Als
vor drei Jahren die Zwillingstürme des World Trade Centers
einstürzten und die Leichen all jener unter sich begruben, die
vorher verzweifelt aus den brennenden Etagen des Wolkenkratzers
gesprungen waren, irritierte einer der berühmtesten Komponisten
Neuer Musik mit der Bemerkung, er halte die Bilder des 11. Septembers
für das größte Kunstwerk der Epoche. Die
überwältigende Visualität einer Ästhetik des
Schreckens von der politischen und moralischen Bewertung der
Anschläge abzulösen und allein als Kunst wahrzunehmen, machte
Skandal. Auch die in der Stillage erhabener Aufsicht aufgenommenen
Photos der gigantischen Türme, aus deren Hunderte von Metern vom
Boden entfernten Fenstern sich winzige Menschen stürzen, wurden
als "unethisch" kritisiert. Im Falle der Darstellung von Gewalt,
Grausamkeit und Krieg scheint sich auch in Zeiten der Autonomie die
Ethik als Reflexionstheorie der Kunst durchzusetzen und ein letztes
Tabu auszusprechen: "9/11" darf nicht als ästhetisches Ereignis
wahrgenommen werden.
Karl Heinz Bohrer konstatiert im "Vorwort" seiner Aufsatzsammlung
Imaginationen des Bösen, dass das "Problem des Bösen in
letzter Zeit im Zuge kriegsbedingter Grausamkeit erneute
Aktualität gewonnen hat", nachdem es in den "Monstrositäten
des 20. Jahrhunderts" seine vorerst "letzte Gestalt" erhalten hatte.
Das Böse - dafür stehen Konzentrationslager und
Vernichtungskrieg, Terrorismus und Massaker. Die angesichts
bedrückender, aktueller Bilder aus New York oder Uganda, dem Irak
oder dem Gaza-Streifen provozierende Generalthese seiner acht Essays
ist die, dass "die Künste, vor allem Literatur und Malerei, eine
spezifische Affinität zum Bösen haben". An Autoren wie Kleist
und Kafka, Jünger und Weiss, Baudelaire und Poe oder
Künstlern wie Delacroix, Goya und Bacon führt Bohrer vor,
dass das Böse mehr ist als ein Motiv, "dass nämlich Kunst und
Gewalt sich bedingen".
Dies bedeutet nicht, dass es Kunst und Literatur nicht ohne Gewalt als
Inhalt gebe; sondern es gibt keine große Kunst ohne böse
Form. Gewalt, Grausamkeit, Schrecken sind für Bohrer
"ästhetische Verfahren"; der "Stil" großer Literatur ist
"mörderisch oder frappierend", er "verwundet oder
erschüttert". Dieser Zusammenhang des Bösen und
Gewalttätigen mit der Kunst nehme "mit der Bedeutung des
literarischen Werks" zu.
Pfui
Teufel Kunsthandwerk
Nicht die Mitteilung des Bösen, sondern die böse Darstellung,
nicht die Verwendung von bösen Motiven wie das des Satans im
Doktor
Faustus von Thomas Mann, sondern das "böse Kunstwerk" seien
Königswege zur genuin ästhetischen Imagination jenseits
philosophisch-theologischer Einhegung, für die bei Bohrer immer
wieder Hegel steht, und jenseits moralisch-politischer
Erbauungsliteratur, für die Böll und Grass angeführt
werden. Wo die "parabolischen Verfahren" der Literatur offensichtlich
seien und Autoren bessern, aufklären, anprangern wollen, sei der
"Abfall ins Kunsthandwerk nicht mehr übersehbar".
Wo etwa Texte wie Franz Kafkas "In der Strafkolonie" von seinen
Interpreten auf eine "warnende politische Parabel" festgelegt werden,
unterwirft man sie der "Kategorie des Guten" und zerstört sie
damit "als Kunstwerk". Wer von Kafka als Theoretiker
bürokratischer Komplexität oder Analytiker totalitärer
Macht spricht, verkennt ihn also als Künstler. Wer das Böse
in der Kunst erklärt, betreibe "Theodizee" statt ästhetische
Theorie. Alle Deutung als Sinnstiftung verfehlt die Kunst, denn moderne
Kunst "entzieht sich der Stiftung von Sinn".
An diesen riskanten wie apodiktischen Formulierungen wird ein
Kriterienkatalog sichtbar, an dem die Qualität des Kunstwerks zu
messen ist. Es ist am größten und erhabensten dann, wenn es
sich des Bösen annimmt, wenn dieses Böse sich aller Deutung
entzieht und als "schiere Präsenz" oder "schieres Massaker"
auftritt und wenn sich diese Präsenz in einem "frappierenden Stil"
in einer "Intensität" niederschlägt, der den Rezipienten
"förmlich überwältigt". An Tod und Grausamkeit gerade im
Krieg der Literatur schätzt Bohrer den "Thrill der
Entscheidungssituation", an Folter- und Hinrichtungsszenen den
geschlossenen "ästhetischen Wirkungszusammenhang", der die
Wahrnehmung verstört und Entsetzen und Angst auslöst.
In dem Aufsatz "Kriegsgewinnler", dem einzigen Originalbeitrag des
Buches, entfaltet Bohrer die These, dass seit "Beginn der
europäischen Literatur, von Homer bis in die Epoche nach dem
Zweiten Weltkrieg, Literatur und die Künste generell aus der
Kriegsthematik eine gewaltige Energie" gewonnen haben. Die von Bohrer
so geschätzte Ästhetik des Schreckens, deren
Intensitäten den Reizen, Schocks und Überwältigungen des
Erhabenen entstammen, profitiert von den Rasereien des Achill wie den
Exzessen einer Penthesilea. Weder die Gemetzel und Zerstückelungen
in Homers
Ilias noch die blutigen Rituale und Schändungen
in Jüngers Abenteuerlichen Herzen erfüllen irgendeine
"Funktion als Parabel", vielmehr sind sie, wie Bohrer mit Nietzsche
annimmt, allein ästhetisch gerechtfertigt.
Es
ist schade, dass Bohrer es unterlässt, seine Überlegungen in
der Epoche "nach dem 11. September" selbst zu situieren. Wenn man sich
der Ansicht anschlösse, dass das massenhafte Sterben im WTC
sinnlos war, wenn man sich des Schreckens und der
Überwältigung durch die bösen, faszinierenden Bilder der
einschwebenden Todesmaschinen und der schmelzenden Wolkenkratzer nicht
zu erwehren vermöchte, wenn man die Entscheidung, zu verbrennen
oder in den Tod zu springen, als grauenhafte Dezision wahrnähme -
wären dann die Imaginationen des Komponisten zwar nicht moralisch,
politisch, soziologisch oder theologisch zu legitimieren, wohl aber
ästhetisch? Wird man demnächst eine Bearbeitung der
Anschläge als "Kriegsgewinn" der Kunst verbuchen müssen?