Wir Überflüssigen

                        Exklusion der Exklusion? Die derzeitige Soziologiedebatte
                        über die Problematik des Ausschlusses aus der Gesellschaft
                        schwankt zwischen scholastischer Abstraktion und
                        theoriefernem Engagement

                                        von NIELS WERBER

                        Ob Davos oder Seattle, wo immer die Agenturen der
                        Globalisierung ihre Anhänger um sich scharen, versammeln sich
                        auch ihre Gegner, die auf die negativen Effekte des Prozesses
                        aufmerksam machen: Armut, Marginalisierung, Unterdrückung,
                        soziale Unsicherheit. Immerhin reicht nur ein Kameraschwenk
                        aus, um die Börsen an der Wall Street und die Obdachlosen, die
                        Frankfurter Bankentürme und die Crackraucher oder die
                        Webstühle und Slums von Bangalore ins Bild zu kriegen. Dieses
                        Nebeneinander lässt sich mühelos kausal deuten: Die
                        Globalisierten profitieren auf Kosten der Ausgeschlossenen - als
                        wären gut bezahlte Broker und IT-Experten undenkbar ohne
                        Langzeitarbeitslose oder Straßenkinder. Wer nicht über die
                        Mittel verfüge (die Bildung, den Zugang zu
                        Telekommunikationsmitteln, die Finanzkraft etc.), um global zu
                        konkurrieren, werde seinen Wettbewerbern unterliegen und
                        verelenden. So ursächlich muss es zwar nicht zugehen, aber es
                        reicht aus, daran zu glauben. Bereits die Unterstellung dieses
                        Zusammenhangs wirkt heute strukturbildend. Wer kann, passt
                        sich an, wer nicht, fliegt raus.

                        Die Rationalität, Effizienz und Dynamik der Globalisierung lässt
                        sich in Helmut Willkes neuem Buch "Atopia" studieren. Neben
                        den Blaupausen der Sonnenseite der Weltgesellschaft findet sich
                        dort ein - marginaler - Hinweis auf eine Gruppe von "rund 20 %
                        nicht oder gering qualifizierter und qualifizierbarer Arbeitnehmer",
                        über deren Schicksal man aber nicht mehr erfährt, als dass es
                        "hoffnungslos" sei.

                                       Verschobenes Kapital

                        Für diese Schattenseite der Weltgesellschaft interessiert sich die
                        Theorie der "Exklusion". Sie geht davon aus, dass gerade die
                        weltweite Arbeitsteilung lokale Ausschlüsse produziert. Wenn
                        alle Produktivkräfte miteinander konkurrieren, weltweit
                        miteinander verglichen werden können und hochgradig liquide
                        und mobil sind, dann werden Standorte, Arbeitskräfte, Kapital
                        schnell von einer Region zu anderen verschoben. Häufen sich an
                        einem Ort die "Nachteile" (hohes Lohnniveau, strenge Gesetze,
                        Umweltvorschriften ...) und kommen andere Faktoren hinzu wie
                        politische Instabilität, wachsende Kriminalität oder rigide
                        Bürokratien, dann kann dies zu einer Evakuierung durch die
                        global player führen. Die zurückbleibende Bevölkerung muss
                        dann um immer weniger Arbeitsplätze konkurrieren, während
                        der Staat über immer geringere Steuermittel verfügt, um
                        kompensatorisch einzugreifen. Dies kann zu einer negativen
                        Spirale führen, an deren Ende eine Art waste land steht wie in
                        einigen Gebieten Afrikas oder Asiens.

