Gedächtnisstützen

                   Ein Lexikon zur "Erinnerung" behält den Überblick in
                   einem boomenden Forschungsfeld

                   Von Niels Werber

                   Als das World Trade Center einstürzte, griffen eine Unzahl von Versuchen,
                   das ungeheure Ereignis zu verstehen, auf die Vergangenheit zurück. Religiöse
                   Sekten fanden Hinweise in alten Prophetien, Kinogänger hatten alles schon in
                   etlichen Blockbustern gesehen, Intellektuelle wiesen auf Gedichte von Blake
                   oder Gespräche im Führerhauptquartier hin, Experten auf Suren im Koran,
                   Historiker auf Pearl Harbour und Hiroshima, Ästheten auf Gesamtkunstwerke.
                   Das singuläre, ja scheinbar epochale Ereignis vom 11. September wurde als
                   Wiederholung beschrieben oder, anders formuliert, als Variante eines
                   altbekannten Musters. Um das Neue zu verarbeiten, haben all diese
                   Beschreibungen auf das "kulturelle Gedächtnis" zurückgegriffen, das heißt auf
                   jene "Wissensbestände", die für eine "Gruppe identitätsstiftend" sind - um es
                   mit der Kurzdefinition jenes "interdisziplinären Lexikons" zu sagen, das uns in
                   Fragen von Gedächtnis und Erinnerung freundlicherweise eigenes Wissen und
                   Merken abnimmt.

                   Das "kulturelle Gedächtnis" hält also für soziale Gruppen "Sinnrahmen"
                   bereit, vor deren Hintergrund einerseits Ereignisse überhaupt auffallen und in
                   denen sie andererseits gedeutet werden können. Der "Sinn" des Erinnerns, so
                   lesen wir im entsprechenden Eintrag, besteht unter anderem darin, den
                   "Sinngehalt gegenwärtiger Vorkommnisse zu sichern und zu steigern, indem
                   sie mit einer Vergangenheit, das heißt mit einer Bezugnahme auf frühere
                   Ereignisse ausgestattet werden". Der Schrecken des Terrors wird also,
                   obwohl plötzlich, unerwartet und einzigartig, auf eine Vergangenheit bezogen
                   und so rückwirkend mit Sinn ausgestattet. Das Neue geschieht - und sogleich
                   erinnern sich alle, dass sie es hätten wissen können.

                   Der Verweis auf Texte, Filme oder Aufzeichnungen lässt erwarten, ein
                   Gedächtnis sei die Summe gespeicherter Wissensbestände, aber dies
                   täuscht. Zum einen, so der Eintrag "Speichern", hat man mit soziohistorisch
                   wechselnden Zugriffen auf technische Speicher zu tun: auf den gleichen
                   Datenbestand wird - abhängig von sozialen Variablen - unterschiedlich
                   zugegriffen. Der hochselektive Umgang mit den CNN-Bildern vom 11.
                   September liefert dafür ein schlagendes Beispiel. Zum anderen greift das
                   kulturelle Gedächtnis nicht nur auf technische "Speichermedien" zurück,
                   sondern auch auf "inwendige" wie etwa "Riten", "Feste" oder "Mythen".

                   Der Ritus etwa greift, statt sich mit dem begrenzten Gedächtnis eines
                   einzigen Individuums zu begnügen, auf ein organisiertes Kollektiv, in dem
                   jeder Einzelne nur gewisse Aspekte des Ritus memorieren muss. Seine
                   Wiederholung im Kollektiv bildet so ein Funktionsäquivalent für Speicher wie
                   Schrift oder Video. Der Ritus stiftet zugleich kollektive Identität - und
                   keineswegs nur in oralen Kulturen (siehe "Oralität"), sondern auch in
                   Habilitationskolloquien oder Edelrestaurants. Wie man sich dort wirklich zu
                   verhalten hat, kann man nirgends nachlesen, oft nicht einmal nachfragen. Man
                   muss eben mitmachen, um sich das entsprechende "Skript" anzueignen
                   (siehe "Routine"). Wenn aber derartige Skripte "zu starr oder aber konturlos
                   angelegt sind", kann "Neuartiges nicht mehr in die kognitive Struktur des
                   Betreffenden integriert werden" - und statt sich auf das Neue einzulassen,
                   sieht man dann nur alte Filme und Bilder wie viele Feuilletonisten nach dem
                   11. September.

                   Ein "Lexikon", so steht es unter dem Lemma, für das die Herausgeber selbst
                   verantwortlich zeichnen, bildet eine "Wissenssammlung", deren alphabetische
                   Ordnung es auch "dem Unkundigen erlaubt, gezielt auf die gesellschaftlich
                   bereitgestellten Wissensbestände zuzugreifen". Zudem geht es über das
                   "Wissen" einer "einzigen Person" hinaus, da ein "Autorenkollektiv" den
                   gesamten fachspezifischen Wissensbestand aufarbeitet, selektiert und
                   verdichtet. Lexika treten dort auf, wo die "Menge des Wissbaren
                   explosionsartig anwächst", um den Einzelnen vom Zwang zum Überblick "zu
                   entlasten".

                   Das Lexikon Gedächtnis und Erinnerung hält, was dieser Eintrag verspricht.
                   Die kurzen, meist prägnanten Einträge sind ausgezeichnet "verlinkt", man
                   kann mit dem Lexikon arbeiten, und es gewährt einen exzellenten Überblick
                   über ein Forschungsfeld, das eine Vielzahl von Fächern beschäftigt von den
                   Kultur-, Medien- oder Literaturwissenschaften über Ethnologie und Geschichte
                   bis zu Neurobiologie, Psychologie oder Philosophie. Als Surplus stellt es
                   wichtige Autoren dieser Fächer vor, insofern sie als Verfasser der Einträge
                   auftreten: Das Verzeichnis der Mitarbeiter liest sich wie ein Who-is-Who.
                   Allein die Würdigung einiger weniger Autoren mit eigenem Eintrag wirkt
                   kontingent, zumal sie - wie Nietzsche oder Freud, Halbwachs oder Warburg -
                   ohnehin in vielen Sacheinträgen abgehandelt werden. Kurz: Nicolas Pethes
                   und Jens Ruchatz haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, die man sich selbst
                   nun sparen kann.

                   Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein
                   interdisziplinäres Lexikon. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2001, 608
                   Seiten, 38,92 DM.

 

                   [ document info ]
                   Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
                   Dokument erstellt am 09.11.2001 um 22:14:22 Uhr
                   Erscheinungsdatum 10.11.2001