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I G B R O T H E R "
Sehen oder gesehen werden Von Niels Werber Die
Voyeurs-Dokumentation "Big Brother", bei der sich zehn Frauen und Männer
in einen Wohncontainer einsperren und Tag und Nacht von Kameras beobachten
lassen, weckt mittelalterliche Gottesvorstellungen. Das Motto des Senders:
"Du bist nicht allein" gilt für jeden Gläubigen, als Trost wie
als Drohung.
Zehn Frauen und Männer, davon sechs Singles, werden hundert Tage lang in einen 153 Quadratmeter großen Wohncontainer gesperrt, wo jeder Schritt und Tritt von 28 Kameras gefilmt wird und kein Laut und kein Wort den 60 Mikrophonen entgeht. Wenn die Maske fällt, werden wir dabei sein: ganztägig live im Internet oder vor dem Bildschirm, wenn zur Prime time der Directors cut die Höhepunkte des Tages zusammenfasst. Die Werbekampagne deutet die Richtung an: Gezeigt werden minderjährig wirkende Girlies in Stiefeln und bauchnabelfreien Tops, die es wissen wollen, und eine leicht bekleidete Blondine auf High heels, die vermutet, dass sie keinen Tag ohne Sex auskommen werde. Ein Preisgeld von 250.000 Mark für den, der hundert Tage durchhält, und die Drohung, vom Publikum per TED aussortiert zu werden, sollen dafür sorgen, dass diese Verheißungen erfüllt werden. Endemol und RTL II greifen mit diesem Format auf den uralten Wunsch zurück, zu sehen, ohne gesehen zu werden. Es ist Gott, der Allwissende, der uns immer sieht, der hinter alle Masken zu schauen vermag, der die Wahrheit über uns jenseits aller Verstellungen und Rollen kennt und weiß, wer in der Beichte lügt. Das Motto des Senders: "Du bist nicht allein" gilt für jeden Gläubigen, als Trost wie als Drohung. Im aufgeklärten 18. Jahrhundert wird dieses Muster eines allwissenden, selbst aber verborgenen Gottes auf die Erde geholt. Der Engländer Jeremy Bentham entwirft für Gefängnisse, Fabriken, Schulen oder Kasernen eine Architektur, die von einem unsichtbaren Zentrum aus die Beobachtung der Subjekte gestattet. Die Hauptwirkung des sogenannten "Panopticon" besteht in der "Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes". Zur Disziplinierung (keine Übergriffe, keine Onanie, kein Diebstahl, keine Arbeitspausen) reicht das Wissen aus, permanent überwacht werden zu können. Allein deshalb verhält man sich jederzeit so, als wäre man nicht allein. Auf diesem Grundsatz beruhen die heute allgegenwärtigen Überwachungskameras der Kaufhäuser, Tiefgaragen, U-Bahnen und Sicherheitszonen. Wo die Moral versagt, die aus Gewissensgründen das Rauben, Randalieren oder Belästigen verbieten würde, verlässt sich die "Disziplinargesellschaft" auf Überwachung. "Du bist nicht allein": eine Technik der Prävention. Seit es das Internet gibt, sichern Webcams das eigene Haus und die Nachbarschaft gegen Kriminalität oder kontrollieren Eltern die Kinderhorte und Schulen ihrer Kinder, um ihrem sexuellen Missbrauch vorzubeugen. Doch verhält sich jede Technik neutral zu ihrer Nutzung. Das Gegenmodell zur Überwachung ist der Exhibitionismus, und die Alternative zum Präventionsgedanken ist der Voyeurismus. Der Sage nach haben amerikanische Collegegirls zuerst entdeckt, welche Aufmerksamkeit eine Homepage findet, auf denen in Echtzeit Webcam-Videos aus ihrer privaten Wohnung gezeigt werden. Zehntausende wollen dabei sein, wenn der Cheerleader morgens aufsteht, denn sie könnte ja nackt in die Dusche gehen, oder wenn sie Herrenbesuch bekommt, denn... Längst hat die Porno-Industrie das Potenzial des Konzepts erkannt und verkauft den Zugang zu Videos, die angeblich mit der versteckten Kamera in Mädchenumkleiden und Badezimmern aufgenommen werden. Der Voyeur kann die Authentizität der Live show genießen. Er sieht die unbekümmert agierenden Damen, die nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Der Voyeur sieht alles, ohne selbst gesehen zu werden. Die Macher
von Big brother betonen, dass der Zuschauer im Gegensatz zu den Kandidaten
"alles" weiß. Im "Sprechzimmer geben die Kandidaten einen täglichen
Bericht ab - über ihre individuellen Erfahrungen, Gefühle und
Konflikte. Sie sind dabei von den Mitkandidaten unbeobachtet und unbelauscht.
Nur die Mitöffentlichkeit ist ihr Zeuge." Vor uns, dem Publikum, wird
die tägliche Beichte abgelegt, und wir werden sehen und hören
können, ob man uns die Wahrheit gesagt hat. Wir werden sehen, wenn
die Kandidaten sich und die Kameras vergessen, wir werden hinter die Masken
schauen, wohl auch mal unter die Dessous. RTL II macht sein Publikum zu
Göttern und Beichtvätern, zu voyeuristischen freilich und böswilligen,
die die Sünder belohnen und die Tugendhaften verjagen werden.
©
SPIEGEL ONLINE 08/2000
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