„Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen“ heißt die „Formel“, die „Gesellschaftstheorie, Evolutionstheorie und Theorie der Kommunikation verbindet“, um das Problem der „Normalisierung unwahrscheinlicher Gesellschaftsstrukturen“ zu lösen (S. 10). Im Fokus dieses Theoriekomplexes erscheint Liebe als eine Einrichtung, die Kontaktanbahnungen ermutigt und so Paarbildungen wahrscheinlich macht. Ähnlich wie Geld ego dazu motiviert, alter knappe Güter zu überlassen, oder Macht dazu bewegt, Entscheidungen zu folgen, die man nicht selbst getroffen hat, encouragiert die Semantik der Liebe, es mit der Aufnahme höchstpersönlicher Kommunikation zu versuchen, obwohl man sich fremd ist. Der Versuch, Intimkommunikationen aufzunehmen, ist noch heute „mit hohen Unsicherheiten verbunden“, das Risiko, abgewiesen zu werden, ist groß. Für die Steigerung der „Erwartungssicherheit“ sorgen daher kulturelle Handlungs- und Deutungsanleitungen.[4] Die Semantik der Liebe sorgt dafür, daß auch der andere weiß, was es bedeutet, wenn man das dritte Mal zusammen Essen oder ins Schwimmbad geht, einen Walzer tanzt oder um Feuer bittet, auch wenn man noch so sehr beteuert, es gebe dafür sachliche, also unpersönliche Gründe: man wolle endlich einen Stil erlernen, den der andere beherrsche, oder der andere tanze eben ausgezeichnet und sei gerade frei gewesen. Die Semantik erhöht nicht nur die Aussicht auf Erfolg, sie vermerkt auch Orte verdichteter Wahrscheinlichkeit. „Tu quoque, materiam longo qui quaeris amori, ante frequens quo sit disce puella loco“, rät Ovid,[5] und auch Werther weiß, wo er hingehen muß: dorthin, wo die „jungen Leute“ und „schönen [...] Mädchen“ sind.[6] Auf einem Ball erhöhen sich die Chancen für Kontaktanbahnungen. So wie es in Kaufhäusern einfacher ist als anderswo, Geld gegen Waren zu tauschen, gibt es auch institutionalisierte Lokale, welche quasi zur Aufnahme und Führung von Intimkommunikation einladen. Ist man einmal dort, kommt es nur auf die passenden Worte an.[7] Auch Lotte leitet ihre Kontaktanbahnung mit Werther so ein, als hätte sie sachliche Gründe:
»mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen.« (S. 24)
Werther berichtet, daß Lotte und er zu den wenigen gehören, die auf dem Ball überhaupt den frisch importierten Walzer beherrschten. Es ist also ganz plausibel, daß sie während der englischen Tänze zusammenbleiben und ihr Können gemeinsam genießen.
Nie ist mir's so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging, und Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst mich! (S. 25)
Jemand, der Lotte derart mit einem anderen „walzen“ läßt, kann folglich nicht lieben wie Werther und hat keine Ansprüche zu stellen. Was geschieht? Die beiden Tanzenden bilden eine Dyade, die sich vom Rest der Welt separiert, ohne daß dies zunächst eigens thematisiert werden müßte. Erst beim „dritten englischen Tanz“ erscheint ausgeschlossenen Dritten eine allein sachliche Motivation des Paares für unzureichend. Eine befreundete Dame „sieht Lotten lächelnd an, hebt einen drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.“ (S. 25) Sie muß offenbar daran erinnert werden, daß sie so gut wie verlobt ist. – Ein Gewitter bricht herein und beendet den Tanz, man lenkt sich ab. Lotte versteht es abermals, Werther fühlen zu lassen, daß sie ihn auszeichnet. Bei einem Gesellschaftsspiel erhielt er von ihr „zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte.“ Nach dem Ende des Spiels und des Gewitters „[zogen] die Vertrautesten einander beiseite, [...] und ich folgte Lotten in den Saal.“ (S. 27) Nach nur drei Tänzen und zwei Ohrfeigen vergleicht Werther seine Beziehung zu Lotte bereits mit der vertrauter Paare. Gemeinsam – und das heißt eben auch: ohne Begleitung Dritter – treten sie ans Fenster und machen den ersten Schritt in eine höchstpersönliche Kommunikation, deren Intimität nicht mehr – wie noch bei Tanz und Spiel – umzuetikettieren ist. Als Tanzpartner und Spielteilnehmer konnte die Interaktion zwischen Lotte und Werther noch unter der Flagge unpersönlicher Beziehungen laufen, weil im Rahmen von Tanz und Spiel nur bestimmte „Rollenmerkmale“ von Personen abgerufen werden, die man auch bei jedem anderen erwarten könnte, wenn er denn nur so gut walzte wie Werther. Man nutzt vorgegebene Kontexte und gerät daher nicht unter Motivverdacht. Die Erinnerung ihrer Freundin an Albert läßt Lotte weder Erröten noch aus dem Takt kommen, denn was immer sie sich beim Walzer mit Werther gedacht haben mag: eine intime Bedeutung läßt sich noch ohne weiteres abstreiten. Demgegenüber sind höchstpersönliche Beziehungen solche, in denen statt generalisierter Rollenmerkmale „mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person bedeutsam werden“. Solche Beziehungen nennt Luhmann „Intimbeziehungen“.[8] Sie werden von Lotte und Werther aufgenommen mit einer Interaktion, deren Sinndimension nicht länger auf Rollen zugerechnet werden können, die man im Kontext eines Balls zu spielen hat, sondern auf ihre Individualität, die ihrer grundsätzlichen „Inkommunikabilität“ (S. 132) zum Trotz gleichwohl kommunikativ vermittelt wird:
sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock!« – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören! (S. 27)
Dieselbe Epoche, die die Individualität und ihre Inkommunikabilität entdeckt,[9] entwickelt am Modell der Liebe das „Lexikon“ einer „truglosen Sprache“, die geeignet scheint, „Empfindung“ zu „authentifizieren“.[10] Ihr Medium ist die nahezu wortlose Kommunikation. Im Namen Klopstocks scheint eine Unmittelbarkeit zu gelingen, die zwischen zwei Individuen sonst immer nur mißlingen kann, weil die Kommunikation niemals in der Lage ist, „communia proprie dicere“.[11] Doch in der „Hypnose“ der Unmittelbarkeit vergeht die „Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem Meinen“.[12] Und so nehmen Werther und Lotte nicht die Welt wahr, sondern erleben des Anderen Erleben der Welt und erzeugen so einen „Sonderhorizont“ intimer Kommunikation: Das „Welterleben“ egos wird von alter nicht der Welt zugerechnet, sondern ego.[13] Mit dem Schritt aus der Öffentlichkeit heraus in die einsame Nische am Fenster vollzieht sich eine Differenzierung von „Nahwelt und Fernwelt“, auf der die „Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt“ aufbauen kann. Dazu kommt es dann, wenn „jeder die Welt des anderen mittragen“ kann und die Fernwelt alters für ego relevant allein deshalb wird, weil er geliebt wird.[14] Werther gibt sich nicht allzuviel Mühe das Naturschauspiel zu beschreiben, das sie sich gemeinsam anzuschauen vorgeben, denn nicht die Natur, sondern das Erleben der Natur im anderen ist interessant für die intime Kommunikation des Paares. Lotte schaut zum Himmel hinauf, und in ihren Augen erlebt Werther seine Vergötterung. „Was sagt dieser erseufzende Mund? Was sagt mir dies Auge / Das mit verlangendem Blick zärtlich gen Himmel hin sieht?“ Diese Frage aus Klopstocks Elegie von der Künftigen Geliebten erlaubt nur eine Antwort: „Göttliche, du liebest!“[15] Alles wird für Werther eine ausgezeichnete Bedeutung erhalten, wenn es nur in Lottes Erleben eine Rolle spielt. Die „Relevanzschwelle“ sinkt soweit, bis all das, „was für den einen relevant ist, fast immer auch für den anderen relevant ist.“[16] Und wenn umgekehrt ego Bedeutsamkeit für Ereignisse reklamiert, die alter für irrelevant hält, dann zerbricht der Sonderhorizont und endet die Liebe.
