Der
Bochumer Literatur- und Medienwissenschaftler Niels Werber zeichnet
nach, inwieweit viele Kommentatoren in ihren Reaktionen auf den
Antiterrorkampf und die Folterbilder aus Abu Ghraib alten
antiamerikanischen Ressentiments und Klischees aufsitzen.
Folter! Aber ja! Wen wundert noch, dass Amerikaner rechtlosen,
entmenschlichten Wesen Elektroden anlegen? Längst war in der Washington
Post
zu lesen, dass von US-Diensten internierte feindliche Kombattanten in
Länder überführt werden, die "für ihre
Foltermethoden bekannt" seien.
Nun
legt die Army selbst die Daumenschrauben an. Dass Späne fallen, wo
gehobelt wird, weiß hierzulande noch jedermann: "Wer
>Krieg<
sagt, muss auch >Folter< sagen", heißt es in einem
abgeklärten
Artikel der Telepolis.
Wie gut, dass Deutschland sich von
einer Wehr- zu einer Friedensmacht gewandelt hat. "Ein deutscher Soldat
foltert nicht", hat Struck festgestellt. Gewiss, aber er führt
auch
keinen Krieg, sondern humanitäre Missionen.
Der "Krieg verändere den Menschen", wissen die Anthropologen des Rheinischen
Merkur. Unter entsprechenden Bedingungen "können lachende
junge Frauen zu Folterknechten werden."
Allüberall
werden die Milgram-Versuche oder das Stanford Prison Experiment
zitiert, um zu verstehen, wie schnell Normverstöße ganz
normal werden.
In der Anonymität der Foren hat man ganz andere Vergleiche parat:
Abu
Ghraib ist Auschwitz, die Amerikaner führen einen totalen Krieg,
Rumsfeld erinnert an Goebbels, "wir Deutschen" dagegen haben "aus der
Nazizeit gelernt".
Aber nicht nur die Stammtische im weltweiten
Netz halten die Missachtung von Verträgen, Menschenrechten und
Konventionen für nazistisch und amerikanisch.
In seinem Buch
"9-11" macht MIT-Professor Noam Chomsky deutlich, dass die USA selbst
der "führende Terrorstaat" seien und die Anschläge provoziert
hätten;
ihren "counter-terrorism" setzt er mit Staatsterrorismus gleich und
fügt hinzu, entsprechende Maßnahmen hätten die
US-Dienste von den Nazis
übernommen: "Amerikanische Pläne für die Eindämmung
von Aufständen
bezogen sich ausdrücklich und mit respektvollem Unterton auf das
Vorbild der Nazis: Wehrmachtsoffiziere wurden konsultiert und ihre
Handbücher herangezogen, um nach dem Krieg weltweit derartige
Pläne zu
entwickeln."
Würden Sie es tun?
Wir
lernen: Die USA führen den totalen Krieg in jener Dimension, die
Hitler
noch verwehrt blieb: global. Wenn man nun noch überall liest, dass
die
alten Nazi-Eliten nach dem Krieg postwendend zu den Stützen des
amerikanischen Griffs nach der Weltherrschaft avancierten und daher
jede Cruise Missile auf die V2 zurückgeführt werden kann,
dann muss
Antiamerikanismus doch für jeden guten Antifaschisten Ehrensache
sein.
Die zunächst
unterdrückte, kontroverse
EU-Antisemitismusstudie von Werner Bergmann und Juliane Wetzel
berichtet nicht nur über rechtsradikale Auschwitzleugner, sondern
weist
bei Globalisierungsgegnern antisemitisch gefärbten
Antiamerikanismus
nach.
Dass der Amerikaner das Recht nur als Instrument
egoistischer Interessen nutzt, beugt oder bricht, behauptet schon Hegel
kategorisch. Schon vor hundert Jahren versuchte Hugo Münsterberg
dem
deutschen Publikum klar zu machen, die Amerikaner seien nicht
wesensmäßig korrupt, habgierig und barbarisch: vergeblich.
Die
Vorurteile werden in deutschnationalen Schriften des 19. Jahrhunderts
zum Klischee des Plutokraten ausgebaut, der die menschenverachtende
Dollargier des Amerikaners mit dem jüdischen Internationalismus
verschmilzt - um nun von Attac-Aktivisten verwendet zu werden, die
Uncle Sam im "Stürmer-Stil" malen.
