Niels Werber

Intensitäten des Politischen

"Tausend Plateaus" • "Kontrolliert"

Wer die Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Felix Guattari und den Roman Kontrolliert von Rainald Goetz gleichzeitig liest, mag fast an eine Parallelaktion glauben, so sehr scheinen sich beide Bücher wechselseitig zu illuminieren, und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Tausend Plateaus so viele literarische Qualitäten aufweisen und Kontrolliert ein so theoretisch motivierter Text ist. Da erzählen etwa Deleuze und Guattari vom mobilen Silberschmuck der Nomaden an Zaumzeug und Waffen – und Goetz von den silbernen Totenkopfringen an den Fingern ledergekleideter Motorradfahrer; in den Tausend Plateaus lesen wir vom Meer, von Moby Dick und seinem Jäger – und das gleiche bei Goetz; in den Tausend Plateaus lernen wir die Taktiken der nomadischen Kriegsmaschine kennen, ihre Mobilität, ihre Intensität, die Plötzlichkeit ihres Auftauchens und Verschwindens – und in Kontrolliert wird der Partisanenkrieg der RAF im Jahre 1977 geschildert als irregulär, tellurisch, intensiv und hochmobil; da lesen wir in den Tausend Plateaus von den Hierarchien, Bürokratien, Disziplinierungen und Kontrollregimes des Staatsapparates – und in Kontrolliert vom bürokratischen Sonnenstaat der Bundesrepublik Deutschland, von seinen Notstandsgesetzen, seinen Geheimdiensten und seinen Versuchen, 1977 um jeden Preis die Kontrolle zu behalten. Die Tausend Plateaus stellen dem Konflikt zwischen Staatsapparat und nomadischer Kriegsmaschine den Unterschied zwischen Architektur und Drogen, zwischen beamteten Staatsdenkern und Privatgelehrten an die Seite – und im Roman leben Klar und Raspe wie Nomaden in Zelten auf Bodenhöhe, handeln Terroristen im Drogenrausch, wird der Staat mit Hegel als Hierarchie beschreiben – wogegen die terroristischen Partisanen sich in Zellen organisieren, die in einem Netzwerk operieren, dessen Prinzip nicht die vertikale Hierarchie, sondern eine laterale Konnektivität ist, kein befehlendes und gehorchendes Übereinander, sondern ein rhizomatisches Nebeneinander.

Diese Überschneidungen im Bildbereich der Texte könnten zufällig sein, gäbe es nicht auch eine Übereinstimmung in der jeweiligen operativen Verkettung der Bilder und Begriffe miteinander. Der Gegensatz des Staatsapparates und des Nomadischen etwa, der sich durch die Tausend Plateaus hindurchzieht, wird nicht nur von Deleuze und Guattari mit weiteren Unterscheidungen angereichert, etwa denen von gewebtem Stoff und Filz, von Stadt und Steppe, von Transzendenz und Immanenz, von Kontrolle und Intensität, von Geschlossenheit und Offenheit, sondern auch von Rainald Goetz. Es kann kein Zufall sein, wenn die silbergeschmückten Reiterstämme der Nomaden in den Tausend Plateaus dem Staat den Krieg erklären und in Kontrolliert die Terroristen der RAF nicht nur in ähnlichem Ornat gezeigt werden, sondern auch mit nomadischen Qualitäten versehen sind. Nicht nur Goetz, sondern auch Deleuze und Guattari lassen den Staatsapparat von den Partisanen bekriegen, nicht nur Goetz, sondern auch Deleuze und Guattari verbinden mit dem Staat die ödipale Familie und beschreiben Sozialisation als Laufbahn von einem disziplinären Milieu zum nächsten (U 254), Milieus wie Familie, Schule, Universität, Fabrik, Büro oder Krankenhaus. Diese auffälligen Korrespondenzen mögen hinreichen, um eine Parallellektüre beider Texte zu rechtfertigen. Auf dem Wege dahin möchte ich zunächst jene Leitunterscheidungen der Tausend Plateaus kurz vorstellen, die für eine Lektüre von Kontrolliert wichtig sein werden:

Da wären vor allem Staatsapparat versus Kriegsmaschine, gekerbter versus glatter Raum, Königswissenschaft versus Nomadologie, Territorialisierung versus Deterritorialisierung. Alle diese suggestiven wie unerhörten Begriffe und Neologismen hängen miteinander zusammen und entfalten erst gemeinsam ihr analytisches Potential. Fangen wir bei der Andeutung dieser Zusammenhänge mit dem Staatsapparat an: Die Hauptaufgabe des Staatsapparates ist die Kerbung des Raumes, die Kontrolle der Migration und die Vernichtung der Nomaden (TP 531f). Offenbar wird der Staat hier gleichsam geopolitisch aufgefaßt, als eine Einrichtung, die sich im Raum nach außen scharf abgrenzt, innen dagegen aufteilt und feiner differenziert. Die Stadt und ihr Ackerbau, von dem sie sich nährt, ziehen Demarkationslinien durch den Raum, sie errichten nach außen Grenzregimes, etwa an den Stadttoren, um zu kontrollieren, wer hinein und heraus kommt, und differenzieren sich intern in Segmente, etwa räumlich in Stadtviertel oder sozial in Schichten. Außerhalb der Stadt und außerhalb ihrer Felder breitet sich dagegen der glatte Raum aus, etwa das Meer, die Wüste oder die Steppe. Hier ziehen die Nomaden umher, ohne sich den Raum anzueignen, sondern um sich in ihm zu verteilen und ihre Tiere weiden zu lassen, um dann fortzuziehen, um plötzlich an einem anderen Ort aufzutauchen, etwa an einer Oase, um dann wiederum zu verschwinden und weiterzuziehen. Was sie besitzen, nehmen die Nomaden mit sich mit. Sie sind keine Migranten, die vertrieben und nun auf der Suche nach einem festen Wohnort wären, sondern verkörpern eine fundamental andere Art des Umgangs mit dem Raum. Mobil folgen sie den Strömen des glatten Raums: zur nächsten Oase, zum nächsten Weideland, zu den nächsten Fanggründen, zur nächsten Beute. – Dem Staatsapparat geht es dagegen um die Kontrolle aller Strömungen, handele es sich um Waren, um Geld oder um Personen. In der Polis kontrolliert die Polizei den Verkehr in jeder Hinsicht, genau dadurch zeichnen sich Stadt und Staatsapparat aus (TP 532). Man könnte den Potsdamer Platz und seine Hausordnung als Beispiel für die Kerbung des Raums nehmen und dort vorführen, wie jedes Regiment der Verkehrskontrolle sogleich mit den Strömungen zu tun bekommt, die es kanalisieren und umlenken will, handele es sich nun um Obdachlose, Punker oder Gewerkschaften, welche sich der Kerbung ungeachtet im Raum verteilen wollen. Erst die Kerbung des Raums macht diese Ströme sichtbar.