                        Die Zeitschrift Mittelweg 36 hat über mehrere Nummern hinweg
                        eine Kontroverse zur Exklusion geführt. Robert Castel
                        beschreibt dort Exklusion als einen Prozess, der eine Person aus
                        einer hohen "Einbindung in Netze der Soziabilität" gradweise
                        hinausführt in "Zonen" hoher "Integrationsdefizite", bis sie
                        schließlich ganz "vom Ausschluss bedroht" ist durch eine
                        räumliche "Verbannung" in Ghettos etwa. Castel sieht die
                        Fähigkeit des Wohlfahrtstaates bedroht, auf dem gesamten
                        Staatsgebiet "eine annähernd homogene Behandlung der
                        Gesamtheit der Bevölkerung zu gewährleisten". Allen
                        Versprechungen der Verfassungen und aller Sozialarbeit
                        entgegen fallen immer mehr Leute durch alle Netze hindurch.
                        Könnten diese Personen nicht zur Konkurrenz gehen und sich
                        einen anderen Wohlfahrtsstaat suchen? Willke scheint davon
                        auszugehen, wenn er vorschlägt, als "deutscher Staatsbürger"
                        einer "atopischen" Gesellschaft die "Wahlfreiheit" zu erhalten, sich
                        dem "amerikanischen Gesundheitssystem, dem britischen
                        Erziehungssystem, der Kultur Tibets und dem Sportsystem
                        Brasiliens" anzugliedern. Dies würde Castel wohl für zynisch
                        oder naiv halten, denn den Ausgeschlossenen mangelt es am
                        Nötigsten in Zonen, aus denen sie nicht fortgehen können. Sie
                        sind immobil, unfähig zur global competition. Die französische
                        Sozialpolitik, so Castel, kümmere sich zwar um einige Opfer der
                        Exklusion, aber nur, um die strukturellen Gründe des Problems
                        vollständig ignorieren zu können. Heinz Steinert meint sogar,
                        dass die Viktimisierung und Personalisierung der Exklusion dazu
                        diene, es als persönliches Problem der "Überflüssigen" (Heinz
                        Bude) zu denken statt als Strukturlogik der Gesellschaft. Man
                        fragt, was ihnen denn fehle (Bildung, Ehrgeiz, employability
                        . . .), und nicht, welcher Mechanismus sie ausschließe. Als
                        Theoretiker der Weltgesellschaft könnte man hier die Frage
                        aufwerfen: Führt globaler Wettbewerb zu lokaler
                        Marginalisierung?

                        Rudolf Stichweh hat in "Die Weltgesellschaft" darauf aufmerksam
                        gemacht, dass "Exklusion ein lokales Phänomen zu sein scheint",
                        also als "räumliche Ausgrenzung exkludierter Populationen in
                        Form von Banlieues, Favelas, Slums oder in den
                        U-Bahn-Schächten" auftrete. Nicht jeder Ausschluss wäre in
                        diesem Sinne Exklusion. Wer aus dem Club fliegt, den
                        Arbeitsplatz verliert, Lokalverbot erhält oder das Studium
                        abbricht, gehört noch lange nicht in den "Exklusionsbereich" der
                        Gesellschaft. Man kann ja wie Homer Simpson einem anderen
                        Verein beitreten, vom Arbeitsamt leben, die Kneipe wechseln
                        oder eine Lehre aufnehmen. Der Inklusionsbereich der
                        Gesellschaft ist durch solche Alternativen geradezu definiert, sie
                        verändern den Lebensweg: Die Karriere eines modernen
                        Menschen ist gekennzeichnet von zahlreichen teils selbst-, teils
                        fremdmotivierten Wechseln.

                        Wer in einer Favela oder einem Slum lebt, hat jedoch keine
                        Wahl. Wo ein Ausschluss aus lebenswichtigen Organisationen
                        nicht zum Eintritt in alternative Einrichtungen führt, sondern den
                        Zugriff auf einen ganzen Lebensbereich (die Wirtschaft, die
                        Krankenversorgung, das Wohnen, die Rechtsprechung)
                        versperrt, da handelt es sich um Exklusion.

                                      Randgruppen im System

                        Aber nehmen nicht auch Randgruppen und Ghettobewohner teil
                        an der Kommunikation in der Weltgesellschaft? Für Armin
                        Nassehi haben Leute mit weniger Geld, geringerer Bildung,
                        schlechterer Versorgung oder Gesundheit nach wie vor Zugang
                        zu den modernen Systemen der Ökonomie, des Rechts, der
                        Politik, der Medizin, der Kunst oder der Wissenschaft. Was
                        Castel als Exklusion diskutiert, gehört für Nassehi gerade zur
                        spezifischen Form moderner Inklusion, die durchaus interne
                        Ungleichheit reproduziert. Selbst der Langzeitarbeitslose, der
                        sich seiner Lage schämt, nicht mehr unter die Leute geht und
                        zurückgezogen fernsieht, auch die arabischen Jugendlichen, die
                        wie im Film "La Haine" ziellos durch die Banlieues streunen, sind
                        keine "Ausgeschlossenen" (Castel), sondern "erfahren im
                        hochgradigem Maße dies: Inklusion" (Nassehi). Gegen Castels
                        Verständnis gradueller Einbindung oder Ausschließung führt
                        Nassehi an: "Ein von Armut Betroffener ist keineswegs weniger
                        in das Wirtschaftssystem inkludiert als jemand mit hohem
                        Geldvermögen." Auch Unrecht erhält man nur als Teilnehmer des
                        Rechtssystems oder Bildungsnachteile nur als Operation des
                        Bildungssystems. Also gilt: Lexclusion nexiste pas. Den Begriff
                        hält Nassehi "für untauglich", auch aus logischen Gründen.
                        "Exkludierte" dürften eigentlich "gar nicht sichtbar sein. Wir
                        dürften von ihnen nichts wissen, denn sie hielten sich in einem
                        Raum auf, der für soziale Systeme letztlich uneinsehbar bleiben
                        muss."

