Optimale Auslastung der Fickmaschine
"Sie hatte durchgesetzt, dass aus einer Gruppe von fünfundzwanzig Arbeitern dreizehn weiterarbeiteten": In seinem Roman "Wenn wir sterben" erzählt der Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler von vier erfolgreichen Frauen, die um eine Firma kämpfen. Doch die Firma schlägt zurück …
von NIELS WERBER

"Über Misserfolge spricht man nicht. Wer keinen Erfolg hat, soll den Mund halten." Sagt der Bereichsvorstand. Reden wir also über Erfolge, über die Romane des Autors, Ökonomen und Unternehmers Ernst-Wilhelm Händler. Viele verschiedene Register, enzyklopädisches Schreiben, multiperspektivisch, harte Schnitte und Wechsel? Oh, ja!

"Sagen kann ich sowieso nichts, einen Schwanz habe ich immer im Mund. Jeder steckte seinen Schwanz irgendwann in meine Fotze, drei trauten sich auch in meinen Arsch." Very explicit content, hat die Überschrift des Kapitels versprochen. Vorher las man: "Sie hatte durchgesetzt, dass aus einer Gruppe von fünfundzwanzig Arbeitern dreizehn weiterarbeiteten und zwölf zusahen. Tatsächlich konnten die dreizehn Arbeiter das Montageband nicht länger als eine Stunde am Laufen halten, die Aufgabe schien unlösbar. Sie versuchten es noch einmal. Den dreizehn Mann am Band wurden drei andere zugeordnet, die auf Abruf bereitstanden."

Die Unternehmensplanerin Bär konnte im Verlauf des Experiments den Personalaufwand in der Fließfertigung der Fabrik "annähernd halbieren". Hat das Pornovideo, das ihre Tochter Fleur für die Biennale in Venedig gedreht hat, etwas gemeinsam mit den organisatorischen Maßnahmen zur Produktivitätserhöhung? Geht es beim gang bang etwa auch um die Optimierung von Frequenz und Auslastung? Ist das Band, das die beiden heterogenen Szenen zusammenhält, womöglich ökonomisch?

So scheint es. Das Pornoskript fährt fort: "Sie haben mir zwei Schwänze in den Mund gesteckt, und natürlich haben sie auch probiert, mir zwei in die Fotze zu stecken. Die in mir keinen Platz hatten, bediente ich mit den Händen." Die Auslastung der Fickmaschine ist nun optimal. Ein Minimum an Frauen befriedigt ein Maximum von Männern. Die Fabrik erzeugt mit einem Minimum an Personal ein Maximum an Produkten. Benötigt die Fabrik überhaupt Arbeiter, überlegt die Firmenchefin Charlotte; wäre nicht Sex "ganz ohne Männer besser"?

Ernst-Wilhelm Händlers Prosa ist sperrig und heterogen. Jeder seiner Romane ist zusammengesetzt aus vielen (am liebsten allen?) Perspektiven, jeder Protagonist wird in eine eigene Textur gekleidet. Im neuesten Roman "Wenn wir sterben" erzählt ein Immobilienmakler von sich selbst. "Ich finde es lässig, dass ich nicht selbst fahren muss." Über die Managerin Milla wird in der zweiten Person gehandelt. "Die Vorteile, die du hast, wenn du in der Du-Form spricht, sind wirklich immens. Du siehst dich nicht nur von außen, immer bist du auch mehrere." Über die Vorstandsvorsitzende von Voigtländer, Stine, und die von ihr hereingelegte Unternehmensgründerin Charlotte weiß der allwissende Erzähler alles: "Charlotte war mutlos und verzagt." - "Stine hat gewusst, dass sie einen Preis bezahlen muss." Die Welt ihres Liebhabers Egin ist kleingedruckt. "ich bin wichtig, für mich und andere. ich treibe sport und bin dabei frei, kraftvoll und selbstbewusst". Die Passagen über Charlottes Tochter Ethel kommen sogar ohne Punkt und Komma aus. "wann lernt eine firma fragt ethel wenn sie das was sie macht besser macht".

Die Vorstände sind namenlose, personifizierte Firmenbereiche: "das Personal", "die Finanzen", "die Produktion", "das Controlling". Der Münchener Soziologe, der "viele Bücher verfasst" hat, im "Feuilleton einer großen Tageszeitung" schreibt und "Berater für die bedeutende wissenschaftliche Reihe des nach eigenen Angaben bedeutendsten literarischen Verlags in Deutschland" ist, wird als namenlose, aber exemplarische "Empörungsmaschine" gezeichnet. Was diese "Maschine" unentwegt "zitiert", ist aus zahlreichen bunten Büchern bestens bekannt.

All das heißt dann "Roman". Das Genre hält eben viel aus, seit Friedrich Schlegel alle möglichen Formen in seine "Lucinde" gepackt und den Roman als "Mischgedicht" bezeichnet hat. Händlers Romane könnte man Hybride nennen, die zahlreiche Formen, Perspektiven und Stillagen integrieren, oder, wie Reinhard Baumgart in der Zeit, ein "Experimentierfeld". Damit wären immerhin Begriffe genannt, die die Differenz zwischen einem seitenlangen interpunktionslosen Rap über Ethels Ernährungsphilosophie - "kohlehydrate eiweiße und fette im verhältnis 55:25:15 benötigt ethel sie aß obst salat gemüse wenig" - und der gemütlichen Ich-Erzählsituation des Maklers - "Vielleicht sollte ich doch mal wieder in Urlaub fahren. Meine Frau verreist öfters" - markieren könnten. Aber man hätte damit nur problematische Begriffe vor ein nach wie vor ungelöstes Problem geschoben: das Problem der Form des Romans.

