Die Kultur der kreativen Zerstörung

Der US-Soziologe Manuel Castells entdeckt die Netzwerk-Unternehmen der New Economy als gesellschaftliches Leitmodell

Von Niels Werber

Was sagt es über Professor Manuel Castells aus Berkeley, Cal. aus, wenn der Klappentext seines Buches Focus zitiert, um ihn als "Guru des Informationszeitalters" auszuweisen? War kein Lob aus anderer Quelle zur Hand, oder liegt es vielleicht daran, dass 1999, jenes Jahr also, in dem Castells die "gegenwärtige Version" des Buches (werden, wie bei Software, weitere updates folgen?) "ausgearbeitet und geschrieben" hat, dass 1999 das Jahr der Gurus war? Man erinnere sich nur an Abby Joseph Cohen, die mit immer neuen Prognosen die Anleger in immer neue Investitionen in jene Seifenblase der New Economy hineingeredet hat, die nun so brutal geplatzt ist.

1999, das war das Jahr der Internetwerte, des E-commerce, der B2B-Märkte und des grenzenlosen, weil immateriellen Wachstums. Castells könnte man deshalb mit Recht einen Guru nennen, weil viele Passagen aus seinem voluminösen, auf drei Bände mit über 1500 Seiten angelegten Werks über Das Informationszeitalter so klingen, als entstammten sie einem Börsenbrief der Ultra-Hausse-Phase: Die neuen Kommunikationstechnologien, so Castells, hätten eine Revolution eingeleitet, eine neue Epoche stehe der Menschheit bevor, dessen physische, aber vor allem geistige Möglichkeiten ins Grenzenlose erweitert würden. In der globalen Echtzeit-Ökonomie entstünde ein Milieu dynamischer Konkurrenz, die zu hoher technischer wie organisatorischer Innovation, "außerordentlichem Produktivitätszuwachs" und phantastischer "Rentabilität" führe.

Auf der Ebene der einzelnen, lokalen Betriebe, der nationalen Unternehmen und multinationalen Unternehmensgruppen habe sich das "Netzwerk" als effizienteste wie flexibelste Organisationsform durchgesetzt (allerdings: auch das japanische MITI wird als Netzwerk bezeichnet, für Flexibilität ist es nicht bekannt). Durch die Knoten dieser Netzwerke strömen Güter, Menschen, Kapital und Technologien, wobei Knotenpunkte, die nicht zum Ideal der "Netzwerkflexibilität" passen, schnell ausgetauscht werden können, ohne dass das Netzwerk schaden nähme. Spielt der eine Zulieferer nicht mit, dann aktiviert das Netz eben den anderen; erhöht der eine Nationalstaat die Kapitalsteuern, dann verlagert das Netz den Firmensitz in anderes Territorium. Das Netz steht für "Flexibilität und Anpassungsfähigkeit" in einer globalisierten, in Echtzeit interagierenden Wirtschaft. Das ist der Sound der 90er.

"Die voll entwickelte wirtschaftliche Globalisierung konnte nur auf der Grundlage neuer Informations- und Kommunikationstechnologien weiter gehen. Avancierte Computersysteme ermöglichten den Einsatz neuer, leistungsstarker mathematischer Modelle und mit komplexen Finanzprodukten umzugehen und Transaktionen mit hoher Geschwindigkeit durchzuführen. Ausgefeilte Telekommunikationssysteme verbanden Finanzzentren rund um den Globus in Echtzeit miteinander. Online-Management ermöglichte es Unternehmen, im ganzen Land und auf der ganzen Welt zu arbeiten . . ." Daran ist natürlich nichts falsch, aber leider auch nichts neu. Von der weltweiten Vernetzung der Börsen wissen Kinofilme und Werbespots seit langem, vom Zusammenhang zwischen der Shareholder Value, der im Schweinezyklus "atmenden Fabrik" und Zeitarbeitsfirmen handeln Romane und Ausstellungen. Und Castells exemplarisches Modell für die Verbindung von Vernetzung, Technologie, Innovation und Wachstum ist - Silicon Valley.

Überrascht? Und wie so viele Star-Analysten erklärt Castells das "Cisco-Modell" zum Ideal und "Trendsetter" des vernetzten Unternehmens und mithin der Netzwerkgesellschaft schlechthin. Der Hersteller von Routern und Switches für Glasfaser-Netze wie das Internet habe zwar auch "von der Gunst der Stunde" profitiert, nämlich zur richtigen Zeit das richtige Produkt anzubieten, doch seien insbesondere das Organisationsmodell und der ständige Zufluss innovativer Kräfte durch den Aufkauf von Start-ups die entscheidenden Gründe für den ungeheuren Erfolg der Firma, die für kurze Zeit die höchste Marktkapitalisierung der Welt aufwies und mehr wert war als alle DAX-Werte zusammen. Als "Trendsetter" hat sich Cisco dann auch erwiesen, jedenfalls was Gewinnwarnungen und den Einbruch von Aktienkursen betrifft.

