2. Kontaktanbahnung: Die Herstellung von Intimität

Was ist denn nun Liebe? „Kein Gefühl“, lautet die Antwort des Soziologen, sondern ein „Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen“ kann.[1] Luhmanns Studie über Liebe als Passion hat eine Fülle von soziologischer wie literaturwissenschaftlicher Forschungsliteratur zur intimen Kommunikation angeregt.[2] Wir werden auf Luhmanns Thesen immer wieder zurückkommen, daher seien hier die zentralen Überlegungen kurz im Zusammenhang skizziert und an einem literarischen Beispiel illustriert: Ausgangspunkt der Studie ist es, in der Liebe eine „ganz normale Unwahrscheinlichkeit“ zu sehen (S. 10) und danach zu fragen, wie ein so unwahrscheinlicher Prozeß dennoch immer wieder gelingt. Es ist dieselbe Frage, die Systemtheoretiker auch an andere soziale Institute richten: warum können sich beispielsweise so aller Anschauung widersprechende Behauptungen wie etwa diejenige, die Erde drehe sich um die Sonne, dennoch als wahr durchsetzen, obwohl sie nicht mündlich und mit entsprechendem Nachdruck charismatischer Lehrer mitgeteilt werden, sondern als Buch, also unpersönlich? Oder wie kommt es, daß jemand eine schriftliche Vorladung erhält und ihr Folge leistet, ohne daß jemand Stärkeres mit Sanktionen drohen würde? Warum erhalten wir knappe Güter gegen bedrucktes Papier? Diese banalen Fragen zielen auf die komplexen sozialen Voraussetzungen des Gelingens von wissenschaftlicher, rechtlicher oder ökonomischer Kommunikation. Liebe als Passion versucht aufzuzeigen, welche Mechanismen es ausgerechnet diesen zwei Menschen ermöglichen zu glauben,[3] sich in einer großen Menge von Kandidaten gefunden zu haben, um hochexklusive und folgenreiche Intimbeziehungen aufzunehmen. Offenbar stehen Schemata bereit, um die jeder Kontaktanbahnung einwohnenden Zufälligkeit in Notwendigkeit zu transformieren. Es war dann kein Zufall, daß man sich in der Disco oder beim Ball, im Zug oder der Postkutsche getroffen hat, sondern Schicksal. Daß sie mit ihm und keinem anderen, daß er mit ihr und keiner anderen in engere Verhältnisse tritt, wird semantisch plausibilisiert. ‚Liebe auf den ersten Blick’, ‚jemandem verfallen’, ‚füreinander Bestimmtsein’, ‚auf den Richtigen gewartet haben’ sind Beispiele für Formeln, welche die Unwahrscheinlichkeit abblenden, gerade diesen Menschen der großen Gruppe aller übrigen vorzuziehen. Wer diese in der Intimkommunikation latent gehaltene Kontingenz thematisiert und etwa nach besseren Gründen sucht, riskiert das Ende der Liebe. Auf Latenzschutz kann sich die Intimkommunikation daher bis heute verlassen.

„Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen“ heißt die „Formel“, die „Gesellschaftstheorie, Evolutionstheorie und Theorie der Kommunikation verbindet“, um das Problem der „Normalisierung unwahrscheinlicher Gesellschaftsstrukturen“ zu lösen (S. 10). Im Fokus dieses Theoriekomplexes erscheint Liebe als eine Einrichtung, die Kontaktanbahnungen ermutigt und so Paarbildungen wahrscheinlich macht. Ähnlich wie Geld ego dazu motiviert, alter knappe Güter zu überlassen, oder Macht dazu bewegt, Entscheidungen zu folgen, die man nicht selbst getroffen hat, encouragiert die Semantik der Liebe, es mit der Aufnahme höchstpersönlicher Kommunikation zu versuchen, obwohl man sich fremd ist. Der Versuch, Intimkommunikationen aufzunehmen, ist noch heute „mit hohen Unsicherheiten verbunden“, das Risiko, abgewiesen zu werden, ist groß. Für die Steigerung der „Erwartungssicherheit“ sorgen daher kulturelle Handlungs- und Deutungsanleitungen.[4] Die Semantik der Liebe sorgt dafür, daß auch der andere weiß, was es bedeutet, wenn man das dritte Mal zusammen Essen oder ins Schwimmbad geht, einen Walzer tanzt oder um Feuer bittet, auch wenn man noch so sehr beteuert, es gebe dafür sachliche, also unpersönliche Gründe: man wolle endlich einen Stil erlernen, den der andere beherrsche, oder der andere tanze eben ausgezeichnet und sei gerade frei gewesen. Die Semantik erhöht nicht nur die Aussicht auf Erfolg, sie vermerkt auch Orte verdichteter Wahrscheinlichkeit. „Tu quoque, materiam longo qui quaeris amori, ante frequens quo sit disce puella loco“, rät Ovid,[5] und auch Werther weiß, wo er hingehen muß: dorthin, wo die „jungen Leute“ und „schönen [...] Mädchen“ sind.[6] Auf einem Ball erhöhen sich die Chancen für Kontaktanbahnungen. So wie es in Kaufhäusern einfacher ist als anderswo, Geld gegen Waren zu tauschen, gibt es auch institutionalisierte Lokale, welche quasi zur Aufnahme und Führung von Intimkommunikation einladen. Ist man einmal dort, kommt es nur auf die passenden Worte an.[7] Auch Lotte leitet ihre Kontaktanbahnung mit Werther so ein, als hätte sie sachliche Gründe:

»mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir's, wenn ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, daß Sie gut walzen; wenn Sie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehen Sie und bitten sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen.« (S. 24)

Werther berichtet, daß Lotte und er zu den wenigen gehören, die auf dem Ball überhaupt den frisch importierten Walzer beherrschten. Es ist also ganz plausibel, daß sie während der englischen Tänze zusammenbleiben und ihr Können gemeinsam genießen.

Nie ist mir's so leicht vom Flecke gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, daß alles rings umher verging, und Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, daß ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir, und wenn ich drüber zugrunde gehen müßte. Du verstehst mich! (S. 25)

Jemand, der Lotte derart mit einem anderen „walzen“ läßt, kann folglich nicht lieben wie Werther und hat keine Ansprüche zu stellen. Was geschieht? Die beiden Tanzenden bilden eine Dyade, die sich vom Rest der Welt separiert, ohne daß dies zunächst eigens thematisiert werden müßte. Erst beim „dritten englischen Tanz“ erscheint ausgeschlossenen Dritten eine allein sachliche Motivation des Paares für unzureichend. Eine befreundete Dame „sieht Lotten lächelnd an, hebt einen drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.“ (S. 25) Sie muß offenbar daran erinnert werden, daß sie so gut wie verlobt ist. – Ein Gewitter bricht herein und beendet den Tanz, man lenkt sich ab. Lotte versteht es abermals, Werther fühlen zu lassen, daß sie ihn auszeichnet. Bei einem Gesellschaftsspiel erhielt er von ihr „zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnügen zu bemerken, daß sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte.“ Nach dem Ende des Spiels und des Gewitters „[zogen] die Vertrautesten einander beiseite, [...] und ich folgte Lotten in den Saal.“ (S. 27) Nach nur drei Tänzen und zwei Ohrfeigen vergleicht Werther seine Beziehung zu Lotte bereits mit der vertrauter Paare. Gemeinsam – und das heißt eben auch: ohne Begleitung Dritter – treten sie ans Fenster und machen den ersten Schritt in eine höchstpersönliche Kommunikation, deren Intimität nicht mehr – wie noch bei Tanz und Spiel – umzuetikettieren ist. Als Tanzpartner und Spielteilnehmer konnte die Interaktion zwischen Lotte und Werther noch unter der Flagge unpersönlicher Beziehungen laufen, weil im Rahmen von Tanz und Spiel nur bestimmte „Rollenmerkmale“ von Personen abgerufen werden, die man auch bei jedem anderen erwarten könnte, wenn er denn nur so gut walzte wie Werther. Man nutzt vorgegebene Kontexte und gerät daher nicht unter Motivverdacht. Die Erinnerung ihrer Freundin an Albert läßt Lotte weder Erröten noch aus dem Takt kommen, denn was immer sie sich beim Walzer mit Werther gedacht haben mag: eine intime Bedeutung läßt sich noch ohne weiteres abstreiten. Demgegenüber sind höchstpersönliche Beziehungen solche, in denen statt generalisierter Rollenmerkmale „mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person bedeutsam werden“. Solche Beziehungen nennt Luhmann „Intimbeziehungen“.[8] Sie werden von Lotte und Werther aufgenommen mit einer Interaktion, deren Sinndimension nicht länger auf Rollen zugerechnet werden können, die man im Kontext eines Balls zu spielen hat, sondern auf ihre Individualität, die ihrer grundsätzlichen „Inkommunikabilität“ (S. 132) zum Trotz gleichwohl kommunikativ vermittelt wird:

sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock!« – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht' ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören! (S. 27)

Dieselbe Epoche, die die Individualität und ihre Inkommunikabilität entdeckt,[9] entwickelt am Modell der Liebe das „Lexikon“ einer „truglosen Sprache“, die geeignet scheint, „Empfindung“ zu „authentifizieren“.[10] Ihr Medium ist die nahezu wortlose Kommunikation. Im Namen Klopstocks scheint eine Unmittelbarkeit zu gelingen, die zwischen zwei Individuen sonst immer nur mißlingen kann, weil die Kommunikation niemals in der Lage ist, „communia proprie dicere“.[11] Doch in der „Hypnose“ der Unmittelbarkeit vergeht die „Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem Meinen“.[12] Und so nehmen Werther und Lotte nicht die Welt wahr, sondern erleben des Anderen Erleben der Welt und erzeugen so einen „Sonderhorizont“ intimer Kommunikation: Das „Welterleben“ egos wird von alter nicht der Welt zugerechnet, sondern ego.[13] Mit dem Schritt aus der Öffentlichkeit heraus in die einsame Nische am Fenster vollzieht sich eine Differenzierung von „Nahwelt und Fernwelt“, auf der die „Ausdifferenzierung einer gemeinsamen Privatwelt“ aufbauen kann. Dazu kommt es dann, wenn „jeder die Welt des anderen mittragen“ kann und die Fernwelt alters für ego relevant allein deshalb wird, weil er geliebt wird.[14] Werther gibt sich nicht allzuviel Mühe das Naturschauspiel zu beschreiben, das sie sich gemeinsam anzuschauen vorgeben, denn nicht die Natur, sondern das Erleben der Natur im anderen ist interessant für die intime Kommunikation des Paares. Lotte schaut zum Himmel hinauf, und in ihren Augen erlebt Werther seine Vergötterung. „Was sagt dieser erseufzende Mund? Was sagt mir dies Auge / Das mit verlangendem Blick zärtlich gen Himmel hin sieht?“ Diese Frage aus Klopstocks Elegie von der Künftigen Geliebten erlaubt nur eine Antwort: „Göttliche, du liebest!“[15] Alles wird für Werther eine ausgezeichnete Bedeutung erhalten, wenn es nur in Lottes Erleben eine Rolle spielt. Die „Relevanzschwelle“ sinkt soweit, bis all das, „was für den einen relevant ist, fast immer auch für den anderen relevant ist.“[16] Und wenn umgekehrt ego Bedeutsamkeit für Ereignisse reklamiert, die alter für irrelevant hält, dann zerbricht der Sonderhorizont und endet die Liebe.