Drei Tage nach seinem Walzer mit Lotte schreibt Werther an Wilhelm: „Ich weiß weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.“ (S. 28) Man könnte dies zum Beleg für die gängige Ansicht nehmen, die Liebe isoliere von der Welt, blende die Umwelt der Liebenden aus oder führe zu einem Weltverlust.[17] Doch meint Liebe eher die „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“.[18] Werther kennt diese Art der Codierung von Intimität. In einem Brief erinnert er sich an seine verstorbene Jugendfreundin:
Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? (S. 12)
Liebe wird hier bestimmt als wechselseitige Steigerung des Selbst. Der „Widerhall“ der „Empfindungen“, so deutet Blanckenburg 1775 in seiner Werther-Rezension die zitierte Stelle, verleiht ihnen „größere Kraft und Thätigkeit“.[19] Diese Intensivierung der Existenz durch die Liebe geht einher mit dem Aufbau eines Sonderhorizontes intimer Kommunikation, auf den alles, was sich diesseits und jenseits der Paarbeziehung ereignet, erlebt oder gefühlt wird, bezogen werden kann. So erlebt Werther es in seiner Liebe zu Lotte. Seine Existenz
muß durch alles, was Lotte sagt und thut, und durch die Gesellschaften, Oerter und Gegenden, wo W. sie sieht, mehr Kraft und Stärke, und festere Wurzeln erhalten (S. 60).
Alles wird erlebt im Medium der Liebe. Blanckenburg bestimmt Werthers bisweilen euphorische, bisweilen depressive Schilderungen seiner Umgebung als Resultat einer totalisierten Liebe, die sich die ganze Welt zum Resonanzboden unterwirft. Blanckenburg kommentiert Werthers Treffen auf Lottes wahnsinnigen Verehrer:
Vorher athmeten alle Gegenstände um ihn herum, durch Lotten, Freude und Wonne; konnte der Geist seiner Liebe ein anderer Geist, als der Geist der Freude seyn? Jetzt hat er vor sich einen, Ihretwegen Elend gewordenen, und fühlt in sich – – Auch sieht man, auf die anschauendste Art, an dem verschiedenen Eindruck, den eine und eben dieselbe Melodie von ihr jetzt oder vorhin auf ihn macht, den Unterschied in dem damaligen und jetzigen Verhältnisse seines Herzens zu ihr. (S. 79)
Die Welt wird für Werther zu einem „sympathetischen Schauspiel“ (S. 80), das spätestens mit dem Moment beginnt, an dem Lotte das Zauberwort „Klopstock“ ausspricht und damit jenen rückgekoppelten Prozeß auslöst, den wir Liebe nennen können. Wenn Werther selbst das erste Mal explizit von Liebe spricht, mobilisiert er daher genau dieselbe Semantik, mit der er die Klopstock-Szene beschrieben hat:
Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß sie - o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? - daß sie mich liebt! (S. 38)
Daß sie ihn liebt, führt zu einer Steigerung des Selbst: „Mich liebt! - Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so etwas - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!“ (S. 38) Und ihre Liebe intensiviert seine Weltwahrnehmung: „Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger“ (S. 40). Welt meint hier freilich nicht anderes als den Resonanzboden ihrer Liebe. Nicht allein ist alter für ego „alles“ oder „die Welt“, wie der Soziologe Günter Dux in Geschlecht und Gesellschaft annimmt,[20] auch die ganze Welt wird zum Medium der Liebe. Dank Lottes Liebe hatte Werther „ein Herz [...], eine ganze Welt liebevoll zu umfassen“ (S. 84). Seine rhetorische Frage – „Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe“ – bedarf wohl keiner Antwort (S. 39). „Liebe“, so können wir mit Luhmann verallgemeinern, „totalisiert. Sie macht alles relevant, was irgendwie mit der Geliebten zusammenhängt bis hin zur Bagatelle“ (S. 85), etwa dem Körperkontakt eines Kanarienvogels.[21]
Liebe als codierte Kommunikation besteht also in der Ausbildung eines Sonderhorizontes der Kommunikation, innerhalb dessen alles nur Relevanz für die Liebenden besitzt. Was Bezug auf den anderen hat, wird einbezogen, alles andere wird exkludiert. „Du und kein anderer“, heißt der Code der Intimkommunikation.[22] In einer „Welt“, in der „keiner leicht den andern versteht“ (S. 50), stabilisiert die Liebe die Illusion[23] einer Ebene sympathetischer Kommunikation: „sie weiß, wie ich sie liebe!“ (S. 80) „Sie fühlt, was ich dulde.“ (S. 87) Dritte werden aus diesem Einverständnis allein dadurch ausgeschlossen, weil sie nicht „verstehen“,[24] weil sie nicht ihr Erleben vom Erleben des anderen führen lassen, weil sie nicht jede laufende Kommunikation mit einem „für-ihn-Aspekt“ anreichern (S. 25). Werther wirft Albert vor, daß „sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei – o! – bei der Stelle eines lieben Buches, wo mein Herz und Lottens in einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt, daß unsere Empfindungen über eine Handlung eines Dritten laut werden.“ (S. 75) Andere, nicht einmal Albert, können an der höchstpersönlichen Kommunikation des Paares nicht teilnehmen.
Unter höchstpersönlicher Kommunikation wollen wir eine Kommunikation verstehen, mit der der Sprecher sich von allen anderen Individuen zu unterscheiden sucht. Das kann dadurch geschehen, daß er sich selbst zum Thema macht, also über sich selbst spricht; aber auch dadurch, daß er bei Sachthemen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht. (S. 24)
Werther hält es ausschließlich so. Wenn dies so ist, dann gilt auch für ihn folgende Regel: „Je individueller, idiosynkratischer, absonderlicher der eigene Standpunkt und die eigene Weltsicht, desto unwahrscheinlicher wird der Konsens und das Interesse bei anderen.“ (S. 24) Die Individualität eines Standpunktes erzeugt in den Arenen „unpersönlicher“ Kommunikation, die sich der Sachdimension verpflichtet glauben, keine Zustimmungsfähigkeit, sondern erweist sich als Produzent von Dissensen und Mißverständnissen. Dies kann man an Werthers Diskussionen mit Albert beobachten, dem er denn auch konsequenter Weise vorwirft, sich mit einem „Gemeinspruche“ zu begnügen, „wenn ich aus ganzem Herzen rede.“ (S. 47). In der Liebe findet dagegen die Person mehr Interesse als die Sache, die sie vertritt, und dies allein deshalb, weil sie ist, wie sie ist: individuell.[25] Individualität geht nun nicht auf in zurechenbaren persönlichen Eigenschaften, etwa „Schönheit und Tugend“, sondern meint den „Weltbezug des personalen Individuums“: die Weise, wie es die Welt sieht (S. 24). Wenn dies Beachtung findet, dann ist alter in egos Welt „immer schon untergebracht und damit unausweichlich vor die Alternative gestellt, den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen.“ (S. 25) Nicht das Thema der Kommunikation macht die Liebe aus; keinesfalls müssen alle Kommunikationen den Partner und die Liebe thematisieren. Liebe als Beobachtungspraktik oder Attributionsvorschrift zielt auf „Universalität“ im Sinne „einer laufenden Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen“, die entweder gegeben ist oder fehlt. Werther findet in diesem Sinne die Beachtung Lottes oder ist empört und verzweifelt, wenn sie zu fehlen scheint.[26] Informationen werden durch den Code der Liebe „dupliziert“ und auf die persönliche wie auf die anonyme Welt bezogen. Ist diese Duplizierung nicht mehr möglich, da die Kommunikationen einen Bezug auf die Nahwelt der Partner nicht mehr gestatten, findet keine Intimkommunikation mehr statt und die Liebe endet. Diese Erfahrung bleibt Werther erspart. Das Letzte, was er in Lottes Augen sieht, ist der „vollste Blick der Liebe“ (S. 115). So heißt es auch „nach Eilfe“ noch, kurz, bevor er sich erschießt: „O Lotte, was erinnert mich nicht an dich!“ (S. 122)
