Ruhr-Universiät Bochum
16. Januar 2003
Germanistisches Institut
WS 2002/2003
HS: „M“, Medien, Massen und Manipulationen in den 20er Jahren
Dozent: Priv.-Doz. Dr. Niels Werber
Referentin: Melanie Eggert
Gesellschaftsformen und Figurenanalyse in Norbert Jacques` „Dr. Mabuse, der
Spieler“ und Aldous Huxleys „Brave New World“
1. „Dr. Mabuse, der Spieler“
Zustand der Gesellschaft
Ø Norbert Jacques bezieht sich in seinem Roman auf
das geistige Klima einer Epoche, in der sich der Übergang vom Kaiserreich
zur Republik vollzog, eine Zeit, in der innenpolitische Konflikte (Mangel
an demokratischer Tradition und Gesinnung, Spaltung der Linken, Erholung
der Rechten), Attentate und Aufstandsversuche überwiegten, die Wirtschaftskrise
und die Diskreditierung der Republik durch Versailles die Gesellschaft stark
belasteten.
Ø Im Text ist das Bewusstsein einer Wertekrise innerhalb
der Gesellschaft allgegenwärtig, die Zeit ist im Umbruch, es gelten
nicht mehr die altbekannten Normen (Abstammung, gesellschaftliche Position,
Tradition), sondern Neue, wie z.B. das Geld:
„Geschlossene Gesellschaften gab es ja um 1921 nicht mehr. Das Geld war ein
Schlüssel auf alle Schlösser, ein Pelzmantel bedeckte jeden Beruf,
wenn man ihn anhatte, und eine Brillantnadel überstrahlte jeden Charakter.
Man kam, in welche Gesellschaft man wollte“ (S. 7).
Ø Unter dem gesellschaftlichen Wandel steckt eine
nur schwer zu überspielende Statusunsicherheit, in der Sozialhierarchie
scheint ab sofort alles möglich zu sein, und jeder, vom Portier bis
zum Grafen, bekommt die Wirkungen zu spüren, z.B. kann man den geheimnisvollen
Spieler nicht auf einen bestimmten Kreis von Personen aus einer bestimmten
Schicht reduzieren:
„Es war immer ein anderer. Es war bald ein junger Sportsmensch, bald ein
gesetzter Provinzpapa, bald ein blondbärtiger, wie ein Künstler
zurechtgemachter Mann, bald ein entsprungener Raubmörder...bald ein
entthronter Fürst...heute Franzose, morgen aus Leipzig...er verschob
im Nebenberuf Steinkohlen von der Saar über die Schweiz nach Bayern
oder machte Valutageschäfte mit New York und Rio de Janeiro“ (S. 7).
Die allgemeine Unsicherheit überträgt sich auf den Zeitvertreib:
„So war keiner mehr vor dem anderen sicher, und in jeder Gesellschaft
wurde der Sagenhafte, wurde der Glücksspieler an jedem Abend erwartet
und gefürchtet. Jeder Nachbar konnte es sein“ (S. 7).
Ø Die einstige Führungsschicht, deren „[...]
Leben des Tages nur ein langweiliges Verplempern von Zeit ist“ (S. 7), und
das übrige Volk befinden sich auf der stetigen Suche nach Zerstreuung,
die sie „in dem neuen Laster – im Spiel“ (S. 9) finden. Die Begründung
dafür hängt zum Einem mit dem Krieg und zum Anderen mit den Folgen
zusammen. Zuerst war das Leben im Krieg „eine Lotterie um Sein oder Nichtssein“
gewesen und „das Auslaufen des Krieges in den keineswegs abspannenden Zustand,
den die Bedingungen von Versailles dem deutschen Volke brachten, hatte die
Phantasie nicht beruhigt, sondern hielt sie angestachelt“ (S. 9). Diese Phantasie
wird nun in die neuen Lebensverhältnisse mitgebracht und äußert
sich im Spiel, in der Ablenkung.
Ø Das Spiel wird von Staatsanwalt Wenk als Gefahr
betrachtet, er erlebe, welche „Gefahr dem Volk durch das Spiel drohte“ (S.
