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Di Fabio in Schwarz, dann die Titelzeilen "Die Kultur" in Rot und "der
Freiheit" in Gold. Es geht um die Zukunft der Nation, die nur dann im
21. Jahrhundert "in Führung" gehen könne, wenn sie wieder über ein
"solides kulturelles Fundament" verfügte. Der Verwaltungs-,
Versicherungs-, Vorsorge- und Wohlfahrtsstaat sorge zwar für das immer
noch komfortable Wohlergehen der großen Mehrheit der Individuen, doch
habe sich diese hochspezialisierte Gesellschaft mit ihren
sozialtechnischen Lösungen allein materiell verstandener Probleme von
ihrem kulturellen Boden entfremdet und den Einzelnen versorgt, aber
auch isoliert und dann bindungslos allein gelassen.
Das Pendant
der Gesellschaft ist der hedonistische Egoist. Der westlichen
Gesellschaft ausdifferenzierter Funktionssysteme fehle es anders als
den dynamisch aufstrebenden Regionen in Asien an "unentbehrlichen
Gemeinschaften", um die Menschen wieder in eine "vitale" Kultur
einzubinden, die mehr ist als die Menge von Techniken, Dienstleistungen
und Versorgungsansprüchen. Um eine Devise daraus zu machen: Weniger
Staat, mehr Familie, weniger kalte Sozialtechnologie, mehr lebendige
Gemeinschaft. Das passt nicht schlecht zu einer Regierung, die sich
zugleich Deregulierung (weniger Sozialtechnologie) und Solidarität
(mehr Gemeinschaftlichkeit) auf die Fahne schreibt. "Wir brauchen die
Bereitschaft für Veränderungen", fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel
zum Jahreswechsel mit Blick auf den Umbau der Sozialsysteme, deren
Konsequenzen, so wäre zu ergänzen, für den Einzelnen ja die
Gemeinschaften auffangen könnten. Modernes Spielbein, traditionelles
Standbein. Wir "sollten die alten Tugenden nicht vergessen", mahnt
daher Bundespräsident Köhler in seiner Weihnachtsansprache und findet
in bewährten Werten die Voraussetzung dafür, bei der Problemlösung
"neue Wege" zu beschreiten.
Die substantielle Gemeinschaft gegen die wurzellose Gesellschaft
"Wir
wollen mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in der
Gesellschaft," verkündet Familienministerin van der Leyen in ihrer
ersten Ansprache vor dem Bundestag. "Unser Ziel ist es, dass es in
Brandenburg mehr Familien und mehr Kinder gibt. Mehr Familien tun
unserem Land gut", schreibt Matthias Platzeck. Dies ist politische
Programmatik. Wenn aber ein Bundesverfassungsrichter in einem Buch, in
dessen Fußnoten Autoritäten von Aristoteles bis Luhmann angeführt
werden, feststellt, die "Familie ist für die freiheitliche Gesellschaft
das Fundament, auf dem sie ruht", handelt es sich dann um die
politische Meinung eines verheirateten Vaters von vier Kindern oder um
das Ergebnis einer wahrheitsfähigen Argumentation? Und wenn Di Fabio
dann in einer kurzen Passage mehrfach Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes, das Grundgesetz und den Entwurf des
Vertrags einer Verfassung für die Europäische Union zitiert, um die
"Gemeinschaft" als Grundlage aller "substantiellen Freiheit" des
Menschen gegen eine oberflächliche, ihren "Wurzeln entsagende
Gesellschaft" zu setzen, soll man dann nicht den Eindruck hegen, diese
Aufwertung der "substantiellen" Gemeinschaft gegenüber der
"wurzellosen" Gesellschaft sei eine Wahrheit, die sogar vor dem
höchsten Gericht unserer Republik Bestand hätte und so staatstragend
wäre, wie das Buchcover es verheißt?
Doch kann di Fabios
Plädoyer für Gemeinschaft und gegen Gesellschaft weder im Namen des
Volkes entscheiden noch wird es den strengen Maßstäben seiner
wissenschaftlichen These gerecht. Di Fabio sieht darin eine Stärke
seines Buches, denn ein rein fachwissenschaftlicher Beitrag zählte ja
zu jener kalten, entzauberten gesellschaftlichen Sphäre funktionaler
Differenzierung, die das Individuum nur in seinen Funktionsrollen
anspricht und es so zwangsläufig entfremdet. So wie nun die
Gemeinschaft zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, versöhnt
Di Fabio den kalten wissenschaftlichen Diskurs und das vertraute,
gesellschaftlich aber meist folgenlose Gespräch. Di Fabio will auch
hier die Mitte, verzichtet aber nicht darauf, steile Thesen - die
"Drei-Kind-Familie" rettet den Westen - mit ein paar Zitatgirlanden
aufzuputzen.