Als nun Albanus komme zu vollkommenlichen Jahren, ward er geliebet von allermänniglichen und aufgenommen für ein Herren und gekrönet zu Künig in Ungeren bei Leben und mit Willen des Vaters. [...] Der Künig von Ungern, durch Rat seiner Weisen und Edelen, schickt zu dem Kaiser und begehrt des Kaisers Tochter seinem Suhn Albano zu der Ehe. Der Tag der Ehe ward gesatzt und die Ehe vollbracht mit Wirden und Freuden.[35]
Trotz des – freilich selbst interessierten – Widerstandes der christlichen Kirchen[36] zeugt noch im 18. Jahrhundert die Literatur von arrangierten Eheschließungen im Interesse der Staatsraison, der Hauspolitik, des Aufstiegswillens der Familie, doch wird die Allianzehe in diesen Texten zum Problem. Erstmals wird die umsichtige Vormundschaft, die das Allianzdispositiv für die füreinander bestimmten Partner übernimmt, als Zwang erfahren, und zugleich kommen Alternativen in Sicht. Damit ist das Ende einer langen Epoche gekommen.[37]
In vormodernen, „agrarischen Gesellschaften“ sind „Zweckheiraten“ die Regel, konstatiert Dux mit Recht, doch könne daraus nicht – wie offenbar in der einschlägigen Literatur – gefolgert werden, „daß es unter solchen Bedingungen Liebe erst gar nicht habe geben können“,[38] vielmehr habe es „Liebe zwischen [den Geschlechtern] zu allen Zeiten der Geschichte gegeben“ (S. 155). Dies mag so sein, sicher ist, daß man in der Ägide des Allianzdispositivs nach Liebe und Erotik vor allem außerhalb der Ehe gesucht hat.[39] Die in der Mediävistik viel diskutierten Frage, ob und warum die „höfische Liebe sich hauptsächlich an verheiratete Frauen gerichtet habe“,[40] könnte man mit dem Hinweis auf die beschriebenen Modi der alteuropäischen Eheanbahnung und -führung zu beantworten suchen. Im Gegensatz dazu steht die Freiheit der Wahl bei der Beziehung des Mannes zu seiner Minneherrin im Vordergrund. Beide Seiten können auch anders wählen und Offerten ablehnen. Von dieser Freiheit des Subjekts kann bei der Eheschließung keine Rede sein. Die Liebe zur eigenen Ehegattin zu besingen, ist daher die Ausnahme geblieben,[41] die „These von der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe“ dagegen die Regel.[42] Zwei Argumente zur Begründung dieser Ansicht sind für uns von besonderem Interesse: (1) Die Eheleute seien nur aus Pflichterfüllung miteinander verbunden, während die Liebenden „einander freiwillig hingäben“.[43] (2) Die Sexualität in der Ehe konzentriert sich aus theologischen Gründen (S. 541) auf die Reproduktion: „Der ist ein Ehebrecher in seim Weibe, der sie zu hitziglichen lieb hat. [...] im dem eigen Weib ist große überflüssige Liebe schändlich“.[44] Und Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme, hat „große Herren“ sagen hören, es sei „strafbar“, wenn Ehemänner „mit ihren Frauen Mißbrauch“ trieben: „Anstatt sich in ihrem Bett mäßig mit ihren Frauen zu verhalten, wie sie müßten, huren sie damit wie Konkubinen; die Ehe ist aber nur um der Notwendigkeit und der Fortpflanzung willen eingeführt, nicht geiler und hurerischer Lüste wegen.“[45] Die Liebe kennt „die freiwillige Hingabe und den eigenen Willensentscheid über eine mögliche Weigerung“, die Wirklichkeit der Ehe jedoch nicht.[46] Die eheliche Liebe gilt als „Pflicht“, die höfische Liebe außerhalb der Ehe als „Gunst“,[47] zuweilen als „letzte Gunst“.[48] Denn in der „erzählenden Dichtung führte höfische Liebe fast immer zur körperlichen Vereinigung. Unerfüllte Liebe begegnete hier nur in Ausnahmefällen“, in der Lyrik dagegen häufiger.[49] Ob die hohe Minne nun zum Beischlaf führt oder nicht, ihren elaborierten Code kann man in jedem Fall als „ein Gegenprogramm zu der rücksichtslosen Sexualpraxis der Adelsgesellschaft interpretieren“,[50] die Frauen nicht liebt, sondern nimmt,[51] so wie es die Sänger der niederen Minne drastisch und obszön geschildert haben.[52] Die aus dem ehelichen Sexualleben ausgeschlossenen erotischen Vergnügungen[53] finden auch in der höfischen Liebe oder im Konkubinat ihren Ort,[54] Unterschiede bestehen hier primär in der Art der Kontaktanbahnung: durch Gewalt gegen Untergebene, durch Geld oder Gaben für Prostituierte oder durch „Dienst“.[55]
Diese Semantik trennt, was in der romantischen Liebe zusammengehören wird: Ehe, Liebe und Erotik.[56] Alle drei Bezirke der Intimkommunikation sind bis dahin in unterschiedliche Funktionskontexte eingebettet. Die Ehe dient als Medium der Allianz; die höfische Liebe ermöglicht, „sich im Zuge der zunehmenden Aristokratisierung der Schichtungsstruktur von der vulgären, gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse [zu] distanzieren“,[57] während sich zugleich der Mann außerhalb der höfischen Etikette und der von ihnen beförderten Selbstzwänge gehen lassen konnte, weshalb dort ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zwischen dem Begehren und seiner Erfüllung nicht sonderlich elaboriert sein mußte. Die Frau diene dem Mann „pour sa nécessité et délectation“,[58] so wird nah am Körper formuliert, und um etwaigen Widerstand zu brechen, reichen der höhere Stand und die größere Kraft vollkommen aus. Bedarf für ein auf Liebe spezialisiertes Kommunikationsmedium entsteht erst dann, wenn man mit der „Entscheidung der Frau“ zu rechnen und ihr Nein zu akzeptieren hat.[59]
Es scheint Frankreich gewesen zu sein, wo zuerst „für eine freiere gesellschaftliche Stellung der Frau und für ihre Möglichkeit zu eigener Entscheidung gesorgt“ wird (S. 59), genauer: für die Frau der Oberschicht. Erst die „Ausdifferenzierung von »doppelter Kontingenz« als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sicheinlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden, stimuliert die Entwicklung einer Spezialsemantik“ (S. 60). Sie war vorher nicht erforderlich, weil allgemein anerkannte Kriterien sowohl die Partnerwahl für die Eheschließung als auch für die Minne dirigierten: Stand und Vermögen oder Schönheit und Tugend. Die „Einbeziehung der Freiheit des anderen“ erschwert diese „Orientierung an den Eigenschaften des Partners“ (S. 62), denn wenn es nur auf physische und soziale Äußerlichkeiten ankäme, auf Rang und gutes Aussehen, dann gäbe es keine Freiheit. Die Liebe muß sich selbst motivieren, und ihr wird zugemutet, „gewisse, nicht allzu schwerwiegende Tugenddefekte und sogar Schönheitsdefekte zu überdauern“ (S. 63). Im Verlauf der Entwicklung von Liebe als Kommunikationsmedium läßt sich beobachten, wie „schließlich alle objektiven, generalisierten Indikatoren für Liebe im Sinne von Verdienst, Schönheit, Tugend abgeworfen werden und das Prinzip, das das Unwahrscheinliche ermöglichen soll, mehr und mehr personalisiert wird“ (S. 28), bis man dann im 18. Jahrhundert behaupten kann, die Einzigartigkeit des anderen sei das einzige Motiv der Liebe. Die romantische Liebe „richtet sich auf ein Ich und ein Du, sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche Beziehung sich wechselseitig ermöglichen – und nicht, weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.“ (S. 175). Erst dann kann man von Höchstpersönlichkeit der Liebe in dem Sinne sprechen, daß sie dem anderen ermöglicht, „etwas zu geben dadurch, daß er so ist, wie er ist.“ (S. 30)
Während
Heiraten arrangiert werden, bleibt die Herstellung von Liebesbeziehungen
den Beteiligten selbst überlassen. „Man kann hier nicht genug betonen,
daß die hier gemeinte Freiheit der Liebeswahl verheiratete Personen
und außereheliche Beziehungen betrifft.“ (S. 60) Die Verhandlungen,
die man aufnimmt, zielen also nicht auf eine eheliche Bindung, womit alle
Argumente wegfallen, die man für diesen Stand anführen könnte.