Stadt und Nomaden leben also nicht friedlich nebeneinander her, sondern im Krieg. Die Nomaden stoßen auf Zäune und Gräben, Kanäle und Bewässerungsleitungen, Mauern und Straßen, mit den die Polis ihren Raum gekerbt hat – um sie zu ignorieren oder zu zerstören. Deleuze und Guattari gehen von ethnologischen und historischen Befunden aus, wenn sie behaupten, daß typischerweise den Nomaden eine Kriegsmaschine eignet, deren Tempo und Dynamik sie teilen. Die Kriegsmaschine erfindet so mobile Blöcke wie den von Roß, Reiter, Steigbügel und Lanze, was eine gänzlich andere Verkettung ist als die von Pferd, Joch und Pflug. Stößt die Kriegsmaschine auf die Stadt, dann will sie jene weder besetzen noch besitzen, vielmehr taucht sie dort plötzlich auf und behandelt quasi das geordnete, codierte, gekerbte Territorium des Staates wie einen glatten Raum, den man so frei durchqueren kann, wie man das Meer besegelt. – Die nomadische Kriegsmaschine will also keinesfalls per se den Krieg, die ihr eigene Dynamik und Innovationskraft kann sich etwa auch in ästhetischen oder ökonomischen Fluchtlinien verwirklichen (U 53). So entziehen sich etwa multinationale Konzerne der Souveränität des Staates (TP 494), während dieser versucht, die ökonomische Maschine zu verinnerlichen, um sie zu kontrollieren und zu steuern. – Der vom Nomadischen permanent bedrohte Staat versucht also, sich die Kriegsmaschine anzueignen: der Staat diszipliniert den Krieg und die Krieger und formt seine Armee, die den Hierarchien und Planungen, Kontrollen und Codierungen des Staates unterworfen wird (TP 492). Die nomadische Kriegsmaschine wird zur planmäßig einsetzbaren Kavallerie territorialisiert, bezahlt wird mit Grundstücken, wie etwa im antiken Rom, oder mit Rittergütern, wie etwa im Dritten Reich – erst jetzt, nach der Aneignung durch den Staat, dient die Kriegsmaschine auschließlich dem Krieg. Sie wird nun integriert und einem strengen Regiment unterworfen, um ihre immer mögliche Deterritorialisierung zu verhindern, denn darin besteht die Gefahr dieser Aneignung (TP 492). Die Kriegsmaschine könnte sich ihrer Einhegung entziehen und sich ihrerseits den Staat unterwerfen – so wie etwa Friedrich Kittler vermutet, daß die "kriegerische Bande globaler Konzerne" dabei sei, eine unfreundliche Übernahme der Nationalstaaten zu betreiben. Heute ist es der Cyberspace, der als "fünfte Dimension" den globalen Raum wieder in einen glatten Raum zurückverwandelt, und es ist der Computerhacker, der den Planungsstäben des Pentagon Sorge bereitet, die USA zu deterritorialisieren, da er via Internet jederzeit und überall – auch im Innersten des Landes – zu attackieren vermag. Die Reaktion des Pentagon darauf ist typisch: man installiert hinter jeder gefährdeten Firewall einen weiteren Kontrolleur, der Cyberspace wird gekerbt, segmentiert, hierachisiert, überwacht und kontrolliert nach der Devise command, control, communication, intelligence (vgl. U 251f). Es gibt aber eine zweite Reaktion: die NSA übernimmt die Hacker und läßt sie unter ihrer Kontrolle Attacken simulieren, um echte Angriffe auf die Datennetze durch Prävention zu verhindern. Der Staatsapparat eignet sich das an, was er bekämpft. So hat er längst "Anti-Guerilla-Einheiten" in seine Dienste gestellt, die jeden "beliebigen Feind" bekämpfen können sollen, jeden beliebigen Feind, der aber in den Planungen sehr spezifisch als Partisan oder Saboteur mit allen Eigenschaften des Nomaden gezeichnet wird (TP 583). So entsteht ein neuer Typus, in dem Nomaden und Staatsapparat, "Kriegskünste und Spitzentechnologie", "CIA und IBM" zusammenfallen: "der Söldner oder der Militärberater, der Technokrat oder reisende Analytiker" (TP 557).

  1. Goetz – mit Schmitt

  2.  

     

    Rainald Goetz‘ Roman Kontrolliert erzählt nach der Selbstauskunft des Textes die "Geschichte des Jahres 1977". Es ist das "Terror-Jahr" der Bundesrepublik, das Jahr, dem man zutrauen konnte, es mache im Zeitalter des Posthistoire noch einmal wirklich Epoche. Dieses Jahr sieht die Unterzeichnung der europäischen Anti-Terror-Konvention, die Ermordnung des Gerneralbundesanwalts Buback am 7. April, die Häftlinge von Stammheim im Hungerstreik, die Ermordung von Jürgen Ponto am 30. Juli, die Entführung von Hanns Martin Schleyer am 5. September, die Kontaktsperreverordnung am 6. September, die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" am 13. Oktober, die Forderung von Golo Mann und anderen, die inhaftierten Terroristen, die durch die Entführung freigepreßt werden sollen, gleichfalls in Geiseln zu verwandeln oder im Stundentakt zu exekutieren, den Sturmangriff der GSG 9 auf die "Landshut" und die Befreiung der Geiseln und die Leichen von Baader, Ensslin und Raspe am 18., den hingerichteten Schleyer am 19. Oktober. Dann ist der Deutsche Herbst vorbei. Soweit die Ereignisse, die Frage ist, wie man aus ihnen eine Geschichte machen kann. Benno Wagner hat dazu in einem Aufsatz über die damaligen Versuche, die Ereignisse plausibel zu machen, zwei Alternativen ausgemacht: die eine entlehnt ihre Konstruktion Carl Schmitts von der Ausnahme, der Dezision und der Freund-Feind-Unterscheidung her gedachten Theorie des Politischen, die zweite bezieht sich auf flexible, lernfähige, gleichsam "weiche" Verfahren der Normalisierung, wie etwa der Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff, Michel Foucault, aber auch Deleuze und Guattari (TP 291) sie beschrieben haben und deren gravierendster Unterschied zu Schmitt ihre Überzeugung ist, daß man vom "Ende des Staates" auszugehen habe. Die Schmitt-Fraktion sieht sich und den Staat 1977 im Krieg und will wie Dregger Terroristen vorbeugend erschießen, wie Geißler die Armee einsetzen, sie will die RAF lynchen lassen, wie Strauß vorschlägt (SZ 7. 10. 77), oder wie "FAZ" (18. 10. 77) und "Welt" (1. 4. 77) ein "Notrecht" gegen Terroristen einführen, welches zu außerordentlichen Maßnahmen berechtigt. In jedem Fall handelt es sich hier um Gesten der "klassischen" Souveränität, die einen entscheidenden und handelnden Staat vorführen. Die zweite Fraktion, für die Benno Wagner vor allem den BKA-Chef Horst Herold anführt, sieht sich keineswegs im Krieg und will entsprechend der Lage auch nicht durch außerordentliche Maßnahmen begegnen, wie sie im Ausnahmefall üblich sind, sondern - im Gegenteil - normalisierend, durch Überwachung, durch Prävention, durch Lernen, durch Anpassung. Ihr dienten "Ausnahmen lediglich als Rückkopplungsanlässe zur Optimierung der laufenden Normalisierungsanläße." Ich möchte nachzuweisen versuchen, inwiefern beide Selbstbeschreibungsmodelle, das der Ausnahme und das der Normalisierung, dazu beitragen, in Rainald Goetz‘ Roman Kontrolliert die "Geschichte des Jahres 1977" zu erzählen.

