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Gemeinsam für Heimat
Udo di Fabio und das intellektuelle Profil der Großen Koalition
VON NIELS WERBER

Autorname Di Fabio in Schwarz, dann die Titelzeilen "Die Kultur" in Rot und "der Freiheit" in Gold. Es geht um die Zukunft der Nation, die nur dann im 21. Jahrhundert "in Führung" gehen könne, wenn sie wieder über ein "solides kulturelles Fundament" verfügte. Der Verwaltungs-, Versicherungs-, Vorsorge- und Wohlfahrtsstaat sorge zwar für das immer noch komfortable Wohlergehen der großen Mehrheit der Individuen, doch habe sich diese hochspezialisierte Gesellschaft mit ihren sozialtechnischen Lösungen allein materiell verstandener Probleme von ihrem kulturellen Boden entfremdet und den Einzelnen versorgt, aber auch isoliert und dann bindungslos allein gelassen.

Das Pendant der Gesellschaft ist der hedonistische Egoist. Der westlichen Gesellschaft ausdifferenzierter Funktionssysteme fehle es anders als den dynamisch aufstrebenden Regionen in Asien an "unentbehrlichen Gemeinschaften", um die Menschen wieder in eine "vitale" Kultur einzubinden, die mehr ist als die Menge von Techniken, Dienstleistungen und Versorgungsansprüchen. Um eine Devise daraus zu machen: Weniger Staat, mehr Familie, weniger kalte Sozialtechnologie, mehr lebendige Gemeinschaft. Das passt nicht schlecht zu einer Regierung, die sich zugleich Deregulierung (weniger Sozialtechnologie) und Solidarität (mehr Gemeinschaftlichkeit) auf die Fahne schreibt. "Wir brauchen die Bereitschaft für Veränderungen", fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Jahreswechsel mit Blick auf den Umbau der Sozialsysteme, deren Konsequenzen, so wäre zu ergänzen, für den Einzelnen ja die Gemeinschaften auffangen könnten. Modernes Spielbein, traditionelles Standbein. Wir "sollten die alten Tugenden nicht vergessen", mahnt daher Bundespräsident Köhler in seiner Weihnachtsansprache und findet in bewährten Werten die Voraussetzung dafür, bei der Problemlösung "neue Wege" zu beschreiten.

Die substantielle Gemeinschaft gegen die wurzellose Gesellschaft

"Wir wollen mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in der Gesellschaft," verkündet Familienministerin van der Leyen in ihrer ersten Ansprache vor dem Bundestag. "Unser Ziel ist es, dass es in Brandenburg mehr Familien und mehr Kinder gibt. Mehr Familien tun unserem Land gut", schreibt Matthias Platzeck. Dies ist politische Programmatik. Wenn aber ein Bundesverfassungsrichter in einem Buch, in dessen Fußnoten Autoritäten von Aristoteles bis Luhmann angeführt werden, feststellt, die "Familie ist für die freiheitliche Gesellschaft das Fundament, auf dem sie ruht", handelt es sich dann um die politische Meinung eines verheirateten Vaters von vier Kindern oder um das Ergebnis einer wahrheitsfähigen Argumentation? Und wenn Di Fabio dann in einer kurzen Passage mehrfach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, das Grundgesetz und den Entwurf des Vertrags einer Verfassung für die Europäische Union zitiert, um die "Gemeinschaft" als Grundlage aller "substantiellen Freiheit" des Menschen gegen eine oberflächliche, ihren "Wurzeln entsagende Gesellschaft" zu setzen, soll man dann nicht den Eindruck hegen, diese Aufwertung der "substantiellen" Gemeinschaft gegenüber der "wurzellosen" Gesellschaft sei eine Wahrheit, die sogar vor dem höchsten Gericht unserer Republik Bestand hätte und so staatstragend wäre, wie das Buchcover es verheißt?

Doch kann di Fabios Plädoyer für Gemeinschaft und gegen Gesellschaft weder im Namen des Volkes entscheiden noch wird es den strengen Maßstäben seiner wissenschaftlichen These gerecht. Di Fabio sieht darin eine Stärke seines Buches, denn ein rein fachwissenschaftlicher Beitrag zählte ja zu jener kalten, entzauberten gesellschaftlichen Sphäre funktionaler Differenzierung, die das Individuum nur in seinen Funktionsrollen anspricht und es so zwangsläufig entfremdet. So wie nun die Gemeinschaft zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, versöhnt Di Fabio den kalten wissenschaftlichen Diskurs und das vertraute, gesellschaftlich aber meist folgenlose Gespräch. Di Fabio will auch hier die Mitte, verzichtet aber nicht darauf, steile Thesen - die "Drei-Kind-Familie" rettet den Westen - mit ein paar Zitatgirlanden aufzuputzen.