Doch wird die Idee der Netzwerkgesellschaft selbstverständlich nicht von sinkenden Börsenkursen entwertet, und Castells ist ja, trotz seines euphorischen Jargons, kein Analyst, sondern ein Soziologe. Also stellt sich nach wie vor die Frage, ob seine These zutrifft, dass die technische Entwicklung allein als jener revolutionäre Quantensprung angemessen zu beschreiben sei, in dessen Folge sich die Gesellschaftsstruktur weltweit neue ordne. Mit großem Selbstbewusstsein und Sinn für Dramatik verweist Castells auf Max Webers epochale Untersuchung über die Entstehung des "Geist des Kapitalismus" aus der "protestantischen Ethik", um wenigstens einmal seine Thesen in den Kontext eines soziologischen Klassikers zu stellen.

Weber hatte sich in seinem Aufsatz jeder Widerspiegelungstheorie (im Text steht: "Wiederspiegelung") versagt und daran erinnert, dass der Kapitalismus nicht in den fortschrittlichen Kapitalmärkten der italienischen Stadtstaaten entstanden ist, sondern in der Wäldern von Pennsylvania. Ausgerechnet dort hatten protestantische Sekten entdeckt, dass ihr Seelenheil an materiellem Erfolg abzulesen und dieser in einem auf Gewinn gerichteten Beruf zu erzielen sei, während die katholischen Akteure auf den Finanzmärkten von Florenz und Venedig mit sittlichen Bedenken zu kämpfen hatten.

Castells zieht die Parallele zu Weber, indem er nach dem Ethos der Netzwerke fragt, der dem neuen "Geist des Informationalismus" zu Grund liege. Sein Ergebnis ist von erhabener Schlichtheit: Es sei ein Netzwerk, eine "facettierte, virtuelle Kultur", welche die Netzwerkgesellschaft des Informationszeitalters begründe. Im Klartext: Die netzwerkartig organisierte Cisco-Ökonomie entstammt einem netzwerkartigen Milieu pluraler Kulturen und umgekehrt. Während Max Weber die Transformation religiöser Überzeugungen in die Regeln einer neuartigen, "kapitalistischen" Ökonomie beschreibt, findet Castells, wo er sich auch umschaut, ohnehin nichts als Netzwerke, so dass die Frage nach der Genese des "Geists des Informationalismus" aus dem "ethischen Unterbau des Netzwerk-Unternehmens" gar keine wirkliche Frage ist, da für Castells zwischen dem Netzwerk-Unternehmen und dem Informationalismus überhaupt kein Unterschied besteht.

Der "Geist des Informationalismus ist die Kultur der kreativen Zerstörung, die auf die Geschwindigkeit der lichtelektronischen Schaltkreise beschleunigt wird, die ihre Signale verarbeiten". Genau dasselbe gilt auch für das "Netzwerk-Unternehmen". Ganz im Gegensatz zu Webers Verzicht auf die simple These der "Widerspiegelung" gelingt es Castells nicht, den Aufstieg der Netzwerk-Gesellschaft anders plausibel zu machen als mit dem Verweis auf die entsprechenden Technologien. Aus Strömen und Knoten besteht die technische Infrastruktur des Informationszeitalters, aus Strömen und Knoten bestehen die sozialen Netzwerke. Wie die Technik, so die Gesellschaft. So einfach kann Soziologie sein.

Castells tritt in seinem Buch immer wieder als Feldforscher und Empiriker auf, Niederschlag findet diese attitude in zahllosen Statistiken. Dazu sei zweierlei angemerkt: Der Übersetzer verwechselt andauernd die Zahlwörter, und die Weltwirtschaft wird geradezu verniedlicht, wenn die Aktiva von Großbanken im Bereich von "1 Mio US$" rangieren, der "Tagesumsatz der Devisenmärkte rund um die Welt 1998 1,5 Mrd. US$ erreichte"oder im gleichen Jahr das Gesamtvolumen aller Emissionen mit "7,8 Mrd. US$" angeben wird. Zweitens sieht sich Castels anscheinend im Besitz der Zukunft, wenn er Statistiken über die "Geographie technologischer Innovation zwischen 1846 und 2003" zitiert oder die Beschäftigungsstruktur der G7-Länder zwischen "1920 und 2005" verhandelt. Nicht nur hier erweist er sich als echter Guru, sondern auch am Ende der Bandes, nach über 500 Seiten. Dort verrät er, er wolle erst im dritten Band der Trilogie "versuchen, einige Forschungshypothesen aufzustellen, um die neue, im Entstehen begriffene Gesellschaft zu verstehen". Was hat Castell nur vorher getrieben, so ganz ohne Forschungshypothesen? Der Vorschlag, dass es sich um einen verspäteten Börsenbrief handelt, dürfte zu den freundlicheren gehören.

Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzgesellschaft. Teil 1 der Trilogie. Das Informationszeitalter. Aus dem Amerikanischen von Reinhart Kößler. Verlag Leske + Budrich, Opladen 2001, 500 Seiten, 34,90 .

 

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Dokument erstellt am 01.02.2002 um 21:36:24 Uhr
Erscheinungsdatum 02.02.2002