    Raspe heißt der Protagonist im Roman, der einmal Goetz als alter ego dient und aus dessen Biographie plaudert, dann aber Jan-Carl Raspe sein kann und dessen Sicht aus der Zelle auf die Ereignisse vorstellt. Kombiniert werden die Perspektiven eines Zeitgenossen, der den Deutschen Herbst 1977 in den Zeitungen, am Radio und im TV erlebt, und die Perspektive eines Terroristen in Haft, der in der Isolation mit den Bordmitteln der Theorie Informationsbruchstücke zu Lagebeschreibungen generalisiert. Raspes Unternehmen war ursprünglich mit der Differenz von "Freunden und Feinden" befaßt und sollte "insgeheim" "am Schluß der Staat heißen". (K 95) Der Roman, der den Staat derart anhand der berühmt-berüchtigten Unterscheidung von Freund und Feind angeht, erscheint 1988, also pünktlich zum 100. Geburtstag von Carl Schmitt. Raspe erzählt:

    "Ich saß also am Tisch, um mich die Materialien, Akten, Karten, Notnotizen, und das ganze ordnete sich mir und war augenblicklich klar. [...] Ursprünglich sollte hier der Staat verhandelt werden. Gut ein Jahr lang habe ich die Vorarbeiten in diese Richtung hin getrieben, vergeblich. Der Anspruch war vermessen, falsch". (S. 15)

    Wir erfahren auch, warum Raspe sein Vorhaben, den Staat abzuhandeln, als vermessen aufgibt, um sich der "Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig" zuzuwenden. Es liegt nicht am Theoretiker, sondern an seinem Objekt, dessen Dimension jeden Versuch einer Vermessung zum Scheitern verurteilt:

    "Der Staat ist ungeheuerlich, die Ungeheuerlichkeit, die ein einer, wie ich hier, nicht fassen kann. Schließlich schießt der Staat aus den Gewehren echte Menschen tot, nichttote Menschen werden staatsbefehlsgemäß in Staatskerkern gefoltert, Staatstheater spielen echte Stücke, siehe Stammheim, Stichwort Krieg, die Staatsorchester musizieren dazu musikalisch Symphonien, Bilderherrlichkeiten zeigen sie in Staatsmuseen her, das Staatsfernsehn ist wirklich die Hochschule des Glücks der Unterhaltung [...], den Staatsschulen verdanken viele vieles, ich zum Beispiel alles, Staatszeitungen, Staatsstrom, Staatsgeld, Staatslicht nachts in großen Städten, Staatsbibliotheken..." (K 15f)

    Nichts zwischen Wirtschaft und Kunst, Medien und Recht vermag dem Staat zu entgehen, und was Raspe hier von seiner Gestalt erkennt, ist das, was Carl Schmitt schon 1931 den "potentiell totalen Staat" genannt hat, ein "zum Kontrollsystem" der "Gesellschaft" gewandelter totaler Staat, der regulierend in jeden Bereich des Sozialen interveniert, so daß "Staat und Gesellschaft" zusammenfallen, bis sie schließlich "identisch" sind. Bonn ist also Weimar, wie man 1977 ja auch ständig wiederholt. Goetz‘ alter ego sieht die Lage wie Schmitt im Jahre 31: der totale Staat umfaßt schlechthin "ALLES". Man könnte angesichts dieser umfassenden Vereinnahmung mit Deleuze und Guattari vermuten, daß der totale Staat einen entsprechenden Widerstand mobilisieren wird, daß es immer etwas geben wird, das seiner geschlossenen Form zu entfliehen trachtet. Carl Schmitt erwähnt immerhin, daß es ein "allgemeines Recht der Gehorsamsverweigerung und schließlich des passiven oder sogar aktiven Widerstandes [gebe], das man auch ‚revolutionäres Notrecht‘ genannt hat", jedoch ohne plausibel zu machen, wann dieses Notrecht gegeben ist, obschon in Schmitts Theorie des Partisanen von 1963 nachzulesen ist, wie der revolutionäre Widerstand gegen einen totalen Staat aussehen könnte. Bei Goetz und in den Tausend Plateaus finden wir dagegen die Überlegung, daß der Staatsapparat den Widerstand gleichsam selbst hervorbringt oder anzieht, einen Widerstand der Kriegsmaschine, der freilich nicht notwendig zum Krieg führen muß, sondern Räume eröffnet, die dem Staat entrinnen. "Immer flieht oder flüchtet etwas", das dem Staatsapparat entgeht, schreiben Deleuze und Guattari (TP 295). Raspe fühlt es jedenfalls: "Die Revolution kommt, das war das Gefühl", eine Intensität, eine "Euphorie" (K 40), die nicht verbalisierbar ist, die sogar "ausdrücklich gedacht ein Unsinn ist" (K 41), aber als "Gefühl" dennoch erlebt wird, auch wenn es "makropolitisch" nicht zu "begreifen" ist (TP 295).