Eine außereheliche Beziehung ist weder gottgefällig, noch dient
sie der Zeugung legitimer Nachkommenschaft, sie ist nicht auf lebenslange
Dauer ausgelegt, sie macht die Frau nicht zur Herrin über ein Haus,
noch wird dem Mann das ‚Geschenk’ der Jungfräulichkeit zuteil.[60]
Es muß also Mechanismen außerhalb des Allianzdispositivs geben,
um Kontaktanbahnungen dennoch gelingen zu lassen. Zwei Kommunikationstechniken,
die gleichermaßen die Aufnahme intimer Kommunikation ermutigen und
ihr etwaiges Scheitern abfedern, entwickeln sich in der frühen Neuzeit
und stehen dank des Buchdrucks im 17. Jahrhundert allgemein zur Verfügung:
Liebe als Passion und Galanterie.
Bei
„dem Liebesgefühl“, erinnert sich Montaigne, „ging es mir nun so:
ich fühlte, wie es entstand, wuchs, und, trotz meines Widerstandes,
immer stärker wurde, und wie es schließlich – ich sah und erlebte
es ganz deutlich – mich ergriff und in seine Gewalt bekam“.[61]
Die Liebe wird hier erlebt wie eine Krankheit, für die man nicht selbst
verantwortlich zeichnet. Das „brennende Verlangen“, das ihn beherrscht,
rechnet sich Montaigne nicht selbst zu, sondern einer fremden Macht, die
„mich beherrschte“ (S. 236). Allerdings versucht er, sich wieder „in meine
Hand [zu] bekommen“ (S. 358). Eine andere Möglichkeit, mit dieser
Art des Erlebens der Liebe umzugehen, ist es, die Verantwortung für
die Passion der Frau zuzurechnen, die man begehrt. „Passion drückt
aus, daß man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür
man keine Rechenschaft einklagen kann.“[62]
Ähnliches leisten ältere Metaphern wie Liebe als Wahnsinn, als
Krankheit, als Versklavung, als Wunder etc. Passion wird dann zum Programm
intimer Kommunikation, wenn sie nicht mehr das passive Leiden eines Einzelnen
meint, der wie Montaigne tapfer gegen seine Krankheit ankämpft, sondern
Kontaktanbahnungen ermöglicht. Der Vicomte de Valmont begehrt die
selbstredend verheiratete Präsidentin de Trouvel und gedenkt sie zu
verführen und schließlich zu verderben. Da die Kontaktanbahnung
mit ihr diese Motive nicht offen legen darf, schreibt er an sie: „Ihre
umfassende Gewalt über mich macht Sie zur uneingeschränkten Herrin
meiner Gefühle; und wenn nur meine Liebe Ihnen widersteht, wenn Sie
sie nicht zerstören können, kommt es daher, daß sie Ihr
Werk ist und nicht meines.“[63]
Obwohl Valmont die Verführung generalstabsmäßig plant und
„nichts dem Zufall“ (S. 36) überlassen will, versteht er es, in der
Interaktion wie im Briefwechsel mit Madame de Trouvel ihr die Verantwortung
für sein Handeln zuzuweisen. Die Liebe, auf die Valmont immer wieder
zu sprechen kommt, obwohl es die Schicklichkeit, der Stand seiner Geliebten
und sie selbst nicht erlauben (S. 148), sei ihm von ihr eingeflößt
und eben deshalb unwiderstehlich. Dank dieser Umattribution kann Valmont
Frau von Trouvel sogar Vorwürfe machen. „Um die Größe meiner
Schmerzen zu fassen, müßten sie wissen, bis zu welchem Grade
ich Sie liebe; und Sie kennen mein Herz nicht.“ (S. 152) Valmonts Semantik
der Passion delegiert die Verantwortung für sein Wohlergehen und sein
Verhalten an die Geliebte: „Meine Liebe erschreckt Sie, Sie finden sie
gewaltsam, fessellos! Mäßigen Sie sie mit sanfterer Liebe. Schlagen
Sie die Herrschaft nicht aus, die ich Ihnen antrage“ (S. 234). Auf alle
Bitten, seine Avancen zu unterlassen, antwortet Valmont nur mit der erneuten
Versicherung, er sei gegen die Liebe, die sie in ihm erzeugt habe, machtlos.
So wird „Aktivität als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt“.
Mit dem Verweis auf Passion gewinnt man eine „Handlungsfreiheit, die weder
als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht.“[64]
Valmont völlig zu ignorieren, wirkt auf Dritte grausam, Frau von Rosemonde
scheint seine Melancholie auf die Abreise der Präsidentin zurückzuführen
(S. 331), welche sich denn auch prompt verantwortlich fühlt (S. 338f).
Man beutet, so Luhmann, „die Semantik der Passivität rhetorisch aus,
um die Frau zur Erfüllung anzuhalten: Schließlich hat ihre Schönheit“
– oder Tugend – „die Liebe verursacht, und der Mann leidet unschuldig,
wenn nicht abgeholfen wird.“[65]
Als Valmont Madame de Trouvel überzeugend vorspielt, er würde
sterben, da er fern von ihr nicht leben könne, vermag sie sein Leid
nicht länger zu verantworten und gibt ihren Widerstand auf (S. 369f).
Valmonts sorgfältiger Plan ist aufgegangen, und der Leser seiner Briefe
kommt nicht umhin zu bemerken, daß seine Passion ein Kommunikationscode
ist, kein Gefühl.[66]
Wer Romane liest, kann beobachten, daß das symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedium Liebe „relativ unabhängig davon gehandhabt“ wird,
ob ein „Sachverhalt“ wie Liebe aus der Sicht der „Beteiligten“ überhaupt
besteht. Es reicht der „Liebe“ durchaus, daß man sich „so verhält,
als sei [man] verliebt“.[67]
Das Medium funktioniert auf der Ebene beobachtbarer Kommunikationen ? auf
der „Ebene der faktisch lokalisierten Qualitäten, Gefühle, Ursächlichkeiten“
läßt es sich nicht erfassen. Dies sieht man seit dem 17. Jahrhundert
daran, daß das Liebesmedium und sein Code „als Orientierung und als
Wissen“ verfügbar sind als „generalisierte Suchmuster“, noch „bevor
man den Partner findet“.[68]
Gerade Romane tragen ihren Teil dazu bei, Novizen anzulernen. Und gerade
in der Literatur läßt sich beobachten, daß das „Kommunikationsmedium
Liebe seine Referenz nicht im psychischen, sondern im sozialen System“
hat (S. 76). Nur die fiktive Literatur zeigt nicht nur den Verlauf der
Kommunikation, sondern gewährt auch einen Einblick in die gleichzeitige
authentische psychische Disposition des Helden. So wird das Publikum trainiert,
zwischen Bewußtsein und Kommunikation Diskrepanzen zu vermuten und
darauf zu warten, daß „Unterschiede“ zwischen „Reden“ und „Handeln“
offenbaren,[69]
ob man mit dieser Vermutung richtig liegt. Als die Akteure der Liaisons
dangereuses den Kenntnisstand der Leser erreichen,[70]
weil auch sie endlich den gesamten Briefwechsel lesen können, fallen
alle in der Kommunikation gepflegten Zurechnungen auf Gefühle und
Motive in sich zusammen. Zu den Folgen gehören Duell, Emigration,
Flucht, totaler Achtungsentzug, Einweisung ins Kloster, Krankheit und Tod.[71]
Zugleich mit dieser katastrophalen Enttäuschung wird nicht allein
der Brief, sondern die Kommunikation schlechthin, inklusive Körpersprache
und Interaktion, als „Medium der Täuschung und Verstellung“ vorgeführt.[72]
Aufrichtige und unaufrichtige Kommunikation zu unterscheiden, wird zu einem
zentralen Problem der Liebessemantik,[73]
das sich nochmals mit der „Einsicht der Inkommunikabilität der Icherfahrung,
des authentischen Selbstseins“ verschärft.[74]
Über die authentischen Beweggründe des Vicomte läßt
sich auch nach der Lektüre aller Briefe nur spekulieren, es liegt
nahe anzunehmen, auch ihm selbst seien sie keinesfalls transparent. Die
Differenz von aufrichtig / unaufrichtig, deren souveräne Handhabung
der Vicomte und die Marquise vorführen, wird hier schon tendenziell
abgelöst von der Differenz bewußt / unbewußt, deren Karriere
gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt. Entsprechend verliert um 1800
die privatpolitische Beobachtungskunst, die das Differenzieren simulierter
und wahrhaftiger Kommunikation gelehrt hat, ihre Bedeutung an die Psychologie.
