Gerade nicht präsent, aber gewusst wo 

Die andere Seite der Gedächtniskultur: Elena Esposito bereichert die weite Forschungslandschaft des Erinnerns um eine Studie zum "sozialen Vergessen" 

Von Niels Werber 

"Vergiss mich!" befiehlt die ehemalige Geliebte. Einige Zeit zuvor drängte sie noch erzürnt: "Du musst dich erinnern!" Beide Imperative sind offenbar paradox. Was man vergessen hat, kann man nicht erinnern. Und kann man jemanden vergessen, der sich soeben mit diesem letzten dramatischen Befehl unvergesslich ins Gedächtnis eingebrannt hat? Wenn dies zutrifft, und man weder vergessen noch erinnern kann, was und wann man will, muss man davon ausgehen, nicht allzu viel Einfluss auf das eigene Gedächtnis zu haben. Und wenn das Ich nicht einmal der Souverän seines Gedächtnisses ist, da es willkürlich weder erinnert noch vergisst, vermag es dann überhaupt Herr über sich selbst zu sein? Wenn das Ich, wie der fulminante Gedächtniskünstler Anton Reiser feststellt, nichts als die "Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene" ist, die Verlässlichkeit dieser "Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen" aber zweifelhaft, dann wäre die eigene "Individualität" womöglich nur eine momentane "Täuschung". Die "Existenz", legt Reiser uns nahe, hängt vom Gedächtnis ab. Aber das Gedächtnis selbst? Ist es Herr oder Knecht?

Das verunsicherte Ich könnte auf Hilfsmittel setzen. Man durchblättert Alben, Notizbücher, Terminplaner. Das soziale Gedächtnis, so können wir mit der Soziologin und Luhmann-Schülerin Elena Esposito sagen, verlagert Kapazitäten nach außen - und man erinnert sich, indem man Medien konsultiert, die uns die Zeit zur Verfügung stellt: Briefe, Bücher, Archive, Datenbanken. So kann mehr erinnert werden, weil mehr vergessen wird. Man lernt keinen Brief auswendig, den man nachlesen kann, es reicht zu wissen, wo er liegt. Gerade weil man nun viel vergessen kann, nimmt die Komplexität des Gedächtnisses zu. Je mehr sich das Gedächtnis auf Medien verlassen kann, desto mehr Erinnerungen kann es potenziell aktualisieren, weil es sie bis auf wenige Formalitäten vergisst. 

Es gehört zu den radikalen Einsichten Espositos, dass das Gedächtnis nicht in die Vergangenheit führt, sondern die Erinnerung an vergangene Ereignisse nur vorgaukelt. Denn was immer ich tun mag, wenn ich mich diesen verschiedenen Medien der Erinnerung widme, ich tue es jetzt - die Erinnerung kennt keinen Weg in die Vergangenheit, sondern besteht in einer immer momentanen Aktualisierung. Doch ohne diese Briefe oder Filme - ich wüsste kaum, was ich alles vergessen hätte. Trennt man sich von all den Medien, vergeht die Zeit, ohne dass Medien eine Aktualisierung der Erinnerung erlaubten. Und sollte doch irgendein Zufall jene mémoire involontaire auslösen, die Proust in der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt, so führt auch dies nie in der Zeit zurück, sondern erzeugt in der Gegenwart eine Konstruktion der Vergangenheit. 

"Man erinnert sich an das, was man erinnert, und nicht an das, was man vergessen hat", formuliert Elena Esposito nüchtern die Grundannahme ihrer umfassenden Studie über "Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft". Aus der Gegenwart, in der alles stattfindet, was überhaupt stattfindet, führt kein Weg in Zukunft oder Vergangenheit. "Alles geschieht in einer Gegenwart, die Vergangenheit als Bedingung der eigenen Operationsfähigkeit rekonstruiert." Ohne Vergangenheit und Gedächtnis geht es nicht, und doch soll alles in der Gegenwart geschehen. Wäre dies nicht paradox? Eigentlich ist ein ganz einfacher Sachverhalt gemeint. Als Wilhelm II. sich 1913 als Friedenskaiser feiern ließ, war seine Vergangenheit eine ganz andere als nur wenige Jahre später, als er abdankte und emigrierte. Auch seine Zukunft war zum Zeitpunkt seines Kronjubiläums eine vollkommen andere als im Exil.

Das Gedächtnis, das Vergangenheit und Zukunft unterscheidet, vollzieht dies immer in der Gegenwart - vor dem Krieg anders als danach. Ein soziales Gedächtnis, lernen wir bei Esposito, speichert keine Daten aus der Vergangenheit, sondern erzeugt in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Vergangenheit für diese Gesellschaft. Was erinnert und vergessen wird und welche Rolle dies für die Gesellschaft spielt, hängt davon ab, wie es diese Daten aktualisiert und in die Kommunikation einspeist. Gewiss, vieles ist irgendwo gespeichert, aber nicht in Gebrauch! 

Was und wie ein Gedächtnis erinnern und vergessen kann, hängt für Esposito ganz von den zur Verfügung stehenden Medien ab. Sie ordnet insgesamt vier Großtechnologien vier Formen des sozialen Gedächtnisses und zugleich verschiedenen Stadien sozialer Differenzierung zu. Ihr entschlossener Versuch, die Medien-, Kultur- und Differenzierungsgeschichten der Gesellschaft von der frühen Antike bis heute im Gedächtnisbegriff zusammenzuführen, beschert uns neben brillanten Einsichten auch manche forcierte Abstraktion. Fruchtbar ist, den Gedächtnisbegriff als Differenz von Erinnern und Vergessen zu konzipieren und ganz in der Gegenwart der Gesellschaft zu verankern. Und unsere Gegenwart steht für Esposito im Zeichen der "Netze". Die alten Gedächtnismodelle, die mit Registern, Inventaren, Katalogen operierten, werden nun "überflüssig", weil es "Suchmaschinen" gibt, die auf Befehl "einen einzigartigen Suchpfad" erzeugen, der in einer einzigartigen Weise Daten verarbeitet. Früher fand man unter der gleichen Signatur immer das gleiche Buch, heute führt derselbe Suchstring an verschiedenen Zeitpunkten zu anderen Ergebnissen, denn das Netz hat sich inzwischen verändert. 

Alles kann nun vergessen, alles erinnert werden. Man braucht nur einen Suchalgorithmus zu starten. Die Suchmaschinen aber erzeugen Informationen, sie finden sie nicht; ihre Informationen erinnern nichts, weil sie das Resultat einer einmaligen Datenverarbeitung sind. Also kennt das Netz nur noch die "Gegenwart". Mit dem Netz bekäme die Selbstbeschreibung der Gesellschaft in den Blick: Alles, was passiert, "does so for the first and last time". Folglich lässt sich nichts beeinflussen, weil alles, was gleichzeitig stattfindet, sich kausalem Einfluss entzieht. Kausalität aber braucht Zeit. Im Zeichen eines radikalen "Präsentismus" (Jan Assmann über Esposito) geriete alles "out of control" (Kevin Kelly). Das soziale Gedächtnis der Gesellschaft wird auch diese Diagnose auf ihre Kohärenz testen und entweder erinnern oder vergessen.

Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 300 Seiten, 14 .
 
 

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Dokument erstellt am 24.05.2002 um 21:48:50 Uhr
Erscheinungsdatum 25.05.2002