    Raspe sieht in der BRD einen Staatsapparat, der kein Außen mehr kennt, "weil der Schmidtstaat der totalste Staat ist, den man als Deutscher je gesehen hat, Jahrgang vierundfünfzig." (K 42) Bonn ist für Raspe Weimar. Raspe, der in einer Pariser chambre bonne, unterbrochen durch den Besuch von Foucault-Vorlesungen, an seine Abhandlung geht, erkennt die Vermessenheit seines Plans einer "Rekonstruktion der Konstruktion des staatlichen Gesamtgebäudes" (K 16), denn welche Perspektive gäbe es auf den Staat, der kein Außen kennt? Jeder Versuch einer Konstruktion kollabiert und begräbt den Beobachter unter sich (K 96). Dem Königswissenschaftler, der den Staat mit Platon und Hegel denken wollte, ist die Transzendenz der Beobachterposition verloren gegangen; er vermag es nicht, eine Außenperspektive zu gewinnen, und glaubt daher, scheitern zu müssen. "Das war der Ausgangspunkt", schreibt Raspe und folgert: "Ein Punkt ist jedoch nichts für sich allein." Sie können sich verketten und in eine Linie bringen, die der Erzähler freilich einen "Irrweg" nennt, der aber "seltsamerweise jedoch hinaus ins Freie aufs offene Meer führte, wo im Rausch der Winde echte Sachen erstmals wörtlich hörbar wurden" (K 97). Diese auf den ersten Blick völlig assoziativen, beliebig wirkenden Passagen über den Staat und die Fluchtlinie aufs Meer, die von der Goetz-Philologie wie so viele andere unscheinbare Seltsamkeiten des Textes denn auch bislang vollkommen unbeachtet blieben, erhalten von Deleuze und Guattari aus gesehen eine schlüssige Bedeutung. Es gibt wohlmöglich doch etwas anderes als das geschlossene Gefäß des Staatsapparates – nämlich den glatten Raum des Meers. Es gibt nicht nur die Königswissenschaften, sondern auch eine Nomadologie, der es nicht um die widerspruchsfreie Rekonstruktion des Staates in dem Auftrag geht nachzuweisen, daß das, was wirklich ist, auch vernünftig sein muß und umgekehrt, sondern um "Ströme" (K 104), um "Energie" (K 101), um das Ereignis (K 155). Es gibt, wie Deleuze und Guattari schreiben, immer auch ein "Außen der Staaten", das sich auf "Außenpolitik" zwischen den Staaten nicht reduzieren lasse. "Das Gesetz des Staates ist nicht Alles oder Nichts", was 1977 etwa heißen kann: entweder Niederlage oder Sieg, entweder Anarchie oder Geiselerschießung, entweder die Ohnmacht des Staates oder die außergewöhnliche Maßnahme; Carl Schmitt hat in der Theorie des Partisanen betont, daß sich die "Kernfrage für die Situation" immer "sehr präzise als ein absolutes Entweder-Oder" stelle. Für Deleuze und Guattari gibt es dagegen etwas Drittes, das in der binären Logik des Dezisionismus nicht vorgesehen ist: es gibt den glatten Raum, es gibt das Meer, es gibt die "Kriegsmaschine" (TP 494), es gibt das "Werden" und "Folgen", nicht nur das "Codieren" und "Kerben". Kontrolliert hält nicht nur fest, daß "jeder Raum sein Gesetz hat" (K 240) und dort also klare (juristische) Entscheidungen möglich sind, sondern es ist auch von den "Räumen ohne Grenzen" die Rede, von der "Luft" und den "Meeren", die dem "uralt hingelegten festen Land Europa" entgegengestellt werden (K 279). Das Meer ist bei Goetz ein nicht-kontrollierter, nicht gekerbter Raum, der, ganz wie es die Tausend Plateaus beschreiben, vom "Ereignissen oder Haecceïtates" geprägt ist (TP 663), es ist ein Raum, der "von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt" ist, denen man folgt, während das Meer als Transportmedium den Längen- und Breitengraden der Königswissenschaft unterworfen ist (TP 664). Das Bild des Kapitäns, das Goetz zeichnet, entspricht hingegen dem Modell des "Folgens" und des "Elementaren", nicht aber dem "Modell für die Raumaufteilung, für das Aufzwingen der Einkerbung" (TP 665).

    "Günstige Zeiten sind da, oder nicht da, wie die Winde, gehorchen sie keinem Kommando. Auf Deck steht frühmorgens auch der weitgereiste alte Kapitän, das Gesicht in richtung Wetter, Mächten ausgeliefert, die er nicht befehlen kann, jedoch benützen. Kommt der Wind von vorne, kann man kreuzen gegen ihn"...

    So rauscht die "Seestern" dahin: "hoch oben in der Spitze ihrer stolzen Takelage vom roten fünfzackigen Stern geschmückt und vom piratenschwarzen nackten Schädel in der Flagge" (K 212). Die Beute, die er anvisiert, sind die "Silberflotten" (K 212), von denen sich der Staatsapparat nährt. Die Seestern ist also kein Piratenschiff, sondern ein "Korsar", der "Kriegsbeute zur See" macht. Der Korsar ist ein Emblem der nomadischen Kriegsmaschine, die im glatten Raum operiert, im Falle des Romans Kontrolliert natürlich die RAF, deren irreguläre Kombattanten gewissermaßen "Korsaren des Landkrieges" sind: roter Stern und Totenkopf. Auf dieses Meer, auf dieses Schiff sieht Raspe sich geworfen, und in diesem Augenblick wird ihm doch einen "momentlang alles klar", in einem Moment der Verrückung, an dem er "den ganzen Bau von innen und von außen" sieht (K 28). Raspes geradezu epiphanische Erscheinung der Wahrheit wird vorbereitet durch eine systematische Ausschaltung der Selbstkontrolle und des Beobachtungsvermögens:

    "So weit so gut, sagte ich und lehnte mich zurück, als kurz ein Schein die Wand vor mir blitzartig warm, nicht fahl, ein Widersinn, erleuchtete. Hungerstreik und Schlafentzug schärfen zwar die Sinne, doch die Erinnerung im Kürzestspeicher in dem Hirn verflüchtigt sich vermutlich um so schneller, je überreizter der Beobachter seine Beobachtung, wie sie sich selbst beobachtet, beobachtet." (K 27)