Der
48. Brief der Sammlung erfreut sich besonderer Berühmtheit. Der Liebesbrief
des Vicomte an die Präsidentin de Tourvel ist durchgängig zweifach
codiert. Geschrieben auf dem nackten Rücken der Prostituierten Emilie,
scheint er Frau von Trouvel den Hof zu machen und gibt zugleich über
„meine Lage und meine Aufführung genauen Bericht“ (S. 130). „Indes
ich schreibe“, heißt es da, „lehrt mich mehr als je die unwiderstehliche
Macht der Liebe kennen. Es kostet mich Mühe, genügend Selbstbeherrschung
zu bewahren [...]. Vergebens überhäufen Sie mich mit Ihrer trostlosen
Strenge; sie hält mich nicht ab, mich ganz der Liebe hinzugeben...
Die Unterlage sogar, auf der ich Ihnen schreibe und die zum ersten Mal
dieser Bestimmung geweiht ist, wird für mich zum heiligen Altar der
Liebe.“ (S. 131f) Dieser Brief hat drei Adressaten und Funktionen: er amüsiert
Emilie, gibt der Marquise ein erneutes Zeugnis der Meisterschaft des Vicomte
und treibt die Eroberung von Madame de Trouvel voran. Die Briefe der Liaisons,
zumal zwischen dem Vicomte und der Marquise, sind voller Beispiele für
die mehrfache Codierung von Kommunikationen und Interaktionen. Nicht von
der „konventionellen Bedeutung“ der „Worte“ (S. 285), sondern von der Perspektive
des Beobachters hängt es ab, wie ein Brief, ein Gespräch, ein
Blick, ein Laut, ja selbst das Schweigen zu deuten ist. Die Marquise dokumentiert
ausführlich den taktische Einsatz von „doppelsinnigen Gesprächen“,
der „Sprechweise“ der „Augen“ und der gesamten eloquentia corporis im Dienste
einer Kontaktanbahnung in Anwesenheit Dritter (S. 242ff). Die Semantik
dieser Kommunikationstechnik läuft im 17. und 18. Jahrhundert unter
der Flagge der Galanterie.[75]
Galanterie
leistet in der Interaktion unter Anwesenden wie in der schriftlichen, immer
von Indiskretionen bedrohten Kommunikation zweierlei: Sie gefällt
auf eine Art, die „weder in der bibel, noch sonst verboten“ ist. Sie „ist
nichts anderes, als eine Schertzhaffte und dabey kluge artigkeit“, die
uns die Zeit in Gesellschaft oder bei der Lektüre angenehm vertreiben
hilft.[76]
Die Galanterie ist ein Interaktionsideal, dessen souveräne Befolgung
die Akteure angenehm und gefällig erscheinen läßt und ihr
Reüssieren – unabhängig vom Ziel – unterstützt.[77]
Sie zwingt uns geradezu, „gleichsam wider Willen [...] einem Menschen günstig
und gewogen zu seyn“.[78]
Richardsons Libertin Lovelace und De Laclos’ Valmont verdanken ihre Beliebtheit
in der weiblichen Welt zu einem guten Teil dieser Fähigkeit. Der Reiz
ihrer Interaktion besteht genau in der beschriebenen Doppelcodierung, deren
Verstehen aber von den züchtig scheinenden Frauen jederzeit geleugnet
werden kann. Die Galanterie, so erläutert Benjamin Neukirch in seiner
Anweisung aus dem Jahre 1721, läßt sich daher „öffentlich
und ohne scheu“ äußern, weil alles gleichsam nur „schertzend“
vorgebracht wird.[79]
So kann die Kontaktanbahnung „enttäuschungssicher praktiziert werden“,[80]
weil die Galanterie auch dann ihre Funktion erfüllt, wenn sie als
Werbung um einen Intimpartner scheitert. Sie gefällt, wenn auch nicht
mehr als das, und man kann behaupten, nie mehr intendiert zu haben. So
können in der Öffentlichkeit Offerten gemacht werden, ohne daß
dabei ein Gesichtsverlust riskiert würde. Dies ermutigt die Aufnahme
von intimer Kommunikation – und insofern kann man in der Galanterie einen
evolutionären Mechanismus sehen. Freilich hängt die besagte „Enttäuschungssicherheit“
davon ab, wie lange man bei der galanten Kommunikation offen läßt,
ob denn nun zur „Intimität“ oder zur „Geselligkeit“ hin nach Anschlußfähigkeit
gesucht wird (S. 97). Die Marquise de Merteuil nutzt die Ambivalenzen dieses
Programms souverän, wenn sie Herrn Prévan zu verstehen zu geben
scheint, daß sie seine Galanterie verstehe, um ihn, als er tatsächlich
in ihrem Schlafzimmer auftaucht, von ihren Bedienten durchprügeln
zu lassen.[81]
Da sie ihn nur in Begleitung getroffen hat und niemals unter den Augen
Dritter „Klartext“ in der Sache gesprochen wurde, geht alle Welt davon
aus, daß er gegen ihr Einverständnis in ihr Boudoir eingedrungen
sein muß (S. 251). Er wird künftig mißtrauischer sein,
und wohl auch die Leser dieser Briefe. Es ist möglich, daß die
Publikation solcher histoires
galantes das Programm
unter Verdacht setzt, jedenfalls wird sie dazu beigetragen haben, daß
schließlich das Konzept der Unschuld das der Galanterie verdrängt.[82]
Der Roman, so ließe sich nun folgern, reflektiert nicht nur die Intimsemantik
seiner Zeit,[83]
sondern setzt sie zugleich unter Änderungsdruck. Mit „Formeln“, die
man „im ersten besten Roman vom Tage“ finden kann, wird man jedenfalls
keinen Erfolg haben.[84]
Die von der Literatur in eine „tradierbare Form“ gebrachte Intimsemantik
gibt also gerade mit ihren zeitgemäßen „Darstellungen der Liebe“
ihren Lesern keine Informationen über die auf diese selbst zukommenden
„Realsachverhalte des Liebens“,[85]
denn die „Sitten in den Romanen“ werden nicht von allen studiert, um sie
nachzuahmen, sondern von manchen auch nur, um zu wissen, was erwartet wird.[86]
Wer diese Erwartungen nur bedient, kann dann vorgeführt werden wie
Monsieur Prévan. Den „geregelten Gang“ seiner Kontaktanbahnung hat
die Marquise „so leicht erraten! Ankunft, Ton, Rede: ich wußte alles
das schon tags zuvor.“ (S. 244) Wer sich an Büchern orientiert und
aus ihnen „lehr-sätze“ destilliert, wie dies im 17. Jahrhundert noch
üblich gewesen zu sein scheint,[87]
wird damit im 18. kaum reüssieren. Man „kann alles galant ausdrucken“,
aber man muß sich dazu „etwas neues“ einfallen lassen.[88]
Mit
der Forderung nach Originalität und Überraschung, der Liebe als
Passion und dem galanten art
de plaire stehen
gleichsam im Winter Alteuropas semantische Entwicklungen bereit, an die
die moderne Liebessemantik anschließen kann. Die durch die Verbreitung
des Buchdrucks immer forcierter auftretende Nötigung, es in der Galanterie
– genau wie in der Literatur – mit dem Neuen zu versuchen, macht die Bahn
frei für eine auf Individualität gestützte Semantik. Die
Formeln der Passion stellen den Liebenden nicht hinterfragbare Begründungen
dafür zur Verfügung, daß sie gerade die Person lieben,
die sie lieben, gehörte sie auch einem anderen Stand an. So steht
ein „Diskurs“ zur Verfügung, der die Distanzierung von „gesellschaftlichen
Erwartungen“ erlaubt, wenn nicht dazu einlädt.[89]
Man beginnt damit, Hindernisse als Mechanismen der „Bewußtwerdung
und Steigerung der Passion“ anzusehen.[90]
Die Überwindung ständischer Differenzen kann so als Liebesbeweis
gewertet werden, und die Topoi der Passion sorgen dafür, daß
Herablassung oder Anmaßung toleriert werden. „Wenn ein Mann und eine
Frau eine heftige Leidenschaft füreinander haben“, bemerkt Nicolas-Sébastien