9). Wenk beobachtet die Gesellschaften, in denen gespielt wird und stellt
fest, dass man mit „Karten, mit Waren, mit Gedanken und Genüssen, mit
der Macht wie mit der Schwäche, mit dem Nächsten wie mit sich selbst“
(S. 10) spielt. Im Spiel werden Ängste und Befürchtungen kompensiert,
doch man bleibt nicht bei harmlosen Vergnügungen, sondern betrachtet
auch wesentliche Dinge wie Macht oder Gedanken als ein Spiel. Der manipulative
Charakter des Spielens wird deutlich, da auch „Menschen, deren Natur das
Spiel nicht lag“ (S. 10), nun auch spielen. Das Spiel ersetzt den Menschen
Träume und Sehnsüchte:
„ `Mir hat das ja gerade gefehlt`, sagte mit leisem Ton die Frau, `etwas
zu tun, nützlich zu sein, in einem kühnen Werk der Einsatz des
Lebens, um das Leben zu spüren.` `Und das haben Sie in den Spielräumen
gesucht?` sagte er.“ (S. 66)
Ø Die Epoche wird immer wieder charakterisiert,
man lebe „in einer bunten Zeit“ (S. 52), Wenk geht sogar so weit zu sagen:
„Wir sind in einer Zeit geistiger und seelischer Epidemien“ (S. 65), womit
er wahrscheinlich auf die Ängste, aber auch Phantasievorstellungen der
Menschen anspielt, die selbst den Mörder Mabuse zu einem Volkshelden
stilisieren würden. Besonders von Symbolcharakter dieser Zeit ist für
ihn der junge Hull:
„Verbunden mit einem aufgedonnerten Nichts von einem Weib, das sich auf einer
Bühne mit Talent zur Schau stellte. Elegant gekleidet, ohne elegant
zu sein. Ruhelos den nervenaufreibenden Nächten ergeben und in einem
Leben zwischen Spieltisch, Nachtlokal und Tänzerinnenbett Erfüllung
suchend [...]“ (S. 55).
Ø Gleichzeitig wird im Text die Angst vor einer
unkontrollierten Fremdbestimmung geschürt, vor dem Hintergrund der Psychoanalyse,
(oder was Jacques dafür hielt), und mit Hypnose und Suggestion in Verbindung
gebracht (siehe die Szenen mit Mabuse, z.B. S. 1-3, besonders ab S. 149).
Allerdings kann man sich der Faszination dieser Manipulationen nicht entziehen,
in Gesellschaft führt Mabuse seine Fähigkeiten vor und steht im
Mittelpunkt des Interesses: „Die Unterhaltung stürzte nun über
Mabuse. Man fragte, riet, was es sagen gewollt hatte“ (S. 87).
Ø Die Gesellschaft bewegt sich auf zwei Ebenen:
Da gibt es die Angst vor einem Persönlichkeitsverlust, da die geltenden
Normen außer Kraft gesetzt wurden, Angst vor verhängnisvollen
hypnotischen Steuerungen, das Bewusstsein über die Demütigungen,
die aus dem Kriegsende resultieren, die Sorge vor einem wirtschaftlichen
Zusammenbruch und die Haltlosigkeit einer jungen Generation, die sich auf
nervenaufreibende Zivilziele beschränken musste. Aber da gibt es auch
die Vergnügungssucht, das Spielen nicht nur mit Geld, sondern auch mit
Werten, die Konjunktur von allem, das extravagant und unkontrollierbar war.
Alles Versuche, um dem politischen und sozialen Klima zu entgehen. Wünsche
nach Normalität und Mäßigung oder gar Stabilität waren
unerwünscht und werden im Roman nur durch Wenk repräsentiert.
