Anselm
Haverkamp findet in der Nachkriegsphilologie die Stunde null der
Kulturwissenschaft
Latent
ist, was im Verborgenen droht. Das gilt nicht nur für alle Macht,
sondern für Verborgenes überhaupt, das seine Gestalt noch
nicht gezeigt hat. Ähnlich wie Donald Rumsfeld mag man ahnen, dass
es da etwas gibt, von dem man weiß, dass man es nicht weiß.
Sobald man es aber weiß, wird das Latente manifest. Verborgen
oder bedrohlich ist es dann nur noch für andere, die nicht sehen,
was sich bei rechter Beobachtung zeigt: Latenz ist daher stets die
Latenz der anderen.
Haverkamps Aufsatzsammlung zur
Latenzzeit beginnt 1945 und
endet in den Neunzigern. Die "Stunde null" der Nachkriegsphilologie,
die massenhaft Latenzen produziert hat, ist jene Stunde, in der
künftige Gelehrte wie Hans Robert Jauß ihre
Waffen-SS-Uniform auszogen, um die Rezeptionsästhetik zu
begründen. Kulturwissenschaft beginnt als "Nachkriegswissenschaft
in dem Sinne, dass die Rückfälligkeit in die Barbarei nicht
so sehr ihr Gegenstand als ihre methodische Voraussetzung ist". Damit
ist gerade nicht gemeint, dass man in Jauß' (oder Paul de Mans)
Texten völkische Muster entdecken müsste; vielmehr liege im
Krieg der Grund dafür, dass gerade diese Generation einen
gewandelten "Literaturbegriff zum Ausgangspunkt eines neuen
Geschichtsbegriffs" machen musste. Sobald dies geschieht und die
Geschichtsschreibung auf ihre Tropen untersucht wird, ist sie zum
Objekt der Kulturwissenschaften geworden. Nicht das Ereignis macht
Geschichte, sondern seine Einschreibung in eine Geschichte. Man denke
an die Implikationen, den 8. Mai Niederlage oder Befreiung zu nennen.
Die
Latenz der Archive
"Nahezu alle bedeutenden wissenschaftlichen Nachkriegsentwicklungen
haben den Krieg (und den Holocaust) in sich." Dass die Innovationen der
bedeutenden Konstanzer Universitätsneugründung, die Haverkamp
abschreitet, von der "Geschichte im Rücken" profitieren konnte,
belegt allein schon der fruchtbare Gegensatz zwischen Jauß und
seinem zeitweiligen Gast, de Man, den Haverkamp entfaltet. Es ist ein
Zeichen der vielen Gemeinsamkeiten zwischen Rezeptionsästhetik und
Dekonstruktion, dass beide annehmen, dass Mensch wie Literatur das
eigene Sein in Frage stellen. Zur Latenz dieser Hypothese zählt
der Krieg.
Mit solchen Latenzen ist heute Schluss, aber nicht deshalb, weil nun
endlich alles ans Licht gekommen ist über Krieg und Nachkrieg.
Jane Kramer, die Berlin-Korrespondentin des
New Yorker, wird
mit dem Statement zitiert, die Generation Berlin im
Schröder-Deutschland verleugne, verdränge, vergesse nichts -
sondern sie wisse nichts mehr. Mit diesem Nichtwissen wäre die
Latenzzeit zu Ende. In einer Zeit, in der Soziologen die These
vertreten, das, was wir "über unsere Gesellschaft, ja über
die Welt, in der wir leben", wüssten (Niklas Luhmann), stamme aus
den Massenmedien, kann man diesem Befund nur zustimmen. Latent
wären dann allenfalls all jene von den Agenturen der Medien
gespeicherten alten Daten, die bei geeignetem Anlass in einen neuen
Rahmen eingespeist werden. Die Debatte um Luftkrieg und Vertreibung hat
gezeigt, dass keines dieser Themen verdrängt wurde, vielmehr
lagerten die Romane Ledigs wie die Gustloff-Filme alle im Archiv der
Medien, allzeit bereit für ihre Aktualisierung.
Wenn die heikelste Enthüllung, das schrecklichste Grauen keine
Strukturen zu erschüttern vermag, sondern nur Sensationswert
besitzt, kann alles ohne Rücksicht auf Latenzschutz gedruckt,
gefunkt, gesendet werden. Archivarbeit, wie jüngst im Bereich von
Nazi-Porno-Film-Kommandos, führt nicht etwa zur emphatischen
Erinnerung von Verdrängtem, sondern via Skandal zum Bestseller.
Jedwede Aufklärung ist von vornherein abgeklärt,
curiositas
ist nicht mehr ein Wissenwollen, das Latenzen als kontingente
Performative sichtbar macht, sondern Gier nach Neuem, nach
Unterhaltung. Vergessen wird hier nicht, weil das Erinnern zur Qual
würde, sondern weil es langweilt. Manifest wird es nicht durch
Trauerarbeit, sondern dank Suchalgorithmen, die Abgelegtes dann
auffinden, wenn es erneut Eindruck zu machen verspricht.