Roch de Chamfort, „so glaube ich immer, daß sie von Natur zusammengehören,
daß sie trotz aller Hindernisse wie Gatten, Eltern und so weiter
aus göttlichem Recht besitzen, allen Satzungen und menschlichen Übereinkommen
zum Trotz.“[91]
Auch der art
de plaire läßt
derart sich für die Überwindung von Standesdifferenzen nutzen,
freilich nicht als Sozialtechnik für Privatpolitiker, nicht als „Gefallsucht“.[92]
Für sie gilt der Spruch des Marquis de Vauvenarques: „Die Kunst zu
gefallen ist die Kunst zu täuschen“.[93]
Als anschlußfähig für die moderne Intimsemantik erweist
sich nicht das plaisir, das man mit klugem Situationsbewußtsein und
rhetorischem Einsatz anderen bereitet, um die eigenen Interessen zu verfolgen,[94]
sondern die Selbstbeobachtung, Lust zu empfinden. Diese evidente Empfindung
kann dem Subjekt von niemandem bestritten werden.[95]
Es gibt daher keinen Unterschied zwischen richtigem oder falschem plaisir,[96]
wie es Kriterien zur Auswahl des Partners im Allianzdispositiv und im Paradigma
der galanten Intimkommunikation gibt. Empfindung verleitet also zu einer
Kommunikation, die sich zur Stratifizierung indifferent verhält.[97]
Der Vicomte de Valmont macht diese Erfahrung zum ersten Mal ausgerechnet
im Umgang mit weit unter ihm rangierenden Bauern, die er vor dem Steuereintreiber
rettet und die sich rührend bei ihm bedanken. „Ich will meine Schwäche
gestehen“, schreibt er der Marquise de Merteuil, „meine Augen sind feucht
geworden von Tränen, und ich habe eine unfreiwillige, doch köstliche
Rührung gespürt.“ (S. 66) Valmonts Wertschätzung für
„Gefühlswahrheit“ wird ihm freilich von der Marquise ausgetrieben
(S. 91), zumindest bestreitet er in der Kommunikation den Wert dieser Erfahrungen,
und der Vicomte arbeitet weiter für seinen „Ruf“: für die „Ehre“,
als einer der raffiniertesten Verführer der Zeit zu gelten (S. 30-33).
Den Unterschied zwischen der Liebe, die ihm Frau von Trouvel entgegenbringt,
und derjenigen anderer Frauen, bemerkt er zwar sehr deutlich, versucht
aber die Einzigartigkeit dieser Liebe in eine Liaison von vielen zurück
zu verwandeln (S. 392). Entgegen der Evidenz seines Gefühls, auf das
ihn die Marquise mehrmals hinweist (S. 395), orientiert der Vicomte seine
Entscheidungen schließlich an der Achtung oder Mißachtung durch
andere und bringt dem ‚guten’ Ruf seine Liebe zum Opfer (S. 420). Er handelt
und stirbt sozusagen als ‚Ehrenmann’, als jemand, dem soziale Distinktion
über alles geht, selbst über sein Leben.[98]
Man
hat inzwischen gelernt, scharf zu unterscheiden zwischen der „Ehre“, die
der „Sorge“ verpflichtet ist, wie die „Welt“ über die eigenen Handlungen
denkt,[99]
und einer Moral, deren Handlungsmaximen sich allein an der „Idee der Pflicht“
und den „sittlichen Gesetzen“ orientieren.[100]
Die Differenzierung von „Ehre“ und „Tugend“ folgt den Unterscheidungen
von innen und außen, Bewußtsein und Kommunikation, Gewissen
und Ansehen oder auch Gefühl und Ruf. Die Galanterie rangiert hier
ganz auf der Außenseite der Unterscheidung. Sie entsteht als Interaktionstechnik
zur Verfolgung persönlicher Interessen bei öffentlichen Anlässen
und unterwirft sich vollkommen dem Komment. In Deutschland wird die Galanterie
anhand von Kategorien wie Dekorum, Scharfsinnigkeit, Discretion,
Höflichkeit oder Geschmack diskutiert, die allesamt in das alteuropäische
Schema stratifizierter Kommunikation eingebunden sind. Es verwundert daher
nicht, daß man sich auch an die Ausarbeitung der Galanterie zu einem
Regelwerk gemacht hat. Dagegen ist die Systemreferenz der „Gefühlswahrheit“
nicht die Gesellschaft und ihre Interaktionsvorschriften, sondern das eigene
psychophysische Selbst. Den gleichen Wechsel vollzieht um 1700 die Kunstkommunikation:
An die Stelle von Regelcodizes und „metaphysischer Vorgaben für das
Kunstwerk trat die Reaktion des Einzelnen, der sinnliche Eindruck, die
Wirkung.“[101]
In der Empfindung des Subjekts, genauer: in dieser Semantik der Empfindung
schafft sich das 18. Jahrhundert einen archimedischen Punkt, von dem aus
es die stratifizierte Gesellschaft Alteuropas aus den Angeln heben kann.
Zwar werden die alten Formrepertoires und Rezeptsammlungen zunächst
noch weiter tradiert, in der Liebe wie in der Literatur, aber ihre Relevanz
wird zunehmend akademisch. Die am Beginn des 18. Jahrhunderts reichlich
sprießende gelehrte Ratgeberliteratur, die noch einmal versucht,
das überkommene Wissen in Regeln zu fassen, verfehlt den aktuellen
Stand der Kunst- und Intimkommunikation, die gleichermaßen auf Individualität
und Innovation aufbauen. Wer „Rezepten und Regeln“ folgt,[102]
macht Eindruck als Pedant, aber nicht als Künstler oder Liebhaber.
Der Roman des 18. Jahrhunderts macht sich zum Kronzeugen dieser semantischen
Transformation.
Wer
bemerkt, was er empfindet, kann zwar seine Interaktion nach wie vor an
den Anforderungen der Oberschichten ausrichten, wie Valmont es tut, aber
er weiß – oder fühlt – es besser. Wer den Grund für das
eigene Vergnügen exklusiv dem Erleben des anderen zurechnet, der liebt,
mag er es auch leugnen. Mr B. dagegen spricht es aus, „I find it in vain,
my Pamela, to struggle against my affection for you“,[103]
und heiratet dann weit unter seinem Stand. Denn das Erleben des anderen
(S. 305) ist ihm nun wichtiger geworden als Achtung oder Mißachtung
seiner Standesgenossen, speziell seiner Familie (S. 438). Mit dieser Abkehr
von der stratifikatorischen Codierung der Liebe findet sich auch ein Ersatz
für die Formeln und Komplimente der Galanterie: die Sprache der Herzen. „My
charmer!“ ruft Mr B., „your heart speaks at your eyes in a language that
words indeed cannot utter.“ (S.
391) Die ‚natürliche’ „eloquentia cordis“ setzt sich gegen die „rhetorisch
disziplinierte, verstellte eloquentia corporis“ durch.[104]
Den rhetorisch inspirierten Interaktionslehren wird eine unkünstliche
„Sprache des Herzens“ entgegengesetzt.[105]
Wer diese neue Sprache versteht, gewinnt ein radikal subjektives Kriterium
für eine Liebe, die soweit geht, das Stubenmädchen der eigenen
Mutter zu heiraten. So bereitet der art
de plaire der Liebe
das Ehebett.
Luhmann
hat am plaisir die „Unbestreitbarkeit“ betont sowie seine weitgehende Indifferenz
gegen soziale Kontexte.[106]
Man empfindet, was man empfindet, auch wenn es unangemessen, unstandesgemäß
oder unklug wäre, der Empfindung gemäß zu handeln. Wo alle
Privatpolitik und Klugheitslehre zur Dissimulation, zur Verstellung raten
würde, folgt die auf die Evidenz des eigenen Empfindens gestützte
Intimkommunikation mit der gleichen Rigorosität ihrer eigenen Logik
– so wie es Kant vom moralischen
Handeln fordert.[107]
Diese neue Eigenlogik des Liebens treibt willfährige Töchter
in den erbittertsten Widerstand gegen ihre Eltern und dünkelhafte
Adelssprößlinge zur Überwindung von Stolz und Vorurteil.