    Die Königswissenschaften, so Deleuze und Guattari, setzen "die Beständigkeit eines Blickpunkts voraus" (TP 511), der hier Raspe aber gerade abhanden gekommen ist. Der Versuch mit einem kybernetischen Kalkül zweiter Ordnung, nämlich Beobachtungen bei der Beobachtung zu beobachten, führt erst zu Raspes Paralyse und dann zu seiner blitzartigen und elementaren Erleuchtung: welche die Differenzen von Staatsapparat und Partisan, Land und Meer, Königswissenschaft und Nomadologie einserseits erkennt, andererseits aber solgleich wieder reterritorialisert. Denn das "Blitzartige" der Erkenntnis, die alle "Schleier" durchschlägt und den Kern der Dinge enthüllt, ist wiederum typisch für das Denken Carl Schmitts. Sie kommt Raspe im Herbst 1977 just in dem Moment, an dem die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleier den Staat dazu zwingen, im Ausnahmezustand sein wahres Gesicht zu zeigen und "dem Alltag die Fratze der Lüge abzureißen" (K 261). Jan-Carl Raspe, der offenbar weniger Marxist, als Schmittianer ist, erlebt, wie er das Innen und Außen des "Baus" überblickt in einem Moment äußerster Intensität, an einem Zeitpunkt, an dem eine einzige Differenz die gesamte Gesellschaft zu codieren scheint, nämlich die Unterscheidung von Freund und Feind. Der Zeitpunkt ist kein Zufall:

    "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus", postulierte Carl Schmitt 1932 in seiner berühmten Studie. Das Politische wird von Schmitt differenztheoretisch als Unterscheidung von Freund und Feind eingeführt. Der moderne Staat wird als Einrichtung definiert, die im Normalfall den inneren Frieden garantiert und den Brecher dieses Rechtsfriedens nicht als Feind behandelt, sondern als Verbrecher. "Innerhalb des Staates" können daher "Rechtsnormen überhaupt gelten" (BP 46). Im Inneren des Staates gibt es also keine Feinde, über den Gesetzesbrecher wird Recht gesprochen, er wird nicht bekriegt. Längst nicht jeder Konflikt, so Schmitt, führt zur Differenzierung von Freund und Feind, es kommt auf den "Intensitätsgrad" (BP 38) an. Erst wenn innerhalb eines Staates ein Gegensatz "stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren" (BP 37), dann läuft die Politik auf den "Bürgerkrieg" zu (BP 32) – wenn etwa Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich nicht als Tarifparteien gegenüberstehen, sondern als Klassenfeinde, oder wenn eine politische Partei der anderen vorwirft, mit Staatsfeinden zu paktieren, wenn alles auf eine "innerstaatliche Feinderklärung" hinausläuft, die eine Partei mit einer anderen im "Krieg" auf Leben und Tod sieht und bereit ist, die Freunde der Feinde, 1977 die sog. "Sympathisanten", mit gleicher Intensität zu bekämpfen. Es ist diese Intensität, die Konkurrenten, Gegner, Kontrahenten und Antagonisten, mit denen man innerhalb eines Rechtsstaates friedlich, jedenfalls ohne Blutvergießen umgeht, in Feinde verwandelt, die zu bekriegen sind. Es ist diese Intensität, die den Partisanen auszeichnet. Schmitt nennt es typisch, daß der Partisan im Unterschied zum Soldaten einer regulären Truppe nicht nur sein Leben riskiert, sondern es "darauf ankommen läßt, daß ihn der Feind außerhalb von Recht, Gesetz und Ehre stellt". Die Terroristen sind "Feinde jeder menschlichen Ordnung", "sie sind Feinde jeder Zivilisation", definiert Bundespräsident Scheel am 25. 10. 1977, womit unausgesprochen gerechtfertigt wird, daß Terroristen jenseits von Gesetz und Ordnung bekämpft werden dürfen, da sie selbst weder Gesetz noch Ordnung kennen. Der Terrorist wird daher nicht als gefangener Soldat behandelt, sondern gegebenenfalls füsiliert oder gefoltert. Dies verschärft den Kampf ungemein, da der Partisan umgekehrt in jedem Vertreter der Ordnung, die er bekämpft, ein Ziel sieht nach dem Motto: "Jede Uniform soll sich bedroht fühlen, und damit alles, was sie als Devise vertritt." Geiseln werden genommen. Es entfaltet sich, wie Schmitt schreibt, eine "Logik von Terror und Gegenterror", der Feind wird zum absoluten Feind, der ungehegt von Recht, Sitte und Ehre zur Strecke gebracht werden muß. Der Partisan "vollstreckt das Todesurteil gegen den Verbrecher und riskiert seinerseits, als Verbrecher oder Schädling behandelt zu werden". Dieser Schmittschen Dramatik der Zuspitzung folgt 1977 ein großer Teil der Massenmedien und mit ihnen Raspe in Kontrolliert. Diejenigen, die den Staat und seine Devisen oder Dividenden vertreten, gelten nicht als Menschen, sondern als "dicker Haufen Fleisch" (K 51), als "Nichtgesicht" (K 40), als "Schweine" (K 41).

    Man könnte einwenden, daß ein derartiges Freund/Feind-Denken militaristischen Männerphantasien der Zwischenkriegszeit entsprungen sei, daß es nach 1933 eine fatale wie konsequente Karriere durchlaufen habe und schließlich in der Bundesrepublik nichts mehr zu suchen habe. Aber die Weigerung, das Politische mit den als "reaktionär" oder "bellizistisch" verschrienen Schmittschen Kategorien zu beobachten, macht die Realität der Gesellschaft weder "friedlicher" noch "demokratischer". Goetz‘ Roman zeigt die Wirkungsmächtigkeit der Differenz von Freund und Feind für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft durch den Staat selbst, durch die außerparlamentarische Opposition und durch die Massenmedien. Die RAF folgt dem Schmittschen Szenario, da sie als "Gegner im bewaffneten Kampf ein für alle als solches erkennbare Schweinesystem benötigt", die Medien benötigen wiederum die RAF, die jene "Evidenzen" liefert, ohne die die "existenzialisierende Symbolik" des Entweder-Oder, der Notstandsgesetze und der außerordentlichen Maßnahmen "leer laufen" müßte. Die RAF, so Raspes Szenario, zwingt mit ihrer Kampfansage den Staat in den Ausnahmefall, ihr Motiv war durch und durch "staatsfeindliche Feindschaft" (K 41), und ihr "Haß" (K 149) erreichte die für die "Tötungs- und Todesbereitschaft" notwendige Intensität. "Die Wut macht alles möglich, das ist das wunderbare an der Wut" (K 169). Ausgangspunkt des "bewaffneten Kampfes" ist die Setzung eines Feindes gewesen, der mit dem Risiko des eigenen Lebens zu töten war. Goetz schreibt, ganz Schmittianisch: "Auch der schönste Anfang, fängt sich nicht aus dem nichts heraus von selbst an, sondern wird gemacht, gesetzt gegen den Feind. Einen einmal als Feind erkannten Feind so lange zu verfolgen, wie die Kraft reicht, ist richtiger, als sich mit ihm abzufinden oder zu versöhnen." (K 247) Die Entscheidung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, den Rechtsstaat "ohne wenn und aber zu verteidigen" (K 138), setzt dann den Ausnahmefall in Kraft, der – wie von der RAF erwartet – zwangsläufig mit den Regeln des Rechtsstaates bricht. Die effektivsten Mittel zur Verteidigung des Rechts- und Verfassungsstaates widersprechen dem Grundgesetz, deren "Väter" den "Ausnahmefall" nicht vorhergesehen haben, in dem "der Staat das Recht, um es zu retten, außer Kraft" setzt. "Der Staat", so Goetz, "macht sich dazu ein in drei Tagen über seine Staatstheaterbühne hin gehudeltes Gesetz, um dem Notstand, daß der Staat dauernd Gesetze bricht, in diesem einmaligen Fall rechtsstaatlich diktatorisch einwandfrei schnell abzuhelfen" (K 98f). "Als Macht ist der Staat [...] im Recht", auch wenn zur Verteidigung des Rechtsstaats das Recht gebrochen wird. Der "Staatsnotstand" erlaubt der Demokratie, ihren Feind mit allen Mitteln zu bekämpfen, rechtsstaatlichen und anderen. So vernichtet der Staatsapparat die "Stadt-Guerilla", die ja erklärtermaßen "darauf zielt, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos der Allgegenwärtigkeit des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören", um den Staat schließlich ganz in einer revolutionären Bewegung aufzulösen. In Goetz‘ Kontrolliert lesen wir vom Ausnahmezustand:

    "Der Staatsnotstand braucht kein Gesetz einer Ermächtigung, keine Änderung des Grundgesetzes, kein Gericht, keine Verfassung, kein Gewehr, er errichtet sich, wenn er sich gegeben sieht. Der Staatsnotstand sieht sich gegeben, wenn er den Staat gefährdet sieht. Der demokratische Staat organisiert die Diktatur der Demokratie im Fall des Staatsnotstands demokratisch um zur Staatsdiktatur. [...]

    Der Nachfolgestaat des faschistischen Staates agiert in der selbst definierten Krise so totalitär, wie die antifaschistische Staatskritik den Kern des Staates, der die Diktatur der bürgerlichen Demokratie organisiert, immer bezeichnet hat. Die Macht totalisiert sich, indem sie sich auf sich zuspitzt. Vom effektiven Machtzentrum des Führerbunkers Kanzleramt aus werden die kontrollierenden Gewalten effektiv ausgeschaltet, indem dort die entscheidende Rechtsgüterabwägung vorgenommen wird, egal was die Gerichte entscheiden, und indem dort alle politischen Parteien zur großen demokratischen Einheitspartei des großen politischen Beratungskreises zusammengeschmolzen werden. Herr Kohl, ich muß sie mal unter vier Augen sprechen. Und am Tisch der Entscheidungsfindung sitzen natürlich auch die Polizei und der Generalbundesanwalt Rebmann, führende Gangster der Wirtschaft lassen sich von Brauchitsch vertreten, und natürlich bejaht der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den Staat, in dem wir leben, in seiner Erklärung zum Terror... Fast könnte es also so aussehen, als sei die totale Diktatur der Macht im demokratischen Staat nur das kleine organisatorische Problem, ob für alle politisch sogenannten verantwortlichen Alkoholiker genügend Selterswasser im Kanzleramt bereitgestellt werden kann"... (K 249f)

    Der "Ausnahmefall", so Carl Schmitt, enthülle – blitzartig – "den Kern der Dinge" (BP 35). Im "sog. Ausnahmezustand tritt dann das jeweilige Zentrum des Staates offen zutage." Der "Justizstaat" bediene sich dabei des "Standrechts", der "Gesetzgebungsstaat der Notstands- und Ausnahmezustandsverordnungen", während drittens der "Militär- und Polizeistaat den Übergang der vollziehenden Gewalt [der Exekutive] als typisches Mittel seines Ausnahmezustandes" entwickle. Goetz zeichnet die Gleichschaltung von Exekutive, Judikative und Legislative im großen Beratungskreis, der Staat ist im Kern also weder primär Justizstaat, noch Gesetzgebungsstaat oder Polizeistaat, sondern ein totaler Staat. "Wehrhafte Demokratie" wurde dies 1977 genannt, für Raspe aber ist es eine "wirkliche Diktatur der Spitze der staatlichen Macht", freilich "auf Zeit", sichtbar nur im Moment, wegen des "von innen her operierenden militärischen Angriffs gegen den Staat" (K 251). Soviel zum Schmittianischen Modell der Ausnahme. Kommen wir nun zu jener Selbstbeschreibungsposition, die Benno Wagner als "weichen" Normalismus bezeichnet hat, jener Position, die nicht mit Schmitt den Normalfall vom Ausnahmefall her denkt, sondern die Ausnahme eher so, wie die Statistiker und Techniker sie beschreiben – als erwartbare Abweichung, auf die mit neuer Justierung reagiert wird, um wiederum nachzumessen und gegebenenfalls nachzujustieren usw. "Neuvermesung, Eichung, Bestimmung des Meßfehlers der Apparatur, Bilanz", dann Wiederholung, "hochsensibel", irritationsbereit, so beschreibt der Referent Stein in Kontrolliert seine tägliche Arbeitsroutine im BKA (K 242f, 223, 225).

