Publikations-Datum: 19991006
 

Seite: 70

Kultur

Jeder ist einzigartig - wie alle anderen

DAS BUCH

In dem neuen Buch zeigt uns der Wissenschaftler Norbert Bolz die Konformität des Andersseins.

Autor: Von Niels Werber

Das Buchcover zeigt 20 im Raum verteilte nackte, fluoreszierend schimmernde Frauenkörper, die nur durch die Farbe und Intensität der Beleuchtung zu unterscheiden sind. Ihre identische Gestalt verdanken sie einem dreidimensionalen Scan der Körperoberfläche der Künstlerin Eva Wohlgemuth, die so vervielfacht in ihrem Werk aufgegangen ist. Die Künstlerpersönlichkeit, seit dem 18. Jahrhundert der Prototyp moderner Individualität, gibt die narzisstische Spiegelung im Selbstporträt auf und geht in der Massenproduktion ihrer Ebenbilder verloren. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Figuren sind nicht essenziell, sie verdanken sich ausschliesslich der Perspektive oder ihrer Positionierung im Raum.

Wären die Figuren bekleidet und geschminkt, hätte man dies womöglich übersehen. Bei der analogen Betrachtung einer beliebigen Ansammlung von Personen fällt der "homme copie" (Stendhal) als solcher nur deshalb nicht auf, weil der eine sich vom anderen durch seine Kleidung, seine Gesten, seine Wortwahl oder seine Hobbys unterscheidet und der gutmütige Beobachter diese ephemeren Unterschiede als Merkmale durchgehen lässt, die aus einer reproduktiven Existenz ein Individuum prägen. Norbert Bolz geht davon aus, dass in der Moderne "für jeden Menschen" gilt: "Ich bin wie jeder andere jedermann." Andersheit ist nicht gefragt. Für den Betrieb der "funktional differenzierten Gesellschaft" reicht es aus, dass jeder bestimmten Rollenanforderungen genügt - beim Behördengang, am Bankschalter, in der Kirche oder Disko, beim Bier -, deren Erfüllung gerade keine Individualität erfordert, sondern im Gegenteil Konformität. Der Bestand von Sozialsystemen und Organisationen hängt von der Einhaltung bestimmter Prozederes ab, von Verkehrsregeln bis zu Höflichkeitsfloskeln, und wer an ihnen teilnimmt, reüssiert folglich eher durch die Erfüllung von Erwartungen, durch konformes Verhalten also, als durch ihre Enttäuschung. Für Individuen, deren Wesen es ja gerade ist, anders als alle anderen zu sein, hat die Moderne anscheinend keinen Platz mehr. Anpassung und Ersetzbarkeit machen den modernen Menschen aus, der in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr ist als die Summe der Routinen, in die er sich einspannen lässt.

Für die Menschen freilich ist diese Beschreibung, wie Bolz erinnert, "schwer zu ertragen, und begierig greift man deshalb Angebote der Identität und Einmaligkeit auf". Daran herrscht heute kein Mangel. Bolz nennt Mode und Extremsport, Tourismus und Sekten als Agenturen, die ihren Kunden die "stabile Illusion" vermitteln, "anders als alle anderen zu sein". All das, was seit den "seligen Zeiten" der Frankfurter Schule als "Kulturindustrie" oder "Bewusstseinsindustrie" kritisiert wurde, erfüllt die wichtige Aufgabe, symbolisch Alterität zu erzeugen für Leute, die der Gesellschaft egal geworden sind. "Die Mode", stimmt Bolz Nietzsche zu, "schenkt den Massen eine wohltuende Selbstzufriedenheit mit der Form", und man könnte ergänzen: oft wohl auch erst ein Selbst, mit dem sie zufrieden sein kann. Dank der fleissigen Kopisten von H&M oder C&A liegt die neuste Designermode schon zur gleichen Saison im Discount vor, um jedem Leben Form zu geben.