Dr. Mabuse und die Gesellschaft
Ø Die Figur des Dr. Mabuse wird in der Charakterisierung
durch Wenk zu einem Repräsentanten für diese unsicheren Zeiten
und Gesellschaftszustände stilisiert, für Wenk ist er „mehr als
Falschspieler, Verbrecher...war die ganze Zeit, die von der Kriegskatastrophe
losgerissen worden war aus dem Höllenschoß der Schöpfung
und heraufbrach über die Welt und seine Heimat“ (S. 43). Mabuse ist
ein Terrorist (S. 62), der die nach Zerstreuung lechzende Schickeria im (unbewussten)
Bann hält als hypnotischer Spieler (S. 22-25) und falscher Seelenarzt
(S. 117). Er nützt seine Bildung und suggestiven, Gefolgschaft bindenden
Fähigkeiten für seine Verbrechen und unterwandert dabei Staat
und Gesellschaft: „Aber hinter diesem Überfall steht eine Gesellschaft,
an ihrer Spitze ein Mann von anscheinend starken, vielseitigen Kräften“
(S. 64). Er spielt nicht nur oberflächlich mit Karten, sondern auch
mit Menschen (Wenk, Gräfin Told, Gefolgschaft), Ideen (Eitopomar) und
Werten (der Tod des Grafen Told wird bewusst lanciert). Auf ihn überträgt
sich die Angst der Gesellschaft, die Angst vor Verbrechen und Terror, vor
Fremdbestimmung und hypnotischer Steuerung.
Ø Ein anderer Aspekt überträgt sich noch
auf Mabuse, er stellt die Schrecken vor westlicher Vermassung und Entfremdung
dar: „Europa ist eine Filzlaus. Einer kriecht dem andern ins Fell. Alle überkriechen
sich. [...] Eine Hautpore ist schon ein Krater für sie“ (S. 41). Er
stellt sich bewusst gegen die neue Zeit und deren Entwicklung und hofft,
das „aasige kleine Europa“ (S. 32) hinter sich zu lassen. Europahass und
Europaflucht sind seine Motivation, er selber beschreibt seine mit „Herrschenwollen
und Hassenmüssen“ (S. 116). Er stellt sich mit Menschen gleich, die
es in Europa auch nicht aushalten (S. 116) und gibt folgende Begründung
an:
„Ich habe aus irgendeinem Brunnen meiner Abstammung einen Schuß ins
Blut bekommen, der mir ein Leben in der staatlichen Ordnung einer Gemeinschaft
unmöglich macht, in der Kräfte über meinen stehen“ (S. 116).
Mabuse will nicht beherrscht werden, sondern selber herrschen.
Ø Um der verhassten Ordnung in Europa zu entkommen,
will sich Mabuse nach Eitopomar, seinem Urwald-Utopia in Südbrasilien,
zurückziehen. Dies ist das wichtigste Motiv für seine Verbrechen
(S. 32), er sehnt sich danach zurück, das Reich wiederzubekommen, das
er einst in anderer Form besessen hatte (S. 32). Mabuse hofft, endlich wieder
frei zu sein, sich von der Ordnung in Europa frei zu machen und als „König
und Gott“ (S. 32) sein Reich regieren zu können, deswegen wartet er
mit besonderer Ungeduld darauf, denn „jeder Tag konnte ihn zum Kaiser krönen“
(S. 142). Die Sehnsucht von Mabuse nach seinem eigenen Reich und seiner eigenen
Ordnung bedeutet eine Abkapselung von dem, was Europa zu bieten hat, der
Herrschaftsgedanke mag rückständig und bisweilen primitiv in Mabuses
Besessenheit wirken, repräsentiert aber nichts anderes als eine andere
Form von Ordnung, die vielleicht stabiler, doch nur durch Willkürherrschaft
zu erreichen ist.
Ø Mabuse ist die Verkörperung dessen, was die
Gesellschaft zu jener Zeit ausmachte, er repräsentiert die Angst vor
allen negativen Aspekten (Terror, Hypnose, Zustand einer Republik), aber
auch die Faszination (denn nichtsdestotrotz bleibt die Hypnose ein spannendes
Thema). Mabuse ist also ein Spiegel der Gesellschaft, in der er lebt.
2. „Brave New World“
Zustand der Gesellschaft
Ø Der Roman spielt in einer Gesellschaft der Zukunft.