Sicherlich gibt es Protagonisten. Sie kommen aus der New-Economy-Welt und ihrem Subraum aus Wellness, Lifestyle, Werbung und Kunst. Sie verketten die einzelnen Sequenzen des Textes, indem sie sich beobachten. Aus Bärs Perspektive erfährt man über Stine, aus Stines über Egin, aus Egins über ihn selbst, aus Millas über Stine und über sich selbst als andere.

Sicher passiert mit den Protagonisten etwas. Gibt es eine Handlung? Am Anfang leitet Charlotte mit ihren Freundinnen Stine und Bär, alle 45, alle schön, alle erfolgreich, ein modernes Unternehmen. Ihre Töchter sind hochbegabte Girlies, die der Financial Times Interviews geben. In der Mitte hat Stine die Firma an sich gerissen, Charlotte ausgebootet, Bär vertrieben, Ethel manipuliert. In einem Immobilienprojekt in Magdeburg verlieren Charlotte und Ethel ihr Vermögen. Bär erhält eine Abfindung.

Dann wiederholt sich der Kursus: Stine will mehr, will weiter wachsen und schlägt Milla ein Jointventure vor, das Voigtländer zu einem Großen der Branche machen würde. Aber beide Firmen wollen alles für sich, und diesmal verliert Stine das Spiel. Am Ende berät Stine Wintersporthotels, Fleur dreht ein Video über sie, und Ethel und Charlotte leben von ihren Vermögensresten in einer Sargfabrik. Es gibt Anfang, Mitte und Ende, genau so hatte Aristoteles in seiner Poetik Handlung definiert.

Aber besteht diese Romanhandlung wirklich aus den Handlungen der Personen? Ergibt sie sich etwa aus dem, was Bär, Charlotte, Milla und Stine tun: organisieren, sabotieren, kaufen, verkaufen, entscheiden? Oder ist es nicht umgekehrt so, dass der Roman all das, was die Figuren tun, so verkettet, dass sich eine Handlung ergibt, die jedes der vielen Segmente des Romans erfasst? Müssen Romane überhaupt von Menschen handeln? Die "Verkettung tritt an die Stelle der Subjekte", haben Deleuze und Guattari über Kafka geschrieben. Antrieb und Organisation der Verkettung haben sie als "Maschine" und "Menschen" entsprechend als "Maschinenteile" aufgefasst. Genau darum scheint es bei Händler zu gehen: In "Wenn wir sterben" sind die Personen Elemente von Verkettungen, deren Logik die Ökonomie vorgibt.

Stine denkt: "Wenn es das Schicksal will, dass mir die Welt gehören soll, dann mag das Schicksal dafür sorgen, dass es ohne mein Zutun geschieht." Nicht Stine hält die Fäden in der Hand, sondern das Schicksal. Früher hätte man hier Götter benannt, aber spätestens seit Adam Smith ist es die Wirtschaft, die "gleich dem antiken Schicksal über der Erde schwebt und mit unsichtbarer Hand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftet und Reiche zertrümmert", wie Karl Marx den Nationalökonomen wiedergibt.

Die Fabrik ist Händlers Akteur. Die Fabrik "saugte Menschen und Güter an" und gab "bessere Menschen und bessere Güter zurück". Die Fabrik "wusste alles und konnte alles". Sie dehnte all das, was für sie automatisierbar war, immer weiter aus, in alle Komponenten der Fertigung, in alle Bereiche der Planung, in jede Bedieneroberfläche, sogar ins Marketing, warum nicht auch in die in ihr tätigen Menschen. Sie ist eine virtuelle Fabrik, weil sie alle möglichen "Welten von Produkten" herstellt, die "produziert werden könnten und auf die niemand kommt".

Der Computer als Maschine aller möglichen Maschinen ist hier zum Modell der Ökonomie überhaupt geworden. Und wie die Computer der nächsten Generation ohne Menschen auskommen, die sie bauen und programmieren, benötigt auch die Fabrik "keinen Hüter". Sie ist autopoietisch. An veränderte Umweltbedingungen passt sie sich selbsttätig laufend an. Die Firma lernt, weil "sie erfahrungen aus der vergangenheit in den alltäglichen prozessen berücksichtigt". Stine und Milla braucht sie dazu nicht.

Die Fabrik, Charlottes "Sohn", stellt einen Möglichkeitsraum her, der alle denkbaren Produkte enthält, die produziert und nachgefragt werden könnten. Ethel, Charlottes Tochter, "meinte sie könnte alles mögliche werden theoretisch jedenfalls schauspielerin filmemacherin rapperin oder fashion designerin". Die neue Ökonomie hat ihr Programm den Figuren injiziert.

Stine kann nun so virtuell werden wie ihre Fabrik. Am Ende des Romans "hieß sie nicht mehr Stine, erklärte sie Fleur. Sie hieß Linda. Karen. Olga. Lucy. Angelique. Myka. Iris. Jen. Eva. Desiree."
 

Ernst-Wilhelm Händler: "Wenn wir
sterben". FVA, Frankfurt am Main 2002. 478 S., 25 €
taz Nr. 6865 vom 28.9.2002, Seite 15, 301 Kommentar NIELS WERBER, Rezension

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