Schlaue und dumme Bomben
Wer soll entscheiden? Michael Byers gibt einen aktuellen Überblick über das internationale Kriegsrecht
VON NIELS WERBER

Sechs Jahrzehnte nach ihrer Zerstörung im Feuersturm der Phosphorbomben ist die Frauenkirche in Dresden feierlich wiedereröffnet worden. Die Mahnung, nie wieder möge eine Stadt so verbrannt werden, ist längst eine völkerrechtliche Norm. Bomberflotten, die heute aus sicherer Höhe ihre tödliche Last auf Städte abwürfen, ohne zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden, begingen ein Kriegsverbrechen, für das nach dem Grundsatz der Kommandoverantwortlichkeit der Oberbefehlshaber vor Gericht gestellt werden könnte, ja müsste.

Dass keine Luftflotte der Welt mehr Städte bombardiert, entspricht aber leider nicht den Tatsachen, und keinesfalls hat sich irgendein Kommandoverantwortlicher je für das Bomben seiner Flugzeuge verantworten müssen. Dies liegt zum einen an der Entwicklung neuer Waffen, zum anderen an der Durchsetzung neuer Deutungsmöglichkeiten alten Rechts. Smart Bombs etwa können auch in Großstädten wie Belgrad oder Bagdad recht präzise militärische Ziele treffen, und wenn sie einmal daneben treffen, gelten die so genannten Kollateralschäden als nicht intendiert. Smart Bombs haben den geradezu unschätzbaren Vorzug, dass man mit ihnen überhaupt keine Kriegsverbrechen begehen kann.

Und wenn dann einmal doch hochfliegende Tornados "dumme" Bomben auf den Kosovo abwerfen und den einen oder anderen Wohnblock pulverisieren, dann handelt es sich natürlich auch nicht um Kriegsverbrechen, weil die für diese Flugzeuge verantwortlichen Staaten in der Lage sind, ihre rechtliche Auffassung politisch durchzusetzen, dass es sich bei diesen Luftangriffen überhaupt nicht um Kriegseinsätze handele, da die Nato im Kosovo keinen Krieg führe, sondern eine humanitäre Intervention.

Ob es etwa nicht richtig war, nach den Massakern in Bosnien nicht weiter abzuwarten, ob den Serben nun die "ethnische Säuberung" des Kosovo gelingen würde, mit dieser Gegenfrage könnte man die Nato rechtfertigen. Die nächste Frage lautet allerdings, wem hier die Entscheidung zusteht - dem Sicherheitsrat, der laut Charta exklusiv das Recht dazu hat, oder einzelnen Staaten oder Bündnissen, die, wenn die UN "handlungsunfähig" seien, das Völkerrecht in die eigene Hand nehmen. Wenn die Nato darüber befindet, wann die UN als "handlungsunfähig" gelten, setzt sie sich über das Völkerrecht hinweg. Das souveräne, nicht weiter ableitbare Recht zur "humanitären Intervention", die faktisch kaum vom Krieg zu unterscheiden wäre, läge also in der Hand jener wenigen Mächte, die dazu militärisch in der Lage sind und so viel Macht haben, etwaige Kritik von Seiten der UN durch ein Veto unwirksam zu machen.

Ohnmächtige Buchstaben

Handlungsfähig oder nicht, Intervention oder Krieg, die alles entscheidende Frage lautet also, ganz wie Carl Schmitt es gelehrt hat: "Wer entscheidet"? Die Aufgabe des Völkerrechtlers bestünde nach Schmitt dann darin, den Ort dieser Entscheidung sichtbar zu machen. Genau an dieser Aufgabe hat Michael Byers seine gesamte Abhandlung orientiert, die die Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten des Kriegsrechts darstellt und dann so zuspitzt, dass die Frage "Wer soll entscheiden?" gestellt werden kann. Diese Entscheidung wird freilich nicht mehr von Juristen, sondern, wenn man Byers folgt, hauptsächlich von US-Politikern gefällt.

Der kanadische Professor hält von dieser US-amerikanischen Dominierung des Völkerrechts nicht das Geringste, und er führt genüsslich vor, wie sehr die Bush-Administration das Völkerrecht verachtet. Die heikle Frage, was Staaten hinter den Mauern ihrer Souveränität denn alles so tun dürfen, ohne dass jemand intervenierte: etwa irakische Kurden vergasen oder Kosovo-Albaner vertreiben und ermorden, stellt sich Byers nicht. Dabei gehört es zur tragischen Rechtswirklichkeit der internationalen Ordnung, dass Menschen auch dann der Vernichtung preisgegeben werden, wenn das Völkerrecht buchstabengetreu ausgelegt wird.

Das Kriegsrecht soll nicht nur Zivilisten, sondern auch Kombattanten schützen. Kein Soldat, der in Gefangenschaft gerät, sollte jemals wieder so grausam behandelt werden, wie es im Zweiten Weltkrieg an der Tagesordnung war. Genau wie Bomben weiter auf Städte fallen, werden leider auch Gefangene weiter erniedrigt, gefoltert und isoliert. Die Buchstaben des Kriegsrecht sind ohne eigene Macht. Bush entschied, dass die Häftlinge von Guantánamo keine Soldaten sind, sondern Terroristen, denn sie kämpften irregulär, ohne Uniform, mit Anschlägen und Selbstmordattentaten. Für sie gelte "Genf" daher gar nicht, und alles was die USA nach dem 11. September 2001 zu tun gedachten, falle ohnehin unter ihr Vergeltungsrecht.

Angriff und Vergeltung

Die Nato hat festgestellt, dass es sich um einen "bewaffneten Angriff" gehandelt hat, woraus folgt, dass die USA gemäß Artikel 51 der UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung haben und dass dieser heimtückische Angriff das Kriegsrecht gebrochen hat. Dies gibt dem Opfer des Rechtsbruchs das Recht auf Vergeltung. Die Vergeltungsaktionen müssen jedoch "angemessen" sein, legt Byers dar, aber was "angemessen" ist, meint er, entscheiden heute die USA selbst.


Das Buch
Michael Byers: Kriegsrecht. Aus dem Englischen von Michael Haupt. Parthas Verlag, Berlin 2005, 215 Seiten, 24,80 Euro.

Das internationale Recht selbst öffnet Tür und Tor für den Einsatz "verbotener Waffen", wenn sie denn in "Vergeltungsaktionen" eingesetzt werden: Clusterbomben, abgereichertes Uran, hohe Opfer unter der Zivilbevölkerung - all dies wäre "andernfalls" zwar verboten, ist als "Repressalie" aber "angemessen". Gegen andere Meinungen können die USA ihr Veto einlegen. Was Recht ist oder nicht, wird nicht von einer Konvention oder Charta bestimmt, sondern von den hegemonialen Mächten unserer Erde. Dies gilt nicht nur für die Behandlung von Gefangenen, die weltweit kritisiert wird (Guantánamo, CIA-"Folter"-Flüge), sondern auch für das Recht zum Krieg. Dass sich daran etwas ändern würde, wenn die Amerikaner anders wählten und die "megalomanen Regelverdreher" aus der Regierungsverantwortung jagten, wie Byers hofft, scheint nach seinen pointierten, illusionslosen Analysen ein wenig naiv.



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Dokument erstellt am 13.12.2005 um 15:44:22 Uhr
Erscheinungsdatum 14.12.2005