In der „kriterienlosen Selbstreferenz“ der eigenen Empfindungen findet
das Subjekt einen gegen äußere Einflußnahmen resistenten
Ausgangspunkt für seine Liebe, und wenn ego damit beginnt, das Erleben
dieses Gefühls exklusiv alter zuzurechnen, dann haben wir es mit moderner,
gegen externe, zumal ständische Ansprüche differenzierter Intimkommunikation
zu tun, die auf ihre Orientierung an „Anhaltspunkten“ wie „Ehre, Geld,
Macht oder physiognomischen Signifikanzen“ verzichtet.[108]
Die Geschichte dieser Konfrontation alteuropäischer und moderner Intimkommunikation
erzählt der moderne Roman. Warum gerade der Roman und nicht eine andere
Gattung, ist eine der zentralen Fragen, auf welche diese Untersuchung eine
Antwort zu geben sucht.
Was
für ein „Unglück“, entsetzt sich am Ende aller Affären Frau
von Volange, zeitigt „ein einziges gefährliches Verhältnis“.[109]
Über Möglichkeiten, solche Entwicklungen zu vermeiden, hatte
sie bereits nachgedacht – freilich ohne daraus Konsequenzen zu ziehen.
Formuliert wird eine Kritik der Allianzen und zumindest implizit ein Übergang
zur Liebesehe: „Diese Ehe, die man ausrechnet, anstatt sie passend zusammenzustellen,
die man Konvenienzehen nennt und denen tatsächlich alles konveniert
außer den Neigungen und Charakteren – sind sie nicht die ergiebigste
Quelle der Skandalausbrüche, die alle Tage häufiger werden?“
(S. 282) Es sei wohl besser, die geplante Verbindung mit Gervourt aufzugeben
und dem verliebten Danceney zu gestatten, seine Cécile de Volange
zu heiraten. Die Marquise de Merteuil sorgt eigens dafür, daß
es dazu nicht kommt. Die Skrupel der Mutter Céciles, ihre Tochter
einem völlig unbekannten, älteren Mann zu verheiraten, sind in
der Literatur des 18. Jahrhunderts längst zum Topos geworden. Rousseaus
Erziehungsroman Emil betont die ‚Unnatürlichkeit’ der Konvenienzehe,
die das Unglück des Paares fast zwangsläufig nach sich ziehe.
Emils Erzieher rät:
Wollt ihr diesem Uebelstand abhelfen und dazu beitragen, daß die Ehen glücklich werden, so erstickt die Vorurteile, vergeßt die menschlichen Einrichtungen und fragt die Natur um Rat. Vereinigt nicht Leute, die nur in bezug auf Rang und Stellung zueinander passen, die aber in keiner Hinsicht mehr zueinander passen, sobald ihre gesellschaftliche Stellung eine Aenderung erleidet. Verbindet vielmehr solche Personen miteinander, die sich in jeglicher Lebenslage, in jedem Lande, in welchem sie ihren Wohnsitz aufschlagen mögen, in jeder gesellschaftlichen Stellung, in die sie eintreten mögen, in gegenseitiger Liebe zueinander hingezogen fühlen.[110]
Die von Galanterie, Passion und ihrer Anthropologie immer wieder beschworenen Gefahren der „Unbeständigkeit der Männer“ und des Erkaltens der Liebe in der Ehe[111] gedenkt Rousseau mit der Einführung der doppelten Kontingenz in die Liebesehe zu begegnen. „Vergeßt nicht“, so mahnt er Sophie und Emil, „daß ihr beide frei seid und daß es sich hier nicht um eheliche Pflichten handelt.“ (S. 527) Die Sexualität wird nicht unter dem Titel „Pflicht“ in die Ehe einbezogen, sondern als gemeinsame Befriedigung eines Verlangens beider Partner, also als Erotik.
Bleibt beide Herr über eure Person und Eure Liebesbeweise und gewährt sie dem anderen nur aus freiem Willen. Erinnert euch immer daran, daß selbst in der Ehe die Lust nur dann rechtens ist, wenn das Verlangen geteilt ist. (S. 527)
Die Freiheit zum Nein, die Voraussetzung für die höfische, aber auch die galante und passionierte Intimkommunikation, und die „Lust“ werden so in die Ehe integriert. Für eine glückliche Ehe, so lautet die prägnante Kurzformel des Mentors, müsse man „weiterhin Liebhaber bleiben, auch wenn man Ehegatte ist.“ (S. 526) Man könnte hierin den Versuch sehen, die Phase der Kontaktanbahnung auf Dauer zu stellen. Die alte Überzeugung, die Ehe lasse gerade aufgrund ihres lebenslangen Zeithorizontes keine Liebe zu, kann zurückgelassen werden, indem man den anderen alten Grundsatz aufgreift, daß der Anspruch auf Erfüllung das Ende der Liebe bedeutet.[112] Im 17. Jahrhundert hieß es, „mit der Ehe beginnt die Freiheit“ – zur außerehelichen Liebe nämlich.[113] Diese Freiheit wird im 18. Jahrhundert in die Ehe hineingeholt. Die Voraussetzung dafür ist die Freigabe der Partnerwahl. Es wird nun zur „Pflicht des Staates“ erhoben, dafür Sorge zu tragen, daß die Frau „nicht gezwungen werde, sich einem Manne zu ergeben, außer aus Liebe“.[114] Nur wenn „freie Einwilligung der Personen“ in die „Ehe“ der „objektive Ausgangspunkt“ dazu ist, nunmehr „eine Person auszumachen“,[115] ist sie mehr als ein Vertragsverhältnis zu wechselseitigem Nutzen (§ 163, S. 313), nämlich das exklusive Medium, in dem die eine Person sich „im anderen ihrer selbst bewußt wird“ (§ 167, S. 320). Die „Liebe“ erhält hier „die Gestalt der Ehe“ (S. 317); und die Liebe, von der Hegel nicht spricht, die er aber beschreibt, ist die romantische Liebe. – Die romantische Liebe wird von der Soziologie – im Rückgriff auf die Romanliteratur des 18. Jahrhunderts – als ein integratives Konzept bestimmt, das die bislang semantisch und funktional distinkten Elemente „sexuelle Leidenschaft“ und „affektive Zuneigung“, „Liebe und Ehe“, „Freundschaft“ und „Elternschaft“ miteinander verbindet und neu ausrichtet.[116] Der vielleicht auffälligste semantische Unterschied zum Allianzdispositiv ist sicherlich die Forderung, allein die Liebe als „Prinzip der Wahl des Ehepartners“ zuzulassen und als Motiv für eine Ablehnung der Verbindung nur die Gewißheit, „sich nicht lieben zu können“.[117] Die soziologischen Konsequenzen des Paradigmas der „Liebesheirat“ sind vielleicht unauffälliger, aber wirkungsmächtiger. Hegel hat sie so beschrieben:
Durch eine Ehe konstituiert sich eine neue Familie, welche ein für sich Selbständiges gegen die Stämme oder Häuser ist; die Verbindung mit solchen hat die natürliche Blutsverwandtschaft zur Grundlage, die neue Familie aber die sittliche Liebe.[118]
Die Kinder dieser Ehe sind „an sich Freie“ (§ 175, S. 327), die mit dem Erreichen ihrer „Volljährigkeit“ aus dem Familienverband ausscheiden, um eine „eigene Familie zu stiften“ (§ 177, S. 330). Die Herkunftsfamilie, so betont Hegel nochmals, hat dann als „das Abstraktum des Stammes keine Rechte“ mehr (§ 178, S. 330). Was Foucault als Räson des Allianzdispositivs bestimmt hat, nämlich die Bedeutung des „Blutes, d.h. des Alters der Aszendenzen und des Wertes der Allianzen“,[119] wird von Hegel nur zitiert, um ihre Bedeutungslosigkeit zu hervorzuheben. Die Rechtsphilosophie Hegels bleibt allerdings in einem für uns wichtigen Punkt altmodisch: in der Frage der Kontaktanbahnung. Der einschlägige Paragraph 162 lautet:
Wie der äußerliche Ausgangspunkt beschaffen ist, ist seiner Natur nach zufällig und hängt insbesondere von der Bildung der Reflexion ab. Die Extreme hierin sind das eine, daß die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang macht und in den zur Vereinigung der Liebe füreinander bestimmt werdenden Personen hieraus, daß sie sich, als hierzu bestimmt, bekannt werden, die Neigung entsteht, - das andere, daß die Neigung in den Personen, als in diesen unendlich partikularisierten, zuerst erscheint. - Jenes Extrem oder überhaupt der Weg, worin der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht und die Neigung zur Folge hat, so daß bei der wirklichen Verheiratung nun beides vereinigt ist, kann selbst als der sittlichere Weg angesehen werden. - [...] In den modernen Dramen und anderen Kunstdarstellungen aber, wo die Geschlechterliebe das Grundinteresse ausmacht, wird das Element von durchdringender Frostigkeit, das darin angetroffen wird, in die Hitze der dargestellten Leidenschaft durch die damit verknüpfte gänzliche Zufälligkeit, dadurch nämlich gebracht, daß das ganze Interesse als nur auf diesen beruhend vorgestellt wird, was wohl für diese von unendlicher Wichtigkeit sein kann, aber es an sich nicht ist. (§ 162, S. 311)
Hegel nennt zwei „extreme“ Möglichkeiten der Zusammenführung zweier Personen zu einem Paar. Die erste ist: Dritte bestimmen das Paar für die Ehe und gehen davon aus, daß der „Verehelichung“ schon die „Neigung“ folgen werde. Die zweite Möglichkeit kehrt die Reihenfolge um: das Paar verliebt sich und entschließt sich dann zu heiraten. Luhmann hat in seinem Kommentar dieser Passage angemerkt, daß hier „noch einmal das Prinzip der alten Ehe“ zur Geltung komme: „die Annahme, daß der Eheschließung Zuneigung und Liebe, normalerweise wenigstens, schon folgen werde“.[120] Gemeint ist jene Maxime, die man noch Clarissa anempfohlen hat: „Marry first and love will come after“.[121] Genau wie Madame de Volange sieht Clarissa in der Durchsetzung der Ehen durch Dritte mit der Hilfe dieses Topos den Hauptgrund dafür, daß “there are so few happy marriages” (S. 201). Für Hegel dagegen ist die Reihenfolge gleichgültig. Ob nun die „besondere Neigung“ oder die „Vorsorge und Veranstaltung der Eltern“ zum „subjektiven Ausgangspunkt der Ehe“ geworden ist, entscheidend ist für ihn allein die „freie Einwilligung“ als „objektiver Ausgangspunkt“ der Ehe (§ 162, S. 310). Die Unterscheidung zwischen der Kontaktanbahnung durch die künftigen Ehepartner selbst und ihrer Bestimmung durch Dritte ist für Hegel zweitrangig, in der Literatur ist sie dagegen entscheidend. Denn der Roman führt die verschiedenen Temporalverhältnisse der Eheanbahnung – erst Liebe, dann Heirat / erst Ehe, dann Neigung – zurück auf unterschiedliche Gesellschaftsordnungen und Mentalitäten, auf moderne bzw. altständische. Die Liebesheirat profiliert sich als modern gegen die alteuropäischen Verhältnisse. Hegel hat sich für die Intimkommunikation in „Kunstdarstellungen“ nicht weiter interessiert, da ihm Liebe oder Leidenschaft aufgrund ihrer „Zufälligkeit“ als Motive einer Eheschließung skandalös vorkommen (S. 310f). Hier hat er sich aber getäuscht, denn gerade die Romanliteratur des 18. Jahrhunderts arbeitet intensiv daran, den „Zufall“ von Kontaktanbahnung und Intimkommunikation in Wahrscheinlichkeit zu überführen. Kierkegaard hat in seinem Essay über Die ästhetische Gültigkeit der Ehe mit Hegel festgehalten, daß das „Substantielle in der Ehe [...] die Liebe“ sei, um unmittelbar daran die Frage nach der Reihenfolge anzuschließen: „welches aber ist das Erste, ist die Liebe das Erste, oder ist es die Ehe, so daß die Liebe sukzessive hinterher käme?“[122] Die Antwort fällt eindeutig aus: „Die Ehe soll also die Liebe nicht hervorrufen, vielmehr sie setzt sie voraus“ (S. 562); und diese Auffassung wird eingebettet in das Projekt nachzuweisen, daß „die romantische Liebe mit der Ehe einen Bund schließen und einen Platz in ihr finden kann“ (S. 556). Die Romantische Liebe mündet in die Ehe (S. 556). Ihre interessanteste Phase ist die Kontaktanbahnung (S. 580ff), deren Geschichte der Roman erzählt, die dementsprechend mit der Eheschließung endet (S. 540).
Hegel scheint irritiert zu sein von „der Freigabe von Eheschließungen an sozial nicht mehr kontrollierbare Zufälle“, doch was aus der Sicht des Rechtssystems oder auch der alten Familie nichts als Zufall zu sein scheint, erhält im Binnenraum des „Kommunikationsmediums Liebe“,[123] so wie der Roman oder Kierkegaards Essayistik es freilegen, eine geradezu teleologische Stringenz. Was aus einer externen Perspektive nur als unwahrscheinliche Häufung von Zufällen erscheint, deutet die Liebe als Bestimmung. Rückwirkend wird der Zufall ausgeblendet und den „Liebenden ist, als hätten sie sich schon lange geliebt“.[124] Man habe sich gesucht wie jene zwei Hälften, von denen Platons Symposion berichtet, und endlich auch gefunden; man sei füreinander bestimmt gewesen etc. Dorothea Schlegels Romanheld Florentin ist überzeugt, „noch hat mein Auge sie nicht gesehn, aber ich kenne sie, ... o sie wird alles verlassen, was sie halten will, und hat sie mich gefunden, mir hierher folgen, und hier mit mir der Liebe leben.“[125] Für die Liebenden der Romantik gibt es keinen Zufall, der sich nicht im nachhinein als notwendiges Ereignis eines Prozesses erwiese, der die zwei Partner zueinander führt. Man kennt sich noch nicht, ist aber füreinander bestimmt; oder man kennt sich schon immer, entdeckt aber erst jetzt die Vorherbestimmung füreinander. „Florio stand in blühende Träume versunken, es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung des Lebens wieder vergessen und verloren“.[126] Die Literatur bietet eine Fülle von Formeln an, um die Kontingenz, die aller Kontaktanbahnung zugrunde liegt, zu invisibilisieren.
Diotima! edles Leben!
Schwester,
heilig mir verwandt!
Eh
ich dir die Hand gegeben,
Hab
ich ferne dich gekannt.
Damals
schon, da ich in Träumen,
[...]
Säuselte,
wie Zephirstöne,
Göttliche!
dein Geist mich an.[127]
Liebe als Anamnesis, als Erinnerung, dies mag den Protagonisten genügen, aber nicht dem Roman, der als Teil der literarischen Kommunikation auch formale und funktionale Anforderungen zu erfüllen hat. Ich werde im Verlauf dieser Vorlesungen darlegen, welche das sind und welche Konsequenzen dies für die literarische Formung intimer Kommunikation hat.
Greis, Drama Liebe und Günter Saße, Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1996 haben ihre Forschung ausdrücklich auf die Rolle der Liebe in der Gattung des Dramas beschränkt. Um so verblüffender ist es, daß die sehr generellen – diskursanalytischen und systemsoziologischen – Überlegungen zur Liebessemantik in kein Verhältnis gesetzt werden zu ihrer spezifischen Formung durch diese literarische Gattung. Derselbe Vorwurf trifft auch Karl Eibls Lessing- und Goethe-Lektüren (Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt/M 1995) sowie Helmut Schmiedts Beiträge zu Gellert, Goethe und Armin in seiner Studie Liebe, Ehe, Ehebruch (Opladen 1993). Wir werden dagegen die Unterschiede der Liebe in der Literatur, die auf Gattungsdifferenzen zurückzuführen sind, immer wieder betonen.