Die neue Zeitrechnung orientiert jetzt nicht mehr am christlichen Kalender,
sondern wird ab dem Zeitpunkt berechnet, an dem Henry Ford sein „Modell T“
eingeführt hat. Man spricht jetzt vom Jahre „A.F. (= Ante Ford) 632“
(S. 16). Da das „Modell T“ nach unserer Zeitrechnung 1908 eingeführt
wurde, kann man ungefähr vom Jahr 2540 als Zeitpunkt der Handlung ausgehen.
Der Schauplatz ist hauptsächlich das London der Zukunft, bekannte Ortsbezeichnungen
und Eigennamen werden jedoch beibehalten.
Ø Das Motto des Weltstaates wird schon auf der ersten
Seite des Romans bekannt gegeben, es heißt „Community, Identity, Stability“
(S. 15). Der Name ist Programm, das Ziel des Weltstaates ist eine durchorganisierte,
strukturierte Gesellschaft, man soll an die Gemeinschaft denken, soll wissen,
wer man ist und damit zur Stabilität seiner Welt beitragen. Die Stabilität
ist das höchste Gut für diese Gesellschaft, „the primal and the
ultimate need“(S. 44), besonders die soziale Stabilität wird betont,
wie Mustafa Mond es beschreibt: „No civilization without social stability.
No social stability without individual stability” (S. 44). In der dieser
Verkettung wird angedeutet, dass die individuelle Stabilität, also ein
Individuum ohne Selbstzweifel, Ängste und trübe Gedanken, das Fundament
dieser Gesellschaft ist. Doch um diese zu erreichen bedarf es einer genauen
Vorbereitung.
Ø Die Embryonen werden durch eine Vielzahl von Beeinflussungsmitteln
zu ganz speziellen Menschen gemacht. Ihr Beruf und ihre Klassenzugehörigkeit
sind vorherbestimmt, sie werden sozusagen nach Gebrauch gezüchtet und
auf ihren Beruf spezialisiert: „Ninety-six identical twins working ninety-six
identical machines!“ (S. 18) und „By the time they were decanted the embryos
had a horror of cold. They were predestined to emigrate to the tropics, to
be miners and acetate silk spinners and steel workers” (S. 24). Die Einteilung
der Klassen geht von Alpha (höchste Intelligenzstufe) bis Epsilon (niedrigste
Intelligenzstufe), subkategorisiert durch ein nachgestelltes Plus – oder
Minuszeichen: „We also predestine and condition. We decant our babies as
socialized human beings, as Alphas or Epsilons […]” (S. 22). Um die gewünschte
Intelligenz für eine Klasse zu erreichen, werden entsprechende Methoden
angewandt: „` The lower the caste` said Mr Foster ` the shorter the oxygen.`
The first organ affected was the brain“ (S. 23). Die Erziehungsmittel sind
vielfältig: Sie gehen über Hormonspritzen (S. 21), mechanische
Apparate (S. 21-22) zu Röntgenstrahlenbeschuss (S. 24). Die Grundsteine
zu einem stabilen, unaufgeregten Leben werden also schon in den Flaschen
gelegt. Noch vor seiner Geburt wird jeder zu dem gemacht, was er später
sein soll, keiner soll, kann und darf aus seiner Identität ausbrechen,
jeder weiß vor seiner „Entkorkung“ (S. 22) zumindest unbewusst wer
er ist und was er zu tun hat. Jeder wird so erzogen, dass er seinen Platz
in der Menschenfabrik einnehmen kann.
