Über
die geschichtsverneinende und die geschichtsbejahende Gesellschaften in ”Brave
New World”. Endzeitstimmung und Theorien über Gedächtniskultur und Geschichte
der Zeitgenossen von Aldous Huxley.
von Monika Chmielecki
In der Anti-Utopie ”Brave New World” werden
von Huxley zwei Gesellschaften gegenübergestellt: auf der einen Seite die
fortschrittsorientierte, geschichtsverneinende Gesellschaft, die die gesamte
Welt bevölkert, auf der anderen Seite die ”primitive”, geschichtsbejahende
Kultur, die in Reservaten lebt. Im jungen John prallen diese beiden Kulturen
aufeinander, und am Ende zerbricht er daran.
Aber es ist kein Zufall und keine Einzelerscheinung,
dass sich Huxley gerade in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, einer
Zeit voller Unsicherheiten und Unordnung, Gedanken über eine solche Welt
gemacht hat; vor allem darüber, welche Wirkung Erinnerung, Geschichte und
Tradition auf die Beständigkeit eines Staates bzw. einer Gemeinschaft haben.
Er selbst sagt in seinem Vorwort zur Ausgabe von 1949:
”At the time the
book was written this idea, that human beings are given free will in order
to choose between insanity on the one hand and lunacy on the other, was one
that I found amusing and regarded as quite possibly true.”[1]
Aldous Huxley
lässt seinen Roman in einer Zeit spielen, deren Gesellschaft infolge eines
epochalen Krieges kurz nach dem Millennium ihre Kultur vollkommen änderte.
Dies erinnert an die Endzeitstimmung, in der sich Huxley und seine Zeitgenossen
befanden, resultierend aus dem Weltschmerz der Romantik, dem fin
de siècle und den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Grosse Bedeutung
erlangte in dieser Zeit ein Werk des Deutschen Oswald Spengler (1880-1936):
”Untergang des Abendlandes”[2].
Seine kulturzyklische Deutung der Geschichte entsprach dem Bedürfnis, einerseits
Deutschlands Niederlage als Symptom einer gesamt-europäischen Dekadenz zu
begreifen, was sehr wichtig zum Begreifen der Kriegsschuldfrage war, andererseits
die diffusen Vorarbeiten zur Kulturzyklik (oder Kulturkreislehre) in ein
geschlossenes System zu verarbeiten, dank dessen es möglich war, den wesentlichen
Ereignissen der Weltgeschichte nach dem Weltkrieg ihren systematischen Ort
zuzuweisen. In einer Zeit voll politischer, sozialer und finanzieller Krisen
bestand wohl ein großes Bedürfnis danach zu wissen, was noch auf die Menschheit
zukommen sollte.
In der Kulturzyklik gehorcht die Geschichte
der Hochkulturen dem Rhythmus von Werden und Vergehen, und im Untergang einer
Kultur wächst die Nächste; als Analogie wird u.a. das Wachsen, Blühen und
Verwelken einer Pflanze genommen oder jegliche Ontogenese organischen Lebens.
Die Organe dieser Lebensform sind Lebensbereiche wie Politik,
Wirtschaft und Kultur. Die Blütezeit einer Hochkultur benannte Spengler alexandrinisches
Zeitalter, welches gekennzeichnet ist durch kosmopolitisches Großstadtleben
mit vornehmlich zivilisatorisch-technischen Interessen, d.h. Wissenschaft
vor Kunst, Rationalismus vor Tradition. (Es wäre zu langweilig, an dieser
Stelle auf ”Brave New World” zu verweisen.) Dieses Zeitalter fand Spengler
im 19. Jahrhundert wieder erreicht. Das Vergehen einer Kultur ist gekennzeichnet
mit der abgeschlossenen organischen Entwicklung einer Kultur, es folgen Krisen
in den einzelnen Organen, wie Kämpfe um die Vorherrschaft (s. Politik).
Das Einmalige bei Spengler
ist seine periodische Gliederung der Weltgeschichte. Demnach
gibt es einen Tausendjahres-Rhythmus für die Entwicklung einer Kultur. Beispielhafte
Scheitelpunkte: Oktavians (Augustus‘) Sieg über Marc Anton bei Actium (31v.Chr.),
der praktische Fatalismus des Islam (seit 1000 n.Chr.). Diese Denkweise der
Zeitenwende pünktlich zum jeweiligen Millennium ist unserer heutigen Gesellschaft
nicht fremd: Man erinnere sich nur an die Weltuntergangserwartungen zu Silvester
2000 selbst in den zivilisatorisch-fortschrittlichen, westlichen Ländern.
Auch in ”Brave New World” setzt Huxley den Beginn des neuen Zeitalters in
die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts, in dem sich eine neue Hochkultur entwickelt.
Auch fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Buches und erst kurz nach
den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und dem Abwurf der Atombomben auf
Hiroshima und Nagasaki schien Huxley das nahende Ende unserer westlichen
Kultur zu erwarten:
”But meanwhile
we are in the first phase of what is perhaps the penultimate revolution.