Drei Tage nach seinem Walzer mit Lotte schreibt Werther an Wilhelm: „Ich weiß weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.“ (S. 28) Man könnte dies zum Beleg für die gängige Ansicht nehmen, die Liebe isoliere von der Welt, blende die Umwelt der Liebenden aus oder führe zu einem Weltverlust.[17] Doch meint Liebe eher die „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“.[18] Werther kennt diese Art der Codierung von Intimität. In einem Brief erinnert er sich an seine verstorbene Jugendfreundin:

Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? (S. 12)

Liebe wird hier bestimmt als wechselseitige Steigerung des Selbst. Der „Widerhall“ der „Empfindungen“, so deutet Blanckenburg 1775 in seiner Werther-Rezension die zitierte Stelle, verleiht ihnen „größere Kraft und Thätigkeit“.[19] Diese Intensivierung der Existenz durch die Liebe geht einher mit dem Aufbau eines Sonderhorizontes intimer Kommunikation, auf den alles, was sich diesseits und jenseits der Paarbeziehung ereignet, erlebt oder gefühlt wird, bezogen werden kann. So erlebt Werther es in seiner Liebe zu Lotte. Seine Existenz

muß durch alles, was Lotte sagt und thut, und durch die Gesellschaften, Oerter und Gegenden, wo W. sie sieht, mehr Kraft und Stärke, und festere Wurzeln erhalten (S. 60).

Alles wird erlebt im Medium der Liebe. Blanckenburg bestimmt Werthers bisweilen euphorische, bisweilen depressive Schilderungen seiner Umgebung als Resultat einer totalisierten Liebe, die sich die ganze Welt zum Resonanzboden unterwirft. Blanckenburg kommentiert Werthers Treffen auf Lottes wahnsinnigen Verehrer:

Vorher athmeten alle Gegenstände um ihn herum, durch Lotten, Freude und Wonne; konnte der Geist seiner Liebe ein anderer Geist, als der Geist der Freude seyn? Jetzt hat er vor sich einen, Ihretwegen Elend gewordenen, und fühlt in sich – – Auch sieht man, auf die anschauendste Art, an dem verschiedenen Eindruck, den eine und eben dieselbe Melodie von ihr jetzt oder vorhin auf ihn macht, den Unterschied in dem damaligen und jetzigen Verhältnisse seines Herzens zu ihr. (S. 79)

Die Welt wird für Werther zu einem „sympathetischen Schauspiel“ (S. 80), das spätestens mit dem Moment beginnt, an dem Lotte das Zauberwort „Klopstock“ ausspricht und damit jenen rückgekoppelten Prozeß auslöst, den wir Liebe nennen können. Wenn Werther selbst das erste Mal explizit von Liebe spricht, mobilisiert er daher genau dieselbe Semantik, mit der er die Klopstock-Szene beschrieben hat:

Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß sie - o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? - daß sie mich liebt! (S. 38)

Daß sie ihn liebt, führt zu einer Steigerung des Selbst: „Mich liebt! - Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so etwas - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!“ (S. 38) Und ihre Liebe intensiviert seine Weltwahrnehmung: „Noch nie war ich glücklicher, noch nie war meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger“ (S. 40). Welt meint hier freilich nicht anderes als den Resonanzboden ihrer Liebe. Nicht allein ist alter für ego „alles“ oder „die Welt“, wie der Soziologe Günter Dux in Geschlecht und Gesellschaft annimmt,[20] auch die ganze Welt wird zum Medium der Liebe. Dank Lottes Liebe hatte Werther „ein Herz [...], eine ganze Welt liebevoll zu umfassen“ (S. 84). Seine rhetorische Frage – „Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe“ – bedarf wohl keiner Antwort (S. 39). „Liebe“, so können wir mit Luhmann verallgemeinern, „totalisiert. Sie macht alles relevant, was irgendwie mit der Geliebten zusammenhängt bis hin zur Bagatelle“ (S. 85), etwa dem Körperkontakt eines Kanarienvogels.[21]