Hinter dem Bild des Yankee,
der skrupellos Blut für Öl vergießt, steht das
ältere Stereotyp des
Juden, der dem Schuldner Fleisch aus lebendigem Leibe schneidet.
Die
herrschenden Mächte können jeden in dieses Bündel
Fleisch verwandeln,
lautet die Kernaussage von Giorgio Agambens "Homo Sacer". Wenn das
Konzentrationslager der "Nomos" unserer Zeit ist, werden überall
auf
dem Globus Zonen ausgegrenzt, in denen Menschen nach Belieben zu
traktieren sind.
Im exterritorialen Gefangenenlager Guantanamo
Bay, so lautete dann die Anwendung, stelle sich der Ausnahmezustand auf
Dauer. Dort, außerhalb der Kontrollmöglichkeiten der
Parlamente und
Gerichte, habe "die Macht nur das reine Leben ohne jede Vermittlung" -
moralische, juristische, politische - vor sich.
Es könnte zu
den Bedingungen von Agambens Erfolg in Deutschland gehören, dass
er in
einem Satz vom Nationalsozialismus zur USA gelangt. Agamben vergleicht
Großversuche mit "ahnungslosen amerikanischen Bürgern" zur
Erforschung
der "Wirkungen nuklearer Strahlung" mit den Menschenversuchen der
KZ-Ärzte.
Der "biopolitische Nomos" hat wie früher Hegels
Weltgeist nur die Pferde gewechselt. Kunkels Skandalroman "Endstufe"
bestätigt diese These: SS-Wissenschaftler machen in der freien
Wirtschaft der USA Karriere, wo man den Probanden ein paar Dollars
bezahlt, bevor man zum tödlichen Test schreitet.
Ist das Schema
typisch für Alt-Europa? Ein guter japanischer Freund habe ihm, so
Paul
Virilio in "Information und Apokalypse", anvertraut, er "verzeihe es
den Amerikanern nicht, dass Hiroshima kein Kriegsakt, sondern ein
Experiment war."
Virilio generalisiert die Unterstellung
seines Freundes zu der These, dieses "biologische Experiment" habe nun
eine globale Dimension und totalen Charakter erreicht. Wenn heute
hinter irgendwelchen Stacheldrahtverhauen der Sonderzonen menschliche
"Materie" ausgebeutet wird wie sonst nur Rohstoffe in Minen, dann werde
doch nur fortgeführt, was in den "Versuchsfeldern Hiroshima und
Auschwitz" begonnen habe.
Diesmal sind es die anderen gewesen
Folter,
Missachtung der Genfer Konventionen, Kriegsverbrechen, Brutalisierung
der Truppe, Willkürherrschaft des Okkupationsregimes. Und diesmal
sind
es die anderen gewesen.
Die Kritik an der US-Politik mag
legitim sein, doch ist sie wohlfeil, solange auf Bundesgebiet
Selbstmordattentäter nur untertauchen, nicht aber zuschlagen.
Jacques
Derrida (der die USA wie das Dritte Reich für rogue states
hält) hat
auf das Problem hingewiesen, wie schwer es Demokratien damit haben,
ihre Verfassung mit verfassungsgemäßen Mitteln zu
verteidigen. Was
Diktaturen leicht fällt, Demokratien aber zerrütten kann, ist
der
Einsatz aller Maßnahmen gegen ihre Feinde.
Auch die USA
zerstören womöglich, was sie zu schützen suchen, wenn
sie Operationen
durchführen, die Derrida von "Staatsterrorismus" nicht zu
unterscheiden
vermag. Allerdings begreift Derrida dieses Verhalten nicht als
amerikanische Barbarei, sondern als Problem der Demokratien
schlechthin.
Gesetzt, ein Terrorattentat mit einer Atombombe
wäre durch Folter zu verhindern: "Würden Sie es tun?".
Antworten auf
diese Frage Niklas Luhmanns sind bislang nicht erörtert worden.
Man
kann nur hoffen, dass die Normen der deutschen Demokratie nie dem
Belastungstest des Ernstfalls ausgesetzt werden.
(SZ vom 18.05.2004)
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