Udo Di Fabio unternimmt eine Beschreibung unserer Epoche, aus deren
Problemlage sich die Lösung unmittelbar ergibt: Der Erfolg der
westlichen Kultur der Aufklärung, Modernisierung, Industrialisierung,
Technisierung, Rationalisierung, Arbeitsteilung und Spezialisierung hat
das Fundament dieser Kultur erodieren lassen und den Westen seiner
Werte beraubt. Am hohen Wert der Freiheit sei dies exemplarisch zu
beobachten. Freiheit werde nur noch negativ verstanden als Abwesenheit
von Zwang, nicht aber positiv gefüllt. Es gibt also durchaus eine
"freie Gesellschaft", in der jedes Individuum frei ist zu tun, was es
im Rahmen der Rechtsordnung will, ohne dass es zu etwas gezwungen
würde. Doch fehle eine "Kultur der Freiheit", welche die Freiheit des
Einzelnen als positives Engagement verstehen würde: "Frei sein heißt,
über seine Bindung selbst zu bestimmen, Gemeinschaften zu suchen, zu
gründen und zu verteidigen." Eine Ehe zu schließen, dem Gebot der
Nächstenliebe oder der Humanität in einer Gemeinde oder Organisation zu
folgen, Kinder zu erziehen, sind Beispiele für solche Selbstbindungen
in Freiheit. Während die Gesellschaft keine solchen dauerhaften,
verantwortungsvollen Bindungen einfordert, sondern vom Einzelnen nach
Schillers berühmtem Spruch nur das Ausfüllen der rechten Formulare am
rechten Ort verlangt, inkludiert die Gemeinschaft den ganzen Menschen.
Zwischen die rationalen, aber abstrakten Prozeduren der Gesellschaft
und den effizient versorgten, aber vereinzelten Personen soll daher
eine Ebene der Gemeinschaft geschaltet werden, um Individuen und
Gesellschaft in einer vitalen Einheit zu integrieren. Die Familie ist
aus seiner Sicht ihr Urbild, ein ursprünglicher Kulturraum, in dem die
Voraussetzungen für die Freiheit weit mehr geschaffen werden als in
"den Welten der Politik, des Rechts und der Verwaltung". In der Familie
lernen wir, was Verantwortung für sich und andere bedeutet, schreibt
van der Leyen. Dass Di Fabio Singles und elternlose Paare für
verantwortungslose Hedonisten hält, kann nicht überraschen. Nur auf der
"Natürlichkeit einer menschlichen Gemeinschaft" kann eine gesunde
Gesellschaft aufbauen.
Die Lösung des Problems unserer Gesellschaft ergibt sich also von
allein: Stärkung der Gemeinschaft, der Freiheit zur Selbstbindung, der
Ehe, des generationenübergreifenden Familienverbands, um die
Gesellschaft wieder mit einem festen Boden auszustatten, was sie wieder
"vital" machen werde, überlebensfähig im Kampf um das 21. Jahrhundert.
Nur aus der Bindungskraft dieser Gemeinschaften entspringe ihre
Vitalität. Eine bezaubernde Gattin und zauberhafte Kinder machen Max
Webers Entzauberung ein Ende. Gemeinschaften sind die Kraftquelle der
Gesellschaft, nicht der Staat. Gott sei Dank, so wird sich Di Fabio
gesagt haben, denn der überschuldete und überdehnte Staat ist ja alles
andere als eine Quelle der Vitalität. Aus diesem Grund taugt sein Buch
auch so gut als Programm der großen Koalition, denn
Versorgungsansprüche sind teuer und Werte preiswert.
Eine Modernität, die über die Köpfe der Menschen hinweg fegt
Wenn
Bürger "gemeinsam etwas für ihre Anliegen in der Heimat bewirken", und
zwar jenseits aller Parteipolitik, sei dies ein Vorbild für uns alle,
stellt der Bundespräsident fest. Auch Du bist Deutschland. Gemeinsam
sind wir stark - und belasten keine öffentlichen Kassen. "Eine
Modernität", schreibt Matthias Platzeck, "die über die Köpfe der
Menschen hinwegfegt wie eisiger Wind, ist in Wahrheit gar keine. Denn
wo es nur noch um ökonomische Zwänge geht, da spielen die Wünsche,
Hoffnungen und Bedürfnisse der Menschen, Familien und gewachsenen
Gemeinschaften bald keine Rolle mehr." Was der SPD-Vorsitzende
seelenlose Modernisierung nennt, entspricht Di Fabios "entzauberter
Gesellschaft". Platzecks Lösung lautet, "Zukunft" wieder auf "Herkunft"
zu errichten, auf "gewachsenen Gemeinschaften". Region und Familie
sollten die Menschen wieder derart einbinden, dass sie Herkunft haben.
"Familie ist im wahrsten Sinne des Wortes der ursprüngliche Ort, wo
Alltagssolidaritäten gelebt werden", verkündet die Familienministerin.
Und wenn wir dies gelernt haben, können wir es auf den Kontext der
Weltgesellschaft übertragen und die deutsche Nation lieben, wie wir
Eheweib und Kinder lieben, exklusiv, treu und aufopferungsvoll.
Im Jahre 1887 hat Ferdinand Tönnies in
Gesellschaft und Gemeinschaft
die Gesellschaft als mechanisches Aggregat und Artefakt definiert,
welche den Einzelnen gegen alle übrigen isolieren, und die Gemeinschaft
als natürliche Ressource verstanden, die den ganzen Menschen einbezieht
und mit gemeinsamen Werten und Traditionen bindet. Das Begriffspaar hat
eine unheilvolle Karriere hinter sich, deren Höhepunkt die
Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus darstellt. Sie
fortzuschreiben, ist zumindest unüberlegt, auch wenn man sicher der
Ansicht sein kann, dass die sozialtechnische Mechanik der Politik heute
zu kostspielig geworden und es an der Zeit ist, den allverantwortlichen
Staat zurecht zu stutzen. Die Gesellschaft mit einem reaktionären
Begriffspaar aus dem 19. Jahrhundert zu beschreiben, wird jedenfalls
nicht viel helfen, denn unsere Probleme sind nicht die der Gründerzeit
- und nicht einmal die wären mit größeren Familien oder mehr Liebe zum
Nächsten und zur Nation zu lösen gewesen.