  3. Der Normalfall der Kontrollgesellschaft
Auf die Ausnahme folgt die Regel: Nachdem ein Großteil der RAF erschossen oder in Stammheim interniert ist, endet der Ausnahmefall und beginnt erneut die demokratische Konkurrenz von Regierung und Opposition um Wählerstimmen. Die partisanische Intensität des Politischen, die für Raspe in die Entscheidungsschlacht der Ausnahme und zum Sieg des Staates über die RAF geführt hat, wird deterritorialisiert. Der Kapitän "möchte immer noch den warmblütigen Walfisch jagen, obwohl den schon vor hundert Jahren schwimmende Fabriken beinahe ausgerottet haben." (K 213) Die Seestern folgt hier weder ökonomischen noch politischen Interessen, sondern allein dem Wal. Auch der Ich-Erzähler folgt nun anderen Fluchtlinien – von einem Rave zum nächsten: "von irgendeinem Fest hatte irgendeiner immer gehört, und wenn das nicht klappte, war die nächste kleine Seitenstraße nicht weit, die mit Autos blockiert und sauber beschallt dem Straßenfest solange als Schauplatz diente, bis die erste freundliche Polizeistreife zum dritten mal kam." (K 154) Nicht mehr der "bewaffnete Kampf" gilt als Deterritorialisierungsvektor, sondern der "Pop". Die Formel für ein Leben vor dem Tode ist keine Feinderklärung mehr, sondern die "Gleichung mit den fünf nicht Unbekannten Haß, Kunst, Terror, Schönheit, Punk" (K 149). "You gotta fight for your right to party" (K 113), werden nun die Beastie Boys zitiert, deren Musik zwar deterritorialisieren mag, keinesfalls aber den Staat in den Ausnahmezustand nötigt. Intensitäten werden nicht länger im Begriff des Politischen gesucht. Deshalb ist Bonn nicht Weimar, denn am Ende des Ausnahmezustands steht erneut der Normalfall von Recht und Gesetz, Sicherheit und Ordnung (vgl. BP 46). Goetz dagegen behauptet: "Der Staat erkennt die Revolution als Feindin an, die zu ihm gehört, und vernichtet sie so in sich hinein" (K 277). Während man mit Schmitt annehmen müßte, daß am Ende des siegreich entschiedenen Krieges "gegen einen wirklichen Feind" (BP 51) wiederum die "normale Situation" (BP 46) geschaffen wird und der Staat aller "Unordnung und Bürgerkriege [...] ein Ende macht", zeigt Goetz‘ Roman, daß zwar die Guerilla zerschlagen wird, nicht aber das Nomadische der partisanischen Kriegsmaschine, die vielmehr längst Einzug in einen Staatsapparat gehalten hat, der jeden "Widerspruch als Impfung nützt, sich flexibel zu stabilisieren" (K 165). Dies ist nicht die Art von Staat, den Raspe im Ausnahmefall gesehen hat. Raspe mag den Normalfall von der Ausnahme her verstehen und sagen: "Nach siebenundsiebzig war nichts mehr wie vorher" (K 271), weil die Schlacht geschlagen und verloren wurde. Wir hatten schon gesehen, wie Raspe zuerst, wie Goetz mit Schmitt formuliert, seine "Ortung" verliert: "Was [...] Ortung seiner selbst war, wird ihm [...] sofort zurückgeworfen rückgekoppelt und erneut vervielfacht an die Wände hin und von dort noch einmal um Potenzen potenziert zurück gejagt, bis derart rasend schnell das eine Wort und diese Wände eines sind im Schmerz von pfeifend hochfrequenten Lärm" (K 219). Für den Terroristen wird aus Rückkopplung nur Lärm. Seine Orientierung gewinnt Raspe erst zurück in der blitzartigen Enthüllung des Ausnahmezustands. Kontrolliert bietet jedoch noch eine andere Sicht auf den Staatsapparat. Für den Referenten Stein ergibt sich aus den komplizierten feed-backs zwischen der Situation und ihrer Beobachtung kein Rauschen, sondern die "Normalität" der Lage (K 221). Während die Dezisionisten der "kleinen Lage" im Kanzleramt auf Vorschläge für außerordentliche Maßnahmen warten (K 224), teilt ihnen das "Bundesamt für Verfassungsschutz" im Oktober mit, daß die "Ausweglosigkeit" der "Situation" eben das "beste der im Augenblick gegebenen Lage" sei (K 223). Über diese Lagebeschreibung "empört" sich die "kleine Lage" und kanzelt die Dienste ab, während Referent Stein über die "derart debile Reaktion" des Kanzleramtes staunt (K 224). Denn für Stein gibt es keinen Ausnahmefall, nur Abweichungen und Feinjustierungen. Er resümiert: "Fortlaufend ist in dieser Zeit Zeit abgelaufen, und es ist tatsächlich gelungen zu verhindern, daß etwas anderes als Zeit passiert, etwa ein Ereignis. Dennoch hat sich dadurch, daß nichts geschehen ist, nicht nichts geändert, sondern alle haben sich daran gewöhnt, daß es ist, wie es ist. Nichts, heißt die Antwort gleichlautend jeden Morgen aus ungezählten Telefonhörern auf die erste Frage, was es neues gibt." (K 221) Während die Dezisionisten auf den "richtigen Moment" warten, die "richtige Entscheidung, napoleonisch, ein Blick, ein Griff, Entscheidungsschlacht und Sieg" (K 232) und von der souveränen Beherrschung der Lage träumen, die jeden "Zufall" "vollkommen ausgeschaltet" hat (K 232), weiß Stein, daß der "Zufall seinen Ort in der Wirklichkeit hatte, wo er ununterbrochen derart massenhaft anfiel, daß die Kapazität kaum eines Rechners reichte, selbst wenn der nahezu simultan mit den neu angefallenen Daten bespeichert wurde, die jeweils augenblicklich neu gegebenen neue Lage korrekt zu erfassen." (K 226) Da alles so ist, wie es ist, will BKA-Chef Herold nichts ausschließen, sondern hält "nichts" und "alles" für "möglich, sogar die neue Lage" (K 204). So ergibt sich für das BKA eine Situation, "in der tag für tag die Lage so ruhig in sich pendelte, als wäre ihre unwahrscheinliche Balance natürlichster Normalzustand" (K 235).

Die Situation wird, man kennt die Ereignisse, dennoch auf beiden Seiten durch Dezision beendet: das GSG 9 Kommando stürmt die "Landshut" (K 276f), die Gefangenen von Stammheim begehen, so Goetz, Selbstmord in der Erwartung, daß der Staat dann so "mörderisch als Mörder" dastehe, daß die "Revolution" ausbreche. Dieses "Kalkül" mit dem eigenen Tod habe die RAF aber "völlig falsch eingeschätzt" (K 256). Die "Machtfrage" sei in keiner Weise gestellt worden (K 258), den Souverän. das "Volk, den König, den Kaiser" habe nie jemand "von Angesicht zu Angesicht" zu sehen bekommen (K 259). Es gab keinen Ausnahmefall. Als Effekt ergebe sich laut Goetz "für den Staat die Impfung mit dem Feind, Selbstschutz, Propagandamaterial und Waisenrente im Ernstfall" (K 262). Der Staat lernt. Er läßt sich, so Deleuze und Guattari, vielleicht einmal, aber nie zweimal überraschen" (TP 583). Bundesjustizminister Vogel will künftig "Umstände und Entwicklungen" vermeiden, die der Bereitschaft zum Terror vorausgehen (Bundestagsdebatte am 28. 10 1977), Gerneralbundesanwalt Rebmann (9 / 1979, Rede vor dem Deutschen Richtertag) setzt auf "präventive" Maßnahmen, etwa auf ein neues "Recht des Meldewesens" oder auf "Bestrebungen, fälschungssichere Kraftfahrzeugkennzeichen und fälschungssichere Ausweisdokumente einzuführen". Dregger fordert eine "Umkehr in der Bildungspolitik" (Bundestagsdebatte am 28. 10 1977). Überwachung, Infiltration, Prävention. Schritte in Richtung Kontrollgesellschaft. Der Staat, der sich selbst impft, lernt – die RAF stilisiert sich dagegen in ihrem Kommuniqué aus dem Mai 1982, in dem sie zu den Vorgängen von 77 Stellung nimmt, erneut zum Akteur der existentialen "Auseinandersetzung Guerilla - Staat" und sieht in der BRD nach wie vor den grob getarnten, totalitären "Maßnahmestaat". Die RAF erweist sich als "Trivialmaschine", in der dieselbe Eingabe immer dieselbe Ausgabe erzielt, der Staat dagegen als "historische Maschine" (K 268), die weiß, wie "flexibel" das Verhältnis von Lage und Lagebeschreibung ist, weil jede "Beschreibung natürlich die Lage der Lage sofort verändert" (K 236).