                        Der Bielefelder Luhmann-Nachfolger Stichweh nennt einige
                        "extreme Sonderfälle", in der "faktische Exklusionen" vorkämen,
                        doch handele es sich dabei um Ausnahmen aus einem globalen
                        Trend zum nationalen Wohlfahrtsstaat, der auf seinem
                        Territorium eine "Minimalgleichheit" bei der "Sicherung der
                        elementaren Lebensgrundlagen" für die gesamte Bevölkerung
                        gewährleiste und sich dabei keinen Bürger entgehen lasse. Das
                        Problem, dass der Nationalstaat die Probleme der Globalisierung
                        nicht zu lösen vermag, wird mit theoretischer Eleganz gelöst, weil
                        Stichweh den nationalen Wohlfahrtsstaat gerade zur typischen
                        politischen Form der Weltgesellschaft erklärt. Ist das Problem
                        der Exklusion damit erledigt? Oder verfehlen die
                        Systemtheoretiker Willke, Nassehi und Stichweh die Realität der
                        Gesellschaft?

                        Ausgerechnet Luhmann hat in seinem Aufsatz "Jenseits von
                        Barbarei" vorgeschlagen, einfach einmal die Augen offen zu
                        halten: "Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man
                        feststellen, dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft
                        und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht.
                        Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer
                        Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon
                        berichten. [...] Es bedarf dazu keiner empirischen
                        Untersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und
                        zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren
                        Erklärungen scheitern." Die "Wohlgesinnten", vermutet Martin
                        Kronauer, seien "Anhänger von Luhmanns eigener Theorie".
                        Diese "hätten tatsächlich allen Grund" zum Staunen, ging doch
                        die Systemtheorie bisher vom Prinzip der "Vollinklusion" aus.
                        Selbst das, was Castel als Exklusion beschreibt, deuten ja die
                        Systemtheoretiker als Inklusion. Luhmann jedoch meint mit
                        Exklusion etwas ganz anderes: nämlich eine "aufs körperliche
                        reduzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung, die den nächsten
                        Tag zu erreichen sucht".

                                       Rational ausschließen

                        Die Radikalität von Luhmanns These besteht darin, dass er in der
                        Exklusion keine Ausnahme sieht, kein Problem, das demnächst
                        gelöst wird. Exklusion entsteht unter "normalen
                        Stabilitätsbedingungen", also nicht als Sonderfall, sondern als
                        Regel, Exklusionszonen werden von der Funktionsdifferenzierung
                        der Moderne geradezu produziert: "Funktionssysteme schließen,
                        wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren
                        sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu
                        anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit,
                        kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte
                        Geburt, ohne Ausweis, ohne Zugang zu an sich vorgesehenen
                        Anspruchsberechtigungen, keine Beteiligung an Politik, kein
                        Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten - die
                        Liste ließe sich verlängern."

                        Wer dies sehen will, der sieht es. Und dieser Besucher wird
                        erleben, was es heißt, von seinem Nächsten zuerst als Körper,
                        als Beute wahrgenommen zu werden. Die Intensität dieser
                        Eindrücke mag bislang nicht theoriefähig sein; doch muss man
                        dann eben solange nach neuen Erklärungen Ausschau halten, bis
                        man sieht, was man bis jetzt offenbar nur übersehen kann:
                        Exklusion.

                        Zum Thema "Inklusion / Exklusion" veranstaltet das Zentrum
                        für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld vom
                        1. bis 3. März eine Konferenz, an der unter anderem
                        Friedrich Balke, Ernesto Laclau, Dirk Baecker, Joseph Vogl,
                        Armin Nassehi und Rudolf Stichweh teilnehmen.

                        taz Nr. 6383 vom 27.2.2001, Seite 13-14, 353 Zeilen, TAZ-Bericht NIELS
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