Liebe als codierte Kommunikation besteht also in der Ausbildung eines Sonderhorizontes der Kommunikation, innerhalb dessen alles nur Relevanz für die Liebenden besitzt. Was Bezug auf den anderen hat, wird einbezogen, alles andere wird exkludiert. „Du und kein anderer“, heißt der Code der Intimkommunikation.[22] In einer „Welt“, in der „keiner leicht den andern versteht“ (S. 50), stabilisiert die Liebe die Illusion[23] einer Ebene sympathetischer Kommunikation: „sie weiß, wie ich sie liebe!“ (S. 80) „Sie fühlt, was ich dulde.“ (S. 87) Dritte werden aus diesem Einverständnis allein dadurch ausgeschlossen, weil sie nicht „verstehen“,[24] weil sie nicht ihr Erleben vom Erleben des anderen führen lassen, weil sie nicht jede laufende Kommunikation mit einem „für-ihn-Aspekt“ anreichern (S. 25). Werther wirft Albert vor, daß „sein Herz nicht sympathetisch schlägt bei – o! – bei der Stelle eines lieben Buches, wo mein Herz und Lottens in einem zusammentreffen; in hundert andern Vorfällen, wenn es kommt, daß unsere Empfindungen über eine Handlung eines Dritten laut werden.“ (S. 75) Andere, nicht einmal Albert, können an der höchstpersönlichen Kommunikation des Paares nicht teilnehmen.

Unter höchstpersönlicher Kommunikation wollen wir eine Kommunikation verstehen, mit der der Sprecher sich von allen anderen Individuen zu unterscheiden sucht. Das kann dadurch geschehen, daß er sich selbst zum Thema macht, also über sich selbst spricht; aber auch dadurch, daß er bei Sachthemen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht. (S. 24)

Werther hält es ausschließlich so. Wenn dies so ist, dann gilt auch für ihn folgende Regel: „Je individueller, idiosynkratischer, absonderlicher der eigene Standpunkt und die eigene Weltsicht, desto unwahrscheinlicher wird der Konsens und das Interesse bei anderen.“ (S. 24) Die Individualität eines Standpunktes erzeugt in den Arenen „unpersönlicher“ Kommunikation, die sich der Sachdimension verpflichtet glauben, keine Zustimmungsfähigkeit, sondern erweist sich als Produzent von Dissensen und Mißverständnissen. Dies kann man an Werthers Diskussionen mit Albert beobachten, dem er denn auch konsequenter Weise vorwirft, sich mit einem „Gemeinspruche“ zu begnügen, „wenn ich aus ganzem Herzen rede.“ (S. 47). In der Liebe findet dagegen die Person mehr Interesse als die Sache, die sie vertritt, und dies allein deshalb, weil sie ist, wie sie ist: individuell.[25] Individualität geht nun nicht auf in zurechenbaren persönlichen Eigenschaften, etwa „Schönheit und Tugend“, sondern meint den „Weltbezug des personalen Individuums“: die Weise, wie es die Welt sieht (S. 24). Wenn dies Beachtung findet, dann ist alter in egos Welt „immer schon untergebracht und damit unausweichlich vor die Alternative gestellt, den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen.“ (S. 25) Nicht das Thema der Kommunikation macht die Liebe aus; keinesfalls müssen alle Kommunikationen den Partner und die Liebe thematisieren. Liebe als Beobachtungspraktik oder Attributionsvorschrift zielt auf „Universalität“ im Sinne „einer laufenden Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen“, die entweder gegeben ist oder fehlt. Werther findet in diesem Sinne die Beachtung Lottes oder ist empört und verzweifelt, wenn sie zu fehlen scheint.[26] Informationen werden durch den Code der Liebe „dupliziert“ und auf die persönliche wie auf die anonyme Welt bezogen. Ist diese Duplizierung nicht mehr möglich, da die Kommunikationen einen Bezug auf die Nahwelt der Partner nicht mehr gestatten, findet keine Intimkommunikation mehr statt und die Liebe endet. Diese Erfahrung bleibt Werther erspart. Das Letzte, was er in Lottes Augen sieht, ist der „vollste Blick der Liebe“ (S. 115). So heißt es auch „nach Eilfe“ noch, kurz, bevor er sich erschießt: „O Lotte, was erinnert mich nicht an dich!“ (S. 122)