Udo di Fabio
Ein Verfassungsrichter startet durch. Udo di Fabio gilt als Chefdenker der Großen Koalition. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" kürte ihn zum "Reformer des Jahres" und der "Merkur" (Januarheft) nahm ihn gegen seine linken Kritiker in Schutz. Udo di Fabio ist seit 1999 Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Sein Buch "Die Kultur der Freiheit" ist im C.H. Beck Verlag erschienen. tt
Udo Di Fabio unternimmt eine Beschreibung unserer Epoche, aus deren Problemlage sich die Lösung unmittelbar ergibt: Der Erfolg der westlichen Kultur der Aufklärung, Modernisierung, Industrialisierung, Technisierung, Rationalisierung, Arbeitsteilung und Spezialisierung hat das Fundament dieser Kultur erodieren lassen und den Westen seiner Werte beraubt. Am hohen Wert der Freiheit sei dies exemplarisch zu beobachten. Freiheit werde nur noch negativ verstanden als Abwesenheit von Zwang, nicht aber positiv gefüllt. Es gibt also durchaus eine "freie Gesellschaft", in der jedes Individuum frei ist zu tun, was es im Rahmen der Rechtsordnung will, ohne dass es zu etwas gezwungen würde. Doch fehle eine "Kultur der Freiheit", welche die Freiheit des Einzelnen als positives Engagement verstehen würde: "Frei sein heißt, über seine Bindung selbst zu bestimmen, Gemeinschaften zu suchen, zu gründen und zu verteidigen." Eine Ehe zu schließen, dem Gebot der Nächstenliebe oder der Humanität in einer Gemeinde oder Organisation zu folgen, Kinder zu erziehen, sind Beispiele für solche Selbstbindungen in Freiheit. Während die Gesellschaft keine solchen dauerhaften, verantwortungsvollen Bindungen einfordert, sondern vom Einzelnen nach Schillers berühmtem Spruch nur das Ausfüllen der rechten Formulare am rechten Ort verlangt, inkludiert die Gemeinschaft den ganzen Menschen. Zwischen die rationalen, aber abstrakten Prozeduren der Gesellschaft und den effizient versorgten, aber vereinzelten Personen soll daher eine Ebene der Gemeinschaft geschaltet werden, um Individuen und Gesellschaft in einer vitalen Einheit zu integrieren. Die Familie ist aus seiner Sicht ihr Urbild, ein ursprünglicher Kulturraum, in dem die Voraussetzungen für die Freiheit weit mehr geschaffen werden als in "den Welten der Politik, des Rechts und der Verwaltung". In der Familie lernen wir, was Verantwortung für sich und andere bedeutet, schreibt van der Leyen. Dass Di Fabio Singles und elternlose Paare für verantwortungslose Hedonisten hält, kann nicht überraschen. Nur auf der "Natürlichkeit einer menschlichen Gemeinschaft" kann eine gesunde Gesellschaft aufbauen.


Die Lösung des Problems unserer Gesellschaft ergibt sich also von allein: Stärkung der Gemeinschaft, der Freiheit zur Selbstbindung, der Ehe, des generationenübergreifenden Familienverbands, um die Gesellschaft wieder mit einem festen Boden auszustatten, was sie wieder "vital" machen werde, überlebensfähig im Kampf um das 21. Jahrhundert. Nur aus der Bindungskraft dieser Gemeinschaften entspringe ihre Vitalität. Eine bezaubernde Gattin und zauberhafte Kinder machen Max Webers Entzauberung ein Ende. Gemeinschaften sind die Kraftquelle der Gesellschaft, nicht der Staat. Gott sei Dank, so wird sich Di Fabio gesagt haben, denn der überschuldete und überdehnte Staat ist ja alles andere als eine Quelle der Vitalität. Aus diesem Grund taugt sein Buch auch so gut als Programm der großen Koalition, denn Versorgungsansprüche sind teuer und Werte preiswert.

Eine Modernität, die über die Köpfe der Menschen hinweg fegt

Wenn Bürger "gemeinsam etwas für ihre Anliegen in der Heimat bewirken", und zwar jenseits aller Parteipolitik, sei dies ein Vorbild für uns alle, stellt der Bundespräsident fest. Auch Du bist Deutschland. Gemeinsam sind wir stark - und belasten keine öffentlichen Kassen. "Eine Modernität", schreibt Matthias Platzeck, "die über die Köpfe der Menschen hinwegfegt wie eisiger Wind, ist in Wahrheit gar keine. Denn wo es nur noch um ökonomische Zwänge geht, da spielen die Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse der Menschen, Familien und gewachsenen Gemeinschaften bald keine Rolle mehr." Was der SPD-Vorsitzende seelenlose Modernisierung nennt, entspricht Di Fabios "entzauberter Gesellschaft". Platzecks Lösung lautet, "Zukunft" wieder auf "Herkunft" zu errichten, auf "gewachsenen Gemeinschaften". Region und Familie sollten die Menschen wieder derart einbinden, dass sie Herkunft haben. "Familie ist im wahrsten Sinne des Wortes der ursprüngliche Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden", verkündet die Familienministerin. Und wenn wir dies gelernt haben, können wir es auf den Kontext der Weltgesellschaft übertragen und die deutsche Nation lieben, wie wir Eheweib und Kinder lieben, exklusiv, treu und aufopferungsvoll.

Im Jahre 1887 hat Ferdinand Tönnies in Gesellschaft und Gemeinschaft die Gesellschaft als mechanisches Aggregat und Artefakt definiert, welche den Einzelnen gegen alle übrigen isolieren, und die Gemeinschaft als natürliche Ressource verstanden, die den ganzen Menschen einbezieht und mit gemeinsamen Werten und Traditionen bindet. Das Begriffspaar hat eine unheilvolle Karriere hinter sich, deren Höhepunkt die Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus darstellt. Sie fortzuschreiben, ist zumindest unüberlegt, auch wenn man sicher der Ansicht sein kann, dass die sozialtechnische Mechanik der Politik heute zu kostspielig geworden und es an der Zeit ist, den allverantwortlichen Staat zurecht zu stutzen. Die Gesellschaft mit einem reaktionären Begriffspaar aus dem 19. Jahrhundert zu beschreiben, wird jedenfalls nicht viel helfen, denn unsere Probleme sind nicht die der Gründerzeit - und nicht einmal die wären mit größeren Familien oder mehr Liebe zum Nächsten und zur Nation zu lösen gewesen.



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Dokument erstellt am 23.01.2006 um 16:04:43 Uhr
Erscheinungsdatum 24.01.2006