Der Staat, der auf die Herausforderung nicht statisch reagiert, sondern flexibel, der die Reibungen nicht bekämpft, sondern resorbiert, der die Revolution nicht nihiliert, sondern in sich aufnimmt und nutzt, stützt die Vermutung, daß dem ganzen Schmittschen Eskalationszenario von Freund und Feind, von Krieg und Ausnahmefall, von Terror und Gegenterror in Kontrolliert eine zweite Geschichte des Jahres 1977 an die Seite gestellt werden müßte, die davon auszugehen hätte, daß 1977 gar kein Ausnahmezustand vorlag, sondern - gleichsam in Deckung hinter der Dramatik der Ereignisse – nur ein weiterer Schritt in die Kontrollgesellschaft gemacht worden ist.

Deleuze und Guattari wären hier wohl ähnlicher Ansicht: Die vom Staat auf den Terrorismus losgelassene Kriegsmaschine habe zwar immer "den Frieden zum Ziel", doch sei dies, so formulieren Deleuze und Guattari pathetisch, ein "Frieden als Terror oder Überleben" (TP 582), ein Frieden, der "die ganze Erde kontrollieren und umspannen soll" (TP 582), ein Frieden, der "vielleicht noch schrecklicher ist als der Tod im Faschismus" (TP 583). Es wäre ein Frieden der "Kontrollgesellschaften", deren flexible, mobile, dynamische, lernfähige "Kontrollformen" in unserem Jahrhundert dabei sind, die "geschlossenen Systeme" der "Disziplinargesellschaften" abzulösen (U 255). Deleuze hat davor gewarnt, das Ende der "Einschließungen" in Disziplinar-Milieus wie Schulen, Kasernen, Fabriken oder Gefängnisse für den Anbruch der Freiheit zu halten, und das Paradigma des "elektronischen Halsbandes" genannt, in dem ein effektiver "Kontrollmechanismus" für "offene Milieus" zu sehen sei (U 261). In den Bildungssystemen sei bereits das disziplinäre Schulregime von flexiblen "Formen kontinuierlicher Kontrolle" und dem Prinzip der lebenslänglichen "permanenten Weiterbildung" abgelöst worden (U 261). Bei der Kontrollgesellschaft, die Goetz beschreibt, handelt es sich wohlmöglich um einen von der Kriegsmaschine annektierten Staatsapparat. Sein Modell lieferten, wie Deleuze in den Unterhandlungen ausführt, "Kybernetik und Computer", die vorführten, wie man sich eine "permanente Kontrolle im offenen Milieu" vorzustellen habe (U 251). In Kontrolliert heißt es: "Elektronenhirne tasten laufend prüfend alle Kabel und Verbindungen auf alten Lötplatinen ab, und in neueren sehr kleinen mikroskopisch produzierten Chips befinden sich Programme, die sich selber überwachen, natürlich kontrolliert von Überwacherwächtern und so weiter" (K 210). Die Kontrollgesellschaft ist nicht zu beschreiben anhand der Unterscheidung eines Subjekts, das kontrolliert, und eines Objekts, das kontrolliert wird, wie Raspe annimmt (K 19). Die Kontrollgesellschaft operiert vielmehr selbstorganisiert, sie ist eine lernfähige, sich selbst immer wieder neu justierende "historische Maschine" (K 268), an deren Zustände man sich, wie Referent Stein in Kontrolliert ausführt, gewöhnt. Die Macht hat kein Gesicht, es gibt keinen Souverän, der als Feind zu bekämpfen wäre, der "Staat ist kein einziger wirklicher Mensch", er besteht aus "Untersuchungsausschußprotokollen, Atenkilometern, Bandabschriften" und "Staatsdruckereidrucksachen" (K 255f) – die Macht in der "funktional geordneten Gesellschaft" kennt keine "Herrscherrichtung" von oben" nach "unten" (K 204), sondern ist eine ohne jedes Telos und ohne jede Transzendenz operierende Maschine, deren Effekt in der Normalisierung besteht, eine "Maschine", welche die "Kraft der Normalität [hat] das Unwahrscheinlichste [laufend] zu Normalem zu normalisieren" (K 221f)

Kriegsmaschine und Staatsapparat, so könnte man Goetz mit Deleuze und Guattari lesen, haben sich also wechselseitig verändert. Die Taktiken der "Anti-Guerilla-Einheiten", mobil, flexibel, vernetzt, modular, autonom, autopoietisch liefern nun auch dem Staatsapparat die Spielregeln. Netz und Zelle sind längst von Kennzeichen der RAF-Kommandos zu Emblemen der Kontrollgesellschaft und ihrer Unternehmensberatungen geworden. Die Macht ist nicht der Souverän, der im Ausnahmezustand seine Gestalt offenbart, sondern ein unauffälliges, flexibles, anpassungsfähiges "Schwerefeld" der Normalität (K 235). In Goetz‘ Theaterstück Heiliger Krieg heißt es:

"Früher ist man wenigstens noch erschossen worden, oder öffentlich guillotiniert. Heute hört man gar nichts mehr, das ist das komische, diese Stille, eigentlich angenehm, aber so spurlos, das ist das unangenehme. Man fängt sogar schon an zu flüstern, im grunde ohne Grund." Dieser unauffälligen Form der Macht scheint die Zukunft zu gehören.