Ø Man kann die Gestaltung der zukünftigen Menschen
allerdings nicht auf das Embryonenstadium beschränken. Die Erziehung
geht weiter durch „Neo-Pavlovian Conditioning“ (S. 27-29) und „Sleep-teaching“
(S. 31) oder auch „Hypnopaedia“ (S.31) genannt. Besonders die Reimsprüche
bewirken eine Gleichschaltung bei den Menschen und erziehen zu einem bestimmten
Moralkodex hin, der nicht gebrochen werden darf:
Cleanliness – “Cleanliness is next to fordliness“/ „Civilization is sterilization“
(S. 90)
Truth – Moralerziehung macht Lügen weitgehend unmöglich
Helpfulness – “Everyone works for everyone else“ (S. 67)
Confidence – “Ford´s in his flivver. All´s well with the world”
(S. 35)
Fearlessness – “One cubic centimetre cures ten gloomy sentiments” (soma)
(S. 74)
Sense of Belonging – “Everyone belongs to evreyone else” (S. 31)
Doch auch wenn der Moralkodex gleich ist wird Klassenbewusstein eingeimpft:
„I´m really awfully glad I´m a Beta [...]“ (S. 34).
Es gibt also keine „traditionelle“ Erziehung, der Erfolg bei dieser Erziehung
ist enorm, wenn auch nicht absolut. Die Menschen werden schon vor ihrer Geburt
manipuliert und haben keine Chance, sich auf „natürliche“ Weise zu entwickeln.
Dennoch genügen sie auf diese Weise dem Ideal, die Moral wird nicht
unterwandert und bleibt stabil und der Gemeinschaftssinn wird gefördert.
Ø Der Alltag eines jeden einzelnen Menschen in der
Gesellschaft unterliegt einer totalitären Kontrolle, die utopische Freizeit
ist standardisiert. Der typische Tagesablauf wird anhand des Beispiels von
Lenina gezeigt:
A) hochspezialisierte Tätigkeit (S. 12)
B) Aufzugfahrt zum Umkleideraum (S. 28)
C) Waschen, umkleiden, small talk (S. 28)
D) Aufzugfahrt zum Flugdeck (S. 51)
E) Hubschrauberflug (S. 51)
F) „Obstacle Golf“ (Spiele überhaupt) (S. 52)
G) Hubschrauberflug (S. 60)
H) Abendessen, small talk, Soma-Einnahme (S. 62)
I) Tanz und Musik (S. 63)
J) Erneute Soma-Einnahme (S. 64)
K) „contraceptive precautions“ (S. 64)
L) Geschlechtsakt (S. 64)
An dieser Liste fällt auf, dass Lenina, außer bei der Arbeit,
nie alleine ist. Gemäß dem Gebot der „community“ ist sie immer
von anderen Menschen umgeben (ab Punkt E ist sie mit Henry zusammen) und
hat keine Zeit für sich alleine, man könnte sagen, dass selbst
die Freizeit nur im Kollektiv verbracht wird. Zeit, sich vielleicht nur mit
ihrer eigenen Identität zu beschäftigen, hat sie nicht. Der Alltag,
der immer gleich zu sein scheint, wird bestimmt durch die Beschäftigung
der Massen, um von den Gefahren der Wohlstandsgesellschaft abzulenken. Es
kommt niemandem die Idee, die Gesellschaft zu hinterfragen (außer Helmholtz
und Bernard vielleicht, sie könnten als Ausnahmen gelten).
Ø Die Suche nach Ablenkung wird durch den Weltstaat
befriedigt. Der Konsumzwang ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und
gehört mit zum Sleep-teaching: „I do love having new clothes...“(S.
49). Spielchen und Urlaubsreisen sind sowohl Konsum als auch Ablenkung, die
Freizeit muss einfach Ablenkung bieten, weil die Menschen sonst mit sich
nichts anfangen können, wie Mustafa Mond erläutert:
„The whole of Ireland was put on to the four-hour day. What was the result?
Unrest and a large increase in the consumption of soma; that was all. Those
three and a half hours of extra leisure were so far from being a source of
happiness, that people felt constrained to take a holiday from them”(S. 180).
Soma ist der Stabilitätsgarant schlechthin, es wird als Allheilmittel
angepriesen und dessen Einnahme wird ankonditioniert. Aufgrund von Soma besteht
der utopische Staat.
Ø Die Gesellschaft des Weltstaates versucht, dem
selbsterwählten Motto gerecht zu werden. Sie organisiert das Leben der
Menschen von Anfang an und bestimmt über ihre Berufs – und Klassenzugehörigkeit.