Its next phase may be atomic warfare, in which case we do not have to bother
with prophecies about the future.”[3]
Ein weiterer Zeitgenosse Huxleys bestätigte
durch seine Theorien nicht die säkulare Apokalypse, die der Rest Europas
zu erwarten schien, sondern beschäftigte sich mit dem ”Gedächtnis und seinen
sozialen Bedingungen”[4].
Maurice Halbwachs, ein 1877 geborener und 1945
im KZ gestorbener französischer Jude und Soziologe, prägte den Begriff des
kollektiven Gedächtnisses, der bis heute Wissenschaftler
verschiedenster Bereiche beschäftigt (u.a. Jan und Aleida Assmann, auf die
ich später zurückkommen werde). In seinem gleichnamigen Werk[5]
definiert Halbwachs den Unterschied zwischen kollektivem Gedächtnis und Geschichte
und die Position des Individuums innerhalb seiner Gesellschaft. Was das Werk
von Huxley betrifft, finden wir Erklärungen dafür, warum diese beiden Gesellschaften
so existieren können, wie sie existieren. Doch zunächst ist es wohl ratsam
den Begriff des kollektiven Gedächtnisses bei Halbwachs zu
erörtern.
Demzufolge habe ein Individuum an zwei Gedächtnissen
Teil: dem Individuellen, welches sich dem Rahmen seiner Persönlichkeit oder
eines persönlichen Lebens einfüge, und dem Kollektiven, was es dem Individuum
ermögliche, unpersönliche Erinnerungen wachzurufen in dem Maße, als diese
die Gruppe interessierten.[6]
”Das kollektive Gedächtnis andererseits umfasst die
individuellen Gedächtnisse, aber verschmilzt nicht mit ihnen. Es entwickelt
sich seinen Gesetzen gemäß, und dringen auch zuweilen bestimmte individuelle
Erinnerungen in es ein, so verändern sie sich, sobald sie in eine Gesamtheit
eingefügt werden, die nicht mehr ein persönliches Bewusstsein hat.”[7]
Dieses Prinzip
funktioniert für beide Gesellschaften in ”Brave New World”. So finden wir
in der modernen Welt Individuen, die zum Wohle der Gemeinschaft ihre Individualität
zurückstecken, jedoch sich aufgrund individueller Erfahrungen unausweichlich
zu Persönlichkeiten entwickeln. Als allerbestes Beispiel ist hier der Antiheld
Bernard Marx zu nennen, der sich aufgrund seiner äußerlichen Makel und seiner
daraus resultierenden Außenseiterposition zu einem Pessimisten und Freidenker
entwickelt. Diese Beobachtung gilt allerdings nur für die beiden oberen Kasten
der Alphas und Betas, da dem Leser keine Person aus den unteren Kasten vorgestellt
wird. Man kann nur erahnen, dass ein Delta bei geregelter Arbeit und - vor
allem - Soma zwar individuelle Erfahrungen macht, aber wegen seines niederen
Intellekts nie zum Denken oder zum Sich-Weiterentwickeln angeregt ist. Aber
auch in der primitiven Gesellschaft finden wir einen jungen Mann, der zum
Wohle der Gemeinschaft bereit ist, in einem traditionellen Ritual sein Leben
zu opfern.[8]
Auch hier finden wir Individuen, die durch ihre Erziehung - in der neuen
Welt heißt sie Normierung - gelernt haben, ihr persönliches
Glück zurückzustecken.
Der Unterschied der Lebensweisen der beiden
Gesellschaften findet sich erst in den Ursachen dieser Wirkung: die primitive
Gesellschaft lebt nach Jahrhunderte lang überlieferter Tradition - Bernard
schätzt diese Tradition sogar auf fünf bis sechstausend Jahre. Sie ist unserer
heutigen Gesellschaft nicht ganz so fremd, wie es den Mitgliedern der ”schönen,
neuen Welt” erscheint. Es ist eine Kultur, die in ihrer Geschichte, der Weitergabe
ihres Wissens von Generation zu Generation und der Ehrung, die sie ihren
Alten und Toten zukommen lässt, aufgeht. Zieht man
Halbwachs hinzu, erfährt man das Erfolgsrezept, die es dieser
Gemeinschaft ermöglicht, ihre Kultur im Wandel der Zeiten zu bewahren. Er
berichtet nämlich von einem Dorf in Algerien, weit abgeschieden vom Rest
der Welt, dessen Einwohner noch so lebten wie vor über hundert Jahren.[9]
Die Gültigkeit für das Prinzip der Abgeschiedenheit und der daraus resultierenden
Kontinuität finden wir heute noch in Lebensgemeinschaften wie den Amish People
in Amerika.