"Individuell und anders sein" ist kein "Privileg mehr der wenigen". Das Paradox, dass ein hunderttausendfach verkauftes Produkt für Distinktion sorgen soll, wird durch die Vielzahl zeitgleicher Stilformen und ihren schnellen Wechsel überblendet. Obwohl die Mode nicht individueller ist als ein Fernsehprogramm mit 30 Kanälen, widmen sich die Massenmarken und Massenmedien erfolgreich der Sorge ums Ich. "Endlich ich, Zeit für mich".

Was Bolz nun auszeichnet, ist sein Verzicht auf jeden kritischen Gestus seiner Analyse. Er begrüsst das "Mode-Recycling" als "entfesselten Historismus", feiert den "Trendforscher" als "Geschichtsphilosophen" der Postmoderne und lobt die Harald-Schmidt-Show als Antwort auf den Konformitätsdruck der Political Correctness. Kritisiert werden statt dessen die Kritiker. Bolz versucht nachzuweisen, dass gerade der Gestus der Kritik seit den 68ern nur eine Variante des Konformismus ist.

Im zum "Automatismus erstarrten Hinterfragen und Entlarven" gewann die Kritik nicht nur das Gefühl, anders zu sein als die anderen: das "Establishment", das "System", sondern reduzierte die unübersichtliche Komplexität der modernen Welt auch noch auf einfache Formeln: den "Kapitalismus", den "Imperialismus", den "Bullenstaat". So kompensiert die Kritik gleich zweifach die Zumutungen der Moderne. Es gehört zur Ironie der von Bolz beschriebenen Protestkultur, dass gerade die "Meisterdenker" der kritischen Theorie zitiert wurden wie Aristoteles im Mittelalter. Das "Antiautoritäre" wurde von "Autoritäten" gepredigt, der Nonkonformismus wurde zur Schau getragen wie ein neuer Anzug. Der Protest: ein Massenritual, Betroffenheit: eine Sache des emotionalen "Designs". Der "Wunderdenker" ist längst zum gefragten Gast der Talkshows geworden, die "Mahner, Warner und Bedenkenträger" haben das Feuilleton erobert, um sich und dem Publikum immer wieder zu versichern, dass sie dagegen und deshalb anders sind. Statt die Komplexität der Sache zu bedenken, verwandeln sie alles, was sie berühren, in "Moralprobleme": dort die Bösen, hier die Guten. So rechnet Bolz mit den "Konformisten des Andersseins" ab, und seine Polemik schlägt sicherlich oft an den richtigen Stellen zu. Was das Buch bisweilen zu einem Ärgernis macht, ist sein Stil, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Mich stören die Redundanz - oft werden ganze Sätze und Zitate wiederholt -, die Beliebigkeit, mit der, auch aus dem Zusammenhang, zitiert wird, die allein assoziative Aneinanderreihung von Themen, die ganzen Kapiteln eine Strukturierung ersetzt, und auch die ungekennzeichneten Paraphrasen aus dem Ideengut anderer. Mit diesen Einwänden hat der Autor freilich gerechnet, merkt er doch im "Vorwort" an, es komme "hin und wieder zu thematischen Überschneidungen, Gedankenkopien, ja zu Wiederholungen von Formulierungen". Und: "Dieses Buch verweist nicht nur in vielen Fussnoten auf Luhmann, sondern es kann selbst als Fussnote zu Luhmann gelesen werden."

So versucht seine Captatio auch den "aufmerksamen Leser" darüber "gnädig zu stimmen", dass dieser Anhänger des "Recycling" und "Sampling" es passagenweise doch so weit treibt, dass man die Frage nach dem Copyright stellen könnte. Wer jedoch am 68er- oder 96er-Bashing seine Freude hat, wer einmal Jeff Koons gegen Adorno im Ring sehen will oder von den Vorzügen des Tennisspielens gegenüber Expertenrunden hören will, sollte sich darüber nicht ärgern. Wenn die Wahrheit ohnehin im Allerlei der Paradigmen verschwunden ist und anything goes, dann lässt sich auch hierzu Ja sagen, wenn man sich denn die Zeit dazu nehmen will. Denn wie Bolz weiss, könnte man, statt Bolz zu lesen, auch Freeclimbing betreiben oder fernsehen, um so anders wie die anderen zu sein.

Norbert Bolz: Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik. Fink Verlag, München 1999. 202 S., 38 Fr.

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