Das Leben ist komplett durchstrukturiert, jeder ist zufrieden mit dem, was
er hat, es gibt Arbeit und Freizeit. Soma kuriert von trüben Gedanken.
Die Stabilität durchdringt die Gesellschaft.
Mustafa Mond und die Gesellschaft
Ø Mustafa Mond ist einer von zehn Weltkontrolleuren.
Er ist sehr gebildet, er hat als einziger noch Kenntnis von Geschichte und
wie die neue Gesellschaft entstanden ist: „Our ancestors were so stupid and
short-sighted that when the first reformers came along and offered to deliver
them from those horrible emotions, they wouldn´t have anything to do
with them“ (S. 36). Seine Kenntnis von Shakespeare verblüfft den Wilden,
und Mond erklärt, im vollen Bewusstsein seiner Macht: „But as I make
the laws here, I can also break them“ (S. 179). Mond fungiert als Funktionär
einer gebildeten Elite: „But if we happen to be Alphas, our bottles are,
relatively speaking, enormous“ (S. 182), die aber auch gleichzeitig eine
Minderheit ist: „A society of Alphas couldn´t fail to be unstable and
miserable“ (S. 182), beschreibt das Zypern-Experiment und folgert daraus:
„The optimum population is modelled on the ice-berg – eight-ninths below
the water line, one-ninth above“ (S. 183). Mond ist ein Manager, der einer
durchstrukturierten Welt von willigen Arbeitern vorsteht.
Ø Gemäß dem Lebensmotto der utopischen
Gesellschaft steht für Mond die Stabilität an höchster Stelle
und für die man Opfer bringen muss: „But that´s the price we have
to pay for stability“ (S. 180) und „We believe in happiness and stability“
(S. 182). Er verteidigt das System, in dem die Menschen und er leben: „The
world´s stable now. People are happy; they get what they want, and
they never want what they can´t get” (S. 180). Dabei fürchtet
Mond alles, was nicht kontrollierbar ist, z.B. Veränderungen: „Besides,
we have our stability to think of. We don´t want to change. Every change
is a menace to stability” (S. 184). Zu anderen Unsicherheitsfaktoren zählt
er Wissenschaft: “Science is dangerous; we have to keep it most carefully
chained and muzzled” (S. 184) und Gott: “God isn´t compatible with
machinery and scientific medicine and universal happiness” (S. 192).
Ø Dennoch war Mustafa Mond selbst einer, der zwischen
Stabilität und Wissenschaft wählen musste. Zuerst sagt er: „I rather
regret the science. Happiness is a hard master – particularly other people´s
happiness. A much harder master, if one isn´t conditioned to accept
it unquestionably, than truth” (S. 186), nur sollte man darin keine Kritik
sehen, sondern nur ein kurzes Nachdenken, wie es sich für einen Alpha
geziemt, schließlich sagt er: “Well, duty´s duty“ (S. 186). Man
darf nicht außer acht lassen, dass Mond auch ein Produkt seiner Zeit
und Gesellschaft ist, er ist ebenfalls genormt und kann nicht anders handeln.
Darin mag wohl auch die Schwierigkeit liegen, auf den ersten Blick das Verhängnissvolle
in seiner Person zu sehen: Er wird nicht als machthungriger, besitzergreifender,
sadistischer Tyrann beschrieben, sondern als Menschenfreund, der die größte
Tyrannei heraufbeschwört, weil er es gut mit den Menschen meint:
„They´re well off; they´re safe; they´re never ill; they´re
not afraid of death; they´re blissfully ignorant of passion and old
age; they´re plagued with no mothers or fathers; they´ve got
no wives, or children, or lovers to feel strongly about; they´re so
conditioned that they practically can´t help behaving as they ought
to behave. And if anything should go wrong, there´s soma” (S. 180).
Ø Die Figur des Mustafa Mond ist also auch ein Spiegel
ihrer Zeit, er verkörpert die Kontrolle, die Gesetze und das Lebensmotto.
Da er von der Gesellschaft gemacht wurde, kann er andere Positionen gegenüber
seiner Welt zwar diskutieren, aber letztendlich dennoch nicht verstehen.
