Frankfurter Allgemeine Zeitung,
25.11.1998, Nr. 274, S. N5
Wir greifen ins Leere Liebe ist nur ein Wort: Vom Welken des Herzblatts
in raumloser Soziologie
In den Sozialwissenschaften herrscht eine besondere Form der
Klaustrophobie. Obwohl der Raum als eine grundlegende Kategorie
für die Deutung des sozialen Handelns gilt, fehlt es an Einigkeit
darüber, wie ein soziologischer Begriff von Raum zu definieren
sei. Unerschrocken scheint man hier dem Horror vacui ins Auge zu sehen.
Tatsächlich ist die Frage, wie der Zusammenhang zwischen
räumlicher und sozialer Organisation zu verstehen sei, von
Sozialwissenschaftlern eher selten bedacht worden. Pierre Bourdieu ist
einer der wenigen, der den sozialen Raum als "Raum von Beziehungen"
reflektiert, als ein Feld, auf dem sich für Beobachter und
Handelnde Gesellschaft konstituiert. Mit seiner Abhandlung "Sozialer
Raum und ,Klassen'" knüpfte Bourdieu an den ersten soziologischen
Raumtheoretiker Georg Simmel an.
Entfesselte Phantasie
Simmel betrachtete die Wechselwirkung zwischen Individuen "auch als
Raumerfüllung", wobei er freilich stets vor einer
soziologistischen Überschätzung des Raumes gewarnt hatte. So
sehr Simmel nämlich den Raum als notwendige Bedingung des Handelns
in den Blick nahm, so sehr stellte er dessen Relativität für
die als Handlungsmacht vorrangigen "seelischen Inhalte" heraus: "Nicht
der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und
Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung", schreibt
er im neunten, den "räumlichen Ordnungen der Gesellschaft"
gewidmeten Kapitel seiner "Soziologie", das sich streckenweise wie eine
vorweggenommene Widerlegung späterer einseitig gefaßter
Milieutheorien liest. Für Simmel ist der Raum "überhaupt nur
eine Tätigkeit der Seele", die soziologisch wiederum als
Raumgestalterin faßbar wird.
Anders als Bourdieu und Simmel gehört Niklas Luhmann zum Lager der
raumlosen Soziologen. Als solcher ist er unlängst von Niels Werber
beschrieben worden ("Raum und Technik. Zur medientheoretischen
Problematik in Luhmanns Theorie der Gesellschaft", in: Soziale Systeme,
Jg. 4, Heft 1, Leske und Budrich, Leverkusen 1998). Obschon Luhmann die
Rolle des Raums bei der Unterscheidung von Interaktion und
Kommunikation berücksichtige, werde der Raum von ihm nicht als
Sinndimension konzipiert, sondern in Zeit umgerechnet. Daß der
Raum bei Luhmann keinen eigenen Ort hat, betrachtet Werber als einen Grund für die "blinden
Flecken" der Systemtheorie, zu denen das Desinteresse am "konkreten
Menschen" gehört. Nina Ort bemerkt dazu im selben Heft, daß
in der System-Umwelt-Perspektive der Mensch außerhalb seiner
funktionalen Bestimmungen "gewissermaßen leer" bleibe:
"Außerhalb dieses ,Verschiebebahnhofes' von
Rollenidentifikationen, die sämtlich als Kommunikation in
einzelnen Funktionsbereichen des Gesellschaftssystems reformuliert
werden können, bleibt der Mensch ein blinder Fleck."
Ein Befund, der sich insbesondere bei der Behandlung der
Geschlechterbeziehung illustrieren läßt. Tatsächlich
scheint die soziologische Sicht der Liebe erheblich davon abhängig
zu sein, welche Stelle dem Raum eingeräumt wird. Für Simmels
Analyse der Gemütsbeziehungen nimmt der Raum geradezu eine
Schlüsselkategorie ein. Indem er die Liebe verräumlicht,
bringt er sie soziologisch zur Entfaltung und gewinnt dem paradoxen
Verhältnis von Nähe und Distanz vielfältige Aspekte ab.
Streckenweise liest sich Simmel wie ein professioneller Eheberater:
"Eine räumliche Trennung mag eine Zeitlang die gegenseitige
Empfindung auf ihre höchst erreichbare Intensität bringen,
von einem gewissen Augenblick an aber die Gemütskräfte
sozusagen konsumiert haben und zu Erkaltung und Gleichgültigkeit
führen." Von Einfühlungsvermögen ins Raumgefühl des
"konkreten Menschen" zeugen auch Beobachtungen wie diese: "Bei manchen
Naturen entfesselt die in der Distanz wirksame Phantasie eine
hemmungslose Übertriebenheit der Gefühle, der gegenüber
die Erregungsfolgen der sinnlichen Nähe, so groß sie sein
mögen, doch zugleich als irgendwie begrenzt und endlich
erscheinen." Auch eine spezielle Form von Beziehungsstreß
interpretiert Simmel über den Raum: "Wir greifen ins Leere hinein,
weil die Plötzlichkeit der körperlichen oder dauernden
Nähe uns über die Langsamkeit, mit der die seelische ihr
nachwächst, weggetäuscht hat. So entstehen
Rückschläge und Abkühlungen, die nicht nur dieses
illusionäre Zuviel zurücknehmen, sondern auch die vorher
schon gewonnenen Werte der Liebe oder Freundschaft oder
Interessengemeinschaft oder geistigen Verständigung mit sich
reißen."
Pathologie der Ehe
Gerade weil Simmel die räumlichen Bedingtheiten der Liebe von der
Liebe als "seelischem Inhalt" unterscheidet, bleibt die Liebe für
ihn nicht leer: Sie wird von der Kontingenz ihrer Entstehung nicht in
Frage gestellt. Bei Luhmann dagegen geht die Liebe mangels Raum ganz in
der Kommunikation auf: Liebe ist nur ein Wort. So erklärt sich die
Fülle der zwischen Ironie und Sarkasmus schillernden Bemerkungen
zu diesem Thema in seiner Summe "Die Gesellschaft der Gesellschaft".
Eine durch Liebeserklärungen bekräftigte
Geschlechterbeziehung ist für Luhmann wenig mehr als eine
flüchtige Passion, die im wesentlichen von der Unaufrichtigkeit
zehrt: "Da die Aufrichtigkeit/Unaufrichtigkeit solcher Erklärungen
ohnehin inkommunikabel ist, kann sich ein Modus vivendi einspielen -
allerdings angewiesen darauf, daß der Konsens nicht allzu
penetrant getestet wird."
Ohnehin ist die "Intensivierung von Sozialität in der Form von
Zweierbeziehungen" in Luhmanns Augen "ein Fall von Regression". Die als
Karikatur gezeichnete Ehe gilt ihm als ein im Grunde pathologisches
Institut: "Die Unwahrscheinlichkeit der Liebe - daß jede Geste,
körperlich wie verbal, zur Beobachtung, ja sogar zur Beobachtung
der Beobachtung von Liebe zu dienen hat - wird in der Ehe zur
Pathologie." Wo der Raum keine Beachtung erfährt und in der
Fläche zerfließt, scheinen auch die Inhalte der Seele zu
verflachen und noch das blühendste Herzblatt seiner
gesellschaftlichen Bedeutung beraubt.