In der neuen Gesellschaft kann dieses Prinzip
nicht gelten, zu mal es einst einen großen Bruch in der Kontinuität gab,
den Neunjährigen Krieg. Die damalige Menschheit war dermaßen
erschüttert, dass sie einen völligen Neuanfang wagte. Sie wählte die fortlaufende
Entwicklung des kollektiven Gedächtnisses und verleugnete die Geschichte,
die retrospektiv Trennungslinien zwischen Ereignisse zu setzen vermag. Der
folgende Abschnitt aus Halbwachs’ Werk könnte die Mentalität der modernen
Gesellschaft aus ”Brave New World” nicht besser beschreiben:
”Nach diesen Krisen sagt man sich dann von neuem:
es muss an diesem Punkt wiederangefangen werden, an dem man unterbrochen
worden ist; hier muss man die Dinge von Grund auf neu beginnen. Und tatsächlich
meint man einige Zeit lang, es habe sich nichts geändert, da man den Faden
der Kontinuität wieder zusammengeknüpft hat. Diese Illusion [...] hat dann
zumindest erlaubt, dass man von einem Zeitabschnitt in den anderen überwechselt,
ohne dass das kollektive Gedächtnis zu irgendeinem Zeitpunkt unterbrochen
schien.”[10]
Laut dem Ägyptologen Jan Assmann (geb. 1938)
steht innerhalb einer Kultur als übergeordneter Sinnrahmen über den verschiedenen
Feldern kultureller Praxis die ”Unsichtbare Religion”[11]
und läßt sich in Abstrakta wie Ma’at (Ägypten), kosmos (Griechenland), dharma (Indien) oder
tao (China) in verschiedenen Kulturen wiederfinden. Diese
Idee ist überinstitutionell, d.h. über der kultischen Ausübung von Religion
etc., und bezeichnet das Prinzip der universalen Harmonie.[12]
Darstellungen zu diesem Aspekt finden wir auch in beiden sozialen Gefügen
in ”Brave New World”, denn beide versuchen eine gewisse Ordnung zu erhalten,
wobei sie sich des Instrumentariums des Ritus bedienen. Demzufolge hat die
technologisierte Gesellschaft selbst nach dem Krieg keine völlig neue Gesellschaft
mit völlig neuen Traditionen entwickelt, sondern hat altherkömmliche Bräuche
wie spirituelle Rituale nur durch Andere, des neuen Lebensgefühls Angepasstere
ersetzt.
Aber mit Assmann fallen wir aus dem Rahmen dieser
Untersuchung, die einen kleinen Blick auf das Geschichtsverständnis zur Zeit
der Entstehung dieses Romans werfen sollte. Dabei wird gerade mit ihm und
seiner Frau Aleida Assmann die Klärung, in welchen Gesichtspunkten welche
Gesellschaft tatsächlich ein Geschichtsbewusstsein und in welchem Ausmaße
besitzt - verwiesen soll hier nur auf die ”heißen” und die ”kalten” Optionen
einer Kultur und die Legitimation von Herrschaft werden -, erst richtig spannend.
An diesem Punkt allerdings scheinen sich diese beiden gesellschaftlichen
Systeme nicht wesentlich zu unterscheiden, denn beide versuchen durch Kontinuität
ihre jeweilige Kultur durch den Wandel der Zeit zu erhalten, wobei das kulturelle
Gedächtnis der Primitiven, das bis in die mythische Urgeschichte[13]
zurückgeht, größer ist. Beide konditionieren ihre Nachfahren mit den kollektiven
Erinnerungen, die ihrer jeweiligen Gruppe am Nützlichsten sind.
Huxley porträtiert in seinem Roman keine Gesellschaft,
die er empfehlen würde, was er später wegen Mangels philosophischer Vollkommenheit
bedauert[14],
sondern die Eine repräsentiert alte Werte, die zu seiner Zeit zum Untergang
verurteilt waren, die Andere überzogene, neue Moralvorstellungen, die die
Ausweglosigkeit der Menschheit aus der Zyklik der Kulturen beschreibt. Und
um mit den unsterblichen und viel zitierten Worten Shakespeares zu enden,
die Ausgangspunkt zu ”Brave New World” zu sein scheinen:
”Forget, forgive, conclude and be agreed!”[15]
Literatur:
_
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume.
Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
_
Assmann, Jan: Das kulturelle
Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,
München, 2. Aufl.; 2000.
_
Assmann, Jan: Religion und
kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000.
_
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis
und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985; frz. Les
cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925.
_
Halbwachs, Maurice: Das kollektive
Gedächtnis, Stuttgart 1967; frz. La mémoire collektive, Paris
1950.
_
Huxley, Aldous: Brave New World,
Stuttgart (Reclam) 1992.
_
Spengler, Oswald: Untergang
des Abendlandes, Bd.1: 1917/23, Bd.2: 1922.
[1] Huxley, A.: Brave New World, Stuttgart (Reclam) 1992, S. 6.
[2] Spengler, O.: Untergang des Abendlandes, Bd.1: 1917/23, Bd.2: 1922.
[3] Huxley, S. 12.
[4] Halbwachs, M.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985.
[5] Halbwachs, M.: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967.
[6] Vgl. ebd., S. 34.
[7] Ebd., S. 35.
[8] Siehe Huxley, S. 146 f.
[9] Siehe Halbwachs (1967), S. 52.
[10] Ebd., S. 70.
[11] Vgl. Assmann, J.: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, S. 46.
[12] aus ebd., S. 46f.
[13] Assmann , Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München _ 2000, S. 56.
[14] Vgl. Huxley, S. 9.
[15] Shakespeare, Richard II, I, 1, 156.