Er repräsentiert die unbewusste Kontrolle und Manipulation des Weltstaates.
3. Gemeinsamkeiten und Gegensätze
Ø Während in Jacques Roman die Zeit im Umbruch
ist und man sich einer Wertekrise gegenüber sieht, gibt es in der utopischen
Gesellschaft ein festes Motto, unter dem man lebt und dadurch zu einer stabilen
Gesellschaft beiträgt, in der Werte und Normen gesichert sind.
Ø Die Sozialhierarchie ist in „Dr. Mabuse, der Spieler“
gestört, jeder kann zwischen den Klassen auf- bzw. wieder absteigen.
In der Menschenfabrik bleibt jeder auf seinem Platz, den er laut Klassennormung
und Berufszugehörigkeit einnimmt.
Ø Der Alltag in der utopischen Gesellschaft ist
vorherbestimmt, es werden nur bestimmte Dinge erlaubt und gefördert
(Spiele, Sport), jeder Tag verläuft nach einem Schema. In der Gesellschaft
der 20er Jahre sind die Zeiten unruhig, man weiß nicht, was man mit
sich anfangen soll, sucht aber ständin Beschäftigung.
Ø Beide Gesellschaften haben gemein, dass sie manipuliert
werden, in der Nachkriegsgesellschaft ist das Spielen der Manipulator, im
Fordzeitalter gibt es viele Manipulationsmittel (Sleep-teaching etc.). Die
Angst vor Fremdbestimmung taucht nur in der Nachkriegsgesellschaft auf.
Ø In beiden Gesellschaften sucht man nach Ablenkung,
in der einen durch die Droge Spiel und in der anderen durch die Droge Soma,
und durch sonstige Vergnügungen (Konsum, Reisen etc.) ohne deren Existenz
die Menschen hilflos wären.
Ø Mabuse ist ein Täuscher und Terrorist, der
mit Menschen und Ideen spielt, Mond stellt sich als Menschenfreund dar, doch
ohne eigene Kenntnis terrorisiert er die Menschen (die allerdings auch nichts
bemerken). Beide manipulieren die Menschen, der eine bewusst, der andere
unbewusst.
Ø Beide sind sehr gebildet, nutzen dies aber für
andere Dinge, Mabuse für Verbrechen und Terror, Mond für Kontrolle
und Stabilität, beide zusammen zur Manipulation.
Ø Mabuse will über sein eigenes Reich herrschen
und tut alles, um es zu bekommen und seine eigene Ordnung durchzusetzen.
Mond verzichtet auf die Wissenschaft, um als Weltkontrolleur zu fungieren,
ein unterbewusstes Machtstreben. Beide wollen herrschen.
Ø Mond verteidigt den Weltstaat, Mabuse revoltiert
gegen die Gesellschaft.
4. Resümee
Der Vergleich der beiden Gesellschaftsformen zeigt, dass sie in manchen Aspekten
sehr unterschiedlich sind, was die eine Gesellschaft zu viel hat (Stabilität,
Moral, Kontrolle) fehlt in der anderen (Verbrechen, Terror) und umgekehrt,
in der utopischen Gesellschaft mag es zwar keine Lügen geben, dafür
aber auch keine freie Entfaltung. Die Manipulation taucht in beiden Gesellschaften
auf und die Suche nach Ablenkung. Abschließend kann man sagen, dass
beide Romane Hauptfiguren besitzen, die ein Spiegel (wenn nicht sogar ein
Produkt) ihrer Zeit sind und sich trotz der unterschiedlichen Gesellschaftsformen
sehr ähnlich sind.
Literatur:
Baker, Robert S.: Brave New World. History, Science, and Dystopia (Twayne´s
masterwork studies, No. 39), Boston 1990.
Huxley, Aldous: Brave New World, London 1972 (OA London 1932).
Jacques, Norbert: Dr. Mabuse, der Spieler, Hamburg 1952 (Berlin 1921).
Thiel, Berthold: Aldous Huxleys Brave New World, Bochum 1980.