser Begriffswechsel indiziert
einen fundamentalen Wandel der Hintergrundüberzeugungen der Labour
Party. Glaubte man einst, durch Fördermaßnahmen und Hilfen ungleiche
Ausgangsbedingungen auszugleichen, um gleiche Ergebnis zu erzielen (alle
machen Abitur, jeder studiert, ‚Begabung heißt begaben...), so will
man nun jedem zur Gelegenheit verhelfen, aus den durchaus ungleich verteilten
Talenten, das jeweils Beste zu machen. Die freundliche Unterstellung, dass
alle Menschen gleich seien, wird aufgegeben, um einer Meritokratie Platz
zu machen, die jedem, der sich dazu entscheiden will, die Möglichkeit
bietet, seine Fähigkeiten zu entfalten.
Dieses Programm enthält ohne Zweifel eine Spitze gegen all jene britischen Laufbahnen, die sich weder Talenten noch Leistungen, sondern Geburt und Protektion verdanken - man denke nur an die immer stärker unter Beschuss geratene Königsfamilie oder das umstrittene Oberhaus. "Jeder, und nicht bloß eine privilegierte Minderheit", so erklärt Blair in seiner ersten Wahlkampfrede einem Publikum von Schulmädchen, solle "eine Chance erhalten, Erfolg zu haben". Doch ist diese Pointe keine sozialistische, sondern eher eine liberale und elitäre, weil das Konzept der "opportunities" von einer angeborenen Ungleichheit menschlicher Fähigkeiten (God-given talent) ausgeht, die nicht nur nicht wegsozialisiert und nivelliert werden soll, sondern im Gegenteil vertieft und gesteigert. Alle sollen in Britannien
genau jenen Platz erreichen, "where their talents take them". Das Blair
Wish Project verkündet nicht, wie Friedrich Engels, "die ewige Wahrheit
der in der Natur begründete Gleichheit", sondern den Amerikanischen
Traum. Matthew Taylor, einer von Blairs ehemaligen Beratern, formuliert
die Frage, welche die Wahl entscheide, deshalb so: "Was schätzt Du
mehr, Freiheit oder Gleichheit?" Früher hätte man Thatcher gewählt,
wenn man für Freiheit optiert hätte, heute müsste man für
Blair stimmen. Dass diese Verkehrung der politischen Topologie kaum auffällt,
sorgt die Rhetorik des Dritten Wegs.
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