Mögen die Medien Oberflächen ohne Tiefen generieren, so birgt
Literatur die Latenzen ihrer Zeit. "So genannte, und zwar
hauptsächlich von Historikern und Soziologen so genannte,
literarische Quellen", betont Haverkamp, "markieren und exponieren
solche unter der Oberfläche des politisch, ideologisch oder
kulturell Thematisierten liegenden Frakturen und Latenzen." Weil dazu
gerade das Politische, Ideologische oder Kulturelle gehören, muss
die Lektüre der Texte kulturwissenschaftlich informiert sein. An
Kleists
Verlobung in St. Domingo führt Haverkamp vor, wie
eine solche Lektüre aussehen könnte.
Dass gerade die modernen Künste Latenzen in den Blick nehmen und
auf Kontingenzen zurückführen, kann freilich nur
überraschen, wenn suggeriert wird, diese Perspektive nehme sonst
niemand mehr ein. Erst in der Wendung gegen Medien und
Medienwissenschaften leuchtet ein, dass gerade Literatur Latenzen
exponiere. Die "Literatur, genauer das Zusammenspiel von Literatur und
Philosophie im Text der Rhetorik, der beide zusammenhält", sei der
privilegierte Ort von Beobachtungen, welche gerade auch die
vermeintlichen Evidenzen jener massenmedialen Skripte und Bilder auf
Verfahren ihrer Erzeugung zurückführen, die diese in ihrer
Darstellung zu verbergen pflegen, was "die Medien zum Liebling der
Evidenzkultur" gemacht habe, dadurch "aber ungeeignet als Leitmodell
von Kulturwissenschaft".
Die Kulturwissenschaft, deren Archäologie, Reflexion und
Grundlegung Haverkamp betreibt, soll mehr sein als "bloßer
Medien-Nachvollzug", nämlich Philologie, eine "dekonstruktive"
Philologie, die "nicht länger an Fiktionen von Literalsinn oder
Klartext hinge und laborierte", sondern Lektüren betreibt, um
deren Revidierbarkeit sie weiß. Haverkamps "Philologie als
kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung" bleibt gelassen "in der
Unsicherheit des Wissens". Ihre Beobachtung der literarischen
Latenzbeobachtung heißt also nicht, hinter den Oberflächen
den einen Klartext aufzuspüren, sondern die Möglichkeiten
"des in einem gegebenen kulturellen Moment Sagbaren und Unsagbaren,
Gesagten wie auch und wesentlich Ungesagten" zu beschreiben. Diesen
Moment nennt Haverkamp im Anschluss an Hans Blumenberg
"Sprachsituation".
Neue
Masken für alte Begriffe
Kulturwissenschaft muss um die Situiertheit ihres Sprechens wissen. Die
aus der Latenzzeit des Nachkriegs hervorgegangenen Theorien werden von
Haverkamp nicht nur historisch, sondern auch geopolitisch verortet. Was
derzeit "gut und teuer ist, kommt aus der amerikanischen Verarbeitung
älterer europäischer Theoriebestände". Dies gelte hier
zu Lande zumal für die notorische Rede von der Performanz, die all
ihre Facetten auf dem Stammvater Austin zurückführt und ihr
deutsches Erbe: Heideggers, Lipps, Lugowskis Kategorie des "Vollzugs"
nicht einmal ignoriert. Austin fungiere so als "Alibi" eines
Paradigmas, dessen Ahnenerbe mitten in die Zeit des Nationalsozialismus
führt. Haverkamp verspottet die Re-Importe als "Maskenzug der
Figuren und Begriffe, in dessen Umlauf der Körper als Basis und
die Performanz als Überbau ihre Urstände zu feiern begannen".
Hinter
dem Cover-up der Masken verbirgt sich nicht nur die gute alte
Ideologiekritik des Schemas Basis / Überbau, sondern auch die
ganze schlechte alte Ontologie. Mit den Masken auch die Konzepte
wegzuwerfen, um theoriefeindlich "Rephilologisierung, Rückzug ins
nationale Archiv" zu betreiben, lehnt Haverkamp nachdrücklich ab.
Er will die Kulturwissenschaft "unabhängig von allfälligen
Leitkulturen und Geopolitiken" wissen. An der Viadrina, wo Haverkamp
einen Lehrstuhl für Westeuropäische Literaturen innehat, soll
eine "postnationale" Kulturwissenschaft betrieben werden. Nicht als
"geopolitische Agentur" der USA, sondern als Wissenschaft, die um die
Latenz jeder Evidenz und die Kontingenz aller Performanz weiß -
auch ihrer eigenen.