Das Gedächtnis lebt: Stephen King erzählt über das Erzählen
als Medium der Erinnerung - "Der Buick"
Mal ist es der Fernsehschirm, mal ein Wäschetrockner. Der
Weg in eine andere Dimension kann überall beginnen. Womit
man es "wirklich" zu tun hat, merkt man spätestens dann, wenn
ein gewöhnlicher Gegenstand plötzlich übernatürlich
grelle
Strahlen aussendet und Dinge unerwartet erscheinen oder
verschwinden. Das alles ist so selbstverständlich, dass Homer J.
Simpson in einer legendären Halloween-Parodie von
King-Romanen einen solchen Übergang in eine andere Welt
einfach als Müllschlucker benutzen kann. Eine Apfelkitsche?
Rein damit in den transdimensionalen Lichtstrudel.
In Stephan Kings neuem Roman ist es ein Buick, genauer: "Der
Buick". Das Auto tut alles, was man von einem fantastischen
Schwellenphänomen dieser Gattung erwarten kann: Es leuchtet,
es lässt Körper verschwinden, und es materialisiert im Gegenzug
unheimliche Wesen aus der anderen Dimension in unserer Welt.
Stünde ein zweiter Buick irgendwo auf einem Raumschiff, dann
könnte man das Ganze Beamen nennen und Tickets für einen
Transfer verkaufen.
Ein Buick, der nicht fährt, sondern allerhand verschwinden oder
auftauchen lässt, dessen Batterie nirgends angeschlossen ist, aber
dennoch ab und an weiße Blitze aussendet, der Jahrzehnte in
einem alten Schuppen steht, doch immer aussieht wie fabrikneu -
das mag erstaunlich sein in Pennsylvania, wo der Autor
Anregungen zu dieser Geschichte gefunden hat, nicht aber im
Stephen-King-Universum, wo der Einbruch des Unmöglichen in
unsere Welt so erwartbar ist wie der Fall eines Apfels in
Richtung Boden. Fällt King nichts mehr ein?
Doch, aber nicht hierzu. Es scheint dem King of Horror diesmal
um etwas anderes gegangen zu sein als um die Irritation unseres
Alltagsverständnisses der Welt durch die Konfrontation mit
realitätsinkompatiblen Phänomenen. King kommt es diesmal
nicht auf das Unheimliche der Geschichte an, sondern auf die
Möglichkeit des Erzählens von Geschichten, kurz: Es geht ihm
ums Erinnern und Vergessen.
Ned beendet gerade die High School, als sein Vater, Officer
Curt Wilcox, bei einer Routinekontrolle ums Leben kommt, weil
ein Alkoholiker ihn überfährt. Curts Department, die Troop D,
nimmt sich seines Sohnes an. Zufällig schaut er durch die Fenster
des Schuppen B und sieht dort ein "schickes altes Auto", einen
58er-Buick. Doch "im Grunde genommen", dachte der Sergeant
Commanding Sandy, der sich den begeisterten Jungen anhört,
"im Grunde genommen war er alles andere als ein 58er. Er war
auch kein Buick. Er war auch kein Auto. Er war ganz was
anderes."
Zum Beispiel zeigt ein Thermometer im Schuppen 13 Grad
Celsius an, obwohl es draußen, im Sommer 2001, 30 Grad sind.
Nicht nur deswegen lässt Sandy den neugierigen Ned nicht
hinein. Es sei zu gefährlich. Mit "unheimlicher Intuition" vermutet
Ned, der Buick habe mit seinem Vater zu tun. Nicht nur. Mit der
gesamten Troop D, stellt Sandy klar, und weil Ned nun "einer
von uns" sei, werde er die Geschichte hören. "Ich glaube, dein
Vater hätte gewollt, dass du davon erfährst." Außer Sandy
und
Ned sitzen noch Arky und Shirley auf der Raucherbank der
Polizeikaserne, als die Einweisung beginnt, andere werden
hinzukommen.
1979. Die Officers Rafferty und Wilcox werden zu einer
Tankstelle geschickt. Dort steht ein Buick, dessen Fahrer
verschwunden ist. Rafferty verhört den Tankwart, der die Polizei
alarmiert hat; es ist derselbe Mann, der 22 Jahre später Neds
Vater totfahren wird. Wilcox untersucht den Wagen - und muss
feststellen, dass er keine Lichtmaschine hat, die Batterie nirgends
angeschlossen ist, die Armaturen nur Imitate darstellen. Dies alles
müsste seltsam genug sein, aber King lässt den Erzähler
dieser
Episode, Sandy, bereits jetzt andeuten, dass Officer Rafferty
"noch an diesem Abend spurlos verschwinden sollte".
Der Buick wird in den Schuppen B überführt, und noch im ersten
Drittel des Romans zucken Blitze aus der Garage, sinkt die
Temperatur auf acht Grad, verschwindet Rafferty und gebiert der
Wagen etwas "vollkommen anderes". Das alles wiederholt sich in
den 22 Jahren bis in die Gegenwart. Sandy hatte sich längst "an
das gewöhnen können, was dort in der Dunkelheit stand". Der
Buick wird in die Polizeiroutine eingearbeitet: Die Troop D sorgt
dafür, dass niemand reinkommt, und entsorgt, was rauskommt.
Dafür war es nicht nötig, zu wissen, was der Buick überhaupt
war.
Genau dafür interessiert sich aber Ned, doch Sandy bescheidet
ihn: "Du musst aufhören, auf die Pointe zu lauern. Es gibt keine
Pointe." Ned will eine straight story mit Anfang, Mitte und
Ende, aber er bekommt nur eine Textur, "Verkettungen" von
Ereignissen voller loser Enden, ausschweifende "Kontexte", das
"Drumherum".
Als Ned wieder einmal mit einem "Und?" eine Pointe einfordert,
erklärt Sandy: "Ich war nicht dabei. Diese beiden waren dabei."
Arky erzählt eine weitere Episode aus seiner Sicht. "Nach ner
Weile hat auch Huddie mitgemacht und mir geholfen." Und Phil.
Und Eddie. Und Shirley. Immer wieder wechselt der Icherzähler,
immer wieder fällt einem neuen Officer auf der Raucherbank
etwas ein, werden Details ergänzt, weitere lose Enden fabriziert.
Die Troop D hat ein kollektives Gedächtnis entwickelt, was den
Buick betrifft, und das Erinnern und Vergessen auf viele
Polizisten verteilt. Denn es gibt laut Befehl "nichts Schriftliches".
Wie schriftlose Kulturen benutzt die Troop D ein Ritual im
Umgang mit dem Buick, in das sich jeder neue Officer einlebt.
Ned ist gerade dabei, einer der Ihren zu werden. Die Abteilung
kultiviert eine soziale Form des Gedächtnisses, die auch Ausfälle
einzelner Individuen zu überdauern vermag.
Das Gedächtnis der Troop D lebt, es erinnert und vergisst. Es
knüpft neue Fäden und kappt alte Verkettungen. Deshalb bleibt
die Geschichte des Buick ohne Pointe. Sie ist kein grand récit,
sondern ein Knoten voller loose ends. Die anderen Enden der
Fäden führen alle zum Buick, das heißt: ebenfalls ins Nichts.
NIELS WERBER
Stephen King: "Der Buick". Aus dem Amerikanischen von
Jochen Schwarzer. Ullstein, Berlin 2002. 496 Seiten, 22 €
taz Nr. 6726 vom 16.4.2002, Seite 17, 218 Zeilen (Kommentar), NIELS WERBER,
Rezension