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Blitze der Entscheidung
Die Neuordnung Europas und der Welt: Bundesaußenminister Joschka Fischer und sein dezisionistischer Blick auf die Geschichte
VON NIELS WERBER
Die
Anschläge vom 11. September 2001 haben die Welt oder ihre Beobachter so
sehr verändert, dass die Zeit vorher einer anderen Epoche zugehört als
die nachher. Joschka Fischer hält diesen Tag für einen jener wenigen
Momente, die Weltgeschichte sichtbar machen. So sei es auch am 18. Juni
1914, als der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen wurde,
und am 9. November 1989, als die Mauer fällt und jedem den Untergang
des sowjetischen Imperiums vor Augen führt.
"Der Gang der
Geschichte entscheidet sich bisweilen an einem Tag oder auch nur
innerhalb weniger Stunden. An solch ganz besonderen Tagen wird
Geschichte sichtbar und erlebbar für jedermann." Die unübersichtliche,
"hochkomplexe" Lage stellt sich plötzlich in aller Klarheit dar und die
Weltordnung selbst lässt sich überschauen. Am 11. September 2001 endet
das Ende der Geschichte, denn "blitzartig" habe sie "zugeschlagen", und
all "jene Träume von einer friedlicheren Welt nach dem Ende des Kalten
Krieges, all die Hoffnungen auf eine Friedensdividende und all jene
schönen Illusionen vom Ende der Politik, vom Rückzug des Staates wurden
unter den Trümmern der einstürzenden Zwillingstürme in New York City
begraben." Geschichte ist interessant, wenn sie blitzartig zuschlägt.
Carl Schmitt würde hier von Chairos sprechen, der plötzliche Eintritt
eines Ereignisses in die fließende Zeit des Chronos. Fischers Faible
für Zeus' Blitze der Entscheidung kennzeichnet ihn als politischen
Denker in der Tradition des Dezisionismus.
Was zurückkehrt, ist
weniger die Geschichte, als das Politische. Mit den schönen Illusionen
vom Ende der Politik und des Staates sei es vorbei, und es steht nicht
zu befürchten, dass die Globalisierung den Nationalstaat aufgelöst habe
und ihre Imperative der Politik jeden Spielraum geraubt hätten. Über 60
Prozent der deutschen Wähler halten einen Regierungswechsel für ein
ästhetisches Ereignis, denn dass andere Politiker anders entscheiden
könnten als die anderen, glauben sie nicht. Das Politische kehrt also
sicher nicht als Wirtschafts-, Sozial-, Beschäftigungs- oder
Gesundheitspolitik zurück, denn auf diesen Feldern wird nicht
entschieden, sondern verwaltet. Das Politische, dessen Ende der 11.
September als Illusion offenbart habe, ist das Außenpolitische.
Weitreichende Entscheidungen
Die
Entscheidungen, die heute getroffen werden, sind "entscheidend" für die
"Zukunft" unserer Welt. Es geht bei Fischer um "strategische
Entscheidungen" von "entscheidender Bedeutung", um "weitreichende
Entscheidungen" der "entscheidenden Fragen", und da müssen die
"entscheidenden Prioritäten" genau benannt sein, kurz: es geht nichts
geringeres als die Neue Weltordnung. Und wie wird die aussehen? "Die
Beantwortung dieser Frage wird ganz entscheidend von der Weitsicht und
dem Mut der strategischen Entscheidungen des Westens bestimmt werden."
In
einer Zeit, in der Deutschlands Begehr nach einem Sitz im
UN-Sicherheitsrat mit der Bemerkung abgetan wird, die EU habe doch
schon zwei Sitze, versteht es sich, dass entscheidende Politik nicht
deutsche Politik sein kann, sondern europäische. Fischer beschäftigt
sich denn auch vor allem mit den geostrategischen Optionen der EU und
des Westens. Mit Westen meint er zweierlei: nämlich eine
militärisch-politische Raumordnung mit scharfen Außengrenzen und eine
gemeinsame Wertordnung, zu deren Grundlagen Rechts- und
Sozialstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft und Konsum gehören;
aber dieser Westen hat auch einen amerikanischen Pfeiler, und die USA
sind auch für Fischer in vieler Hinsicht das ganz andere.
Eine globale Hierarchie der Mächte
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Es
sollte ein Entwurf seiner außenpolitischen Konzeption in Zeiten des
Gestaltungsprozesses der Europäischen Union werden. Nun jedoch wird
Joschka Fischers Blick auf die Weltpolitik nach dem 11. September 2001
auch zu einer Art Wahlkampf-Broschur.
Joschka Fischer:
"Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die
Erneuerung des Westens", Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, 304
Seiten, 19,90 Euro. tt |
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Sie gelten als geschichtslos, was sie "grundsätzlich" von allen anderen
Großstaaten unterscheiden. "Diese Nation gründet nicht auf einer
historisch gewachsenen, aus dem Dunkel der Geschichte mit dem Fortgang
der Jahrhunderte herüberreichenden Legitimität", während die EU noch an
Konflikten laboriere, die auf "eintausendfünfhundert Jahre Geschichte
und Differenzierung" zurückzuführen seien. Da die USA sich nicht an
ihrer eigenen "Tradition und Geschichte" orientieren könnten, griffen
sie auf Werte zurück. Daher haben sie immer eine Mission gehabt, und
dies hat heute weltweite Konsequenzen, denn sie sind, aufgrund "ihrer
umfassenden politisch-ökonomisch-technologisch-kulturellen Dominanz,
ihrer einzigartigen Fähigkeit zur globalen Machtprojektion" schlicht
die "alleinige Weltmacht". Aus der Überlegenheit der USA folgt eine
globale Hierarchie der Mächte. Das Kreisrund der UN-Vollversammlung
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es globale, kontinentale,
regionale und lokale Mächte gibt und die Entscheidungen in der
"obersten Etage" gefällt werden. Dort wird Weltaußenpolitik gemacht,
deren Aufgabe es sei, die "kulturell-gesellschaftlichen Wurzeln" des
Terrors "mittels positiver Alternativen auszutrocknen." Die
postglaziale Welt brauche eine verbindliche Neue Ordnung, und die
entwirft der "Westen, angeführt von den USA." Die Beletage muss den
"Keller" aufräumen. Aber für einen globalen Hausputz ist die EU noch
nicht reif: "Europa muss sich selbst neu ordnen, während von den USA
verlangt wird, die Welt neu zu ordnen." Fischer verlangt weiter, dass
die USA den Rahmen der Werte, die sie verbreiten sollen, bei ihrer
Mission nicht sprengen. Wie allerdings die "globalisierten westlichen
Werte" dort verbreitet werden sollen, wo man sie nicht für universale
Werte, sondern westliche hält, verrät Fischer nicht. Es scheint zu
genügen, den Kellerkindern zu erklären, was best practice und good
governance bedeutet, damit sie flugs die Überlegenheit dieser Verfahren
erkennen und übernehmen. Das klingt sehr nach Frankfurt. Aber dass sich
weder China noch Russland vom Westen erklären lassen werden, was
Demokratie, Rule of Law oder Volkswohlfahrt bedeutet, liegt auf der
Hand. Die Frage wäre, ob ein Europa, dessen Aufrüstung Fischer fordert,
je mächtig genug und willens sein wird, um die Einhaltung
rechtsstaatlicher Standards oder den Schutz der Menschenrechte zu
erzwingen.
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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 14.06.2005 um 13:56:49 Uhr
Erscheinungsdatum 15.06.2005