3. Die Evolution der historischen Semantik der Liebe

Wie unwahrscheinlich und deshalb auch voraussetzungsvoll eine Liebe wie die Werthers zu Lotte ist, macht ein historischer Rückblick deutlich. Seit der Etablierung der monogamen Paarbeziehung in frühhistorischer Zeit codiert die Differenz „Du und kein anderer“ die Intimkommunikation. „Tu mihi sola places“, heißt es bei Ovid.[27] Die Programmierung dieses Codes aber ist variabel und seitdem erheblichen Veränderungen unterworfen, doch am Ende der Entscheidungsprogramme steht – wenigstens seit Jahrtausenden – immer ein Paar, deren Partner lange Zeit „das eigene Leben in der Bindung an den anderen in dessen Körperzone“ führen, „Sexualität und Intimität“ verbinden, d. h. sich gemeinsam eine „private“, von der übrigen Gesellschaft abgegrenzte, unterscheidbare Sphäre schaffen.[28] An den Spekulationen über die möglichen evolutionären Vorteile einer dauerhaften Paarbeziehung (Arbeitsteilung: Aufzucht der Kinder durch die Frau, Ernährung durch in Gruppen jagende Männer etc.) möchte ich mich hier nicht beteiligen, es reicht für unsere Skizze aus festzustellen, daß aus einem Pool möglicher Partner immer zwei zusammenfinden und eine Revision dieser Paarbindung von der sozialen Umwelt erheblich erschwert wird. An den alteuropäischen Programmierungen fällt zunächst einmal die Gemeinsamkeit auf, daß die Wahl der Lebenspartner nicht diesen selbst überlassen ist. Es sind Eltern, Familien, Clans, Anführer, Oberhäupter, die in der Vormoderne den Partner für den anderen auswählen. Der Code wird extern programmiert. Darin sind nicht nur Nachteile zu sehen. Die externe Selektion bringt, wie fast alle alteuropäischen Mechanismen der Komplexitätsreduktion, eine erhebliche Entlastung für den Einzelnen mit sich, dessen Einfügung in das Dasein insgesamt und dessen Weg in die Ehe kaum Alternativen kennt, aber auch keine Kontingenz. Die Gesellschaft ist stratifikatorisch differenziert und wird von einer Oberschicht beherrscht, die sich von den anderen Schichten durch strikte Endogamie unterscheidet. Aber nicht nur der Adel heiratet untereinander, ähnliche Restriktionen gelten für Mitglieder von Zünften, Gilden oder auch für Bauern. Michel Foucault hat die Regeln der Ehepolitik in der stratifizierten Gesellschaft unter dem Begriff des „Allianzdispositives“ zusammengefaßt und seine Multifunktionalität beschrieben.[29] Entscheidungsprogramme der Ehestiftung regeln die politisch eminent wichtigen Verwandtschaftsverhältnisse, sorgen für die „Übermittlung der Namen und Güter“, bestimmen den Stand der legitimen Nachkommen und nach der Reformation auch ihre Religionszugehörigkeit. Nur die Sprößlinge einer solchen Ehe werden „kraft ihrer Abstammung als geborene gleichstehende Verbandsgenossen behandelt [...], Abkömmlinge eines Elternteils aus anderen Sexualbeziehungen dagegen nicht.“[30] Eine Allianz konnte Frieden sichern und Koalitionen schmieden, Territorien vergrößern oder Äcker zusammenlegen, Arkanwissen tradieren oder Handelsbeziehungen vererben. Eine kluge Verbindung war für beide Familien mit erheblichen Chancen verbunden, Stärken, Klientelbindungen, Vermögen und Ansehen zusammenzulegen und so zu potenzieren. Die Familien und Häuser haben eine ökonomisch, politisch, juristisch und rangmäßig so folgenreiche Entscheidung nicht den Eheleuten überlassen, und es entspricht vollkommen der Rationalität solcher Allianzen, daß sie „von den Eltern mit relativ wenig Rücksicht auf die Wünsche der Kinder arrangiert“ wurden,[31] die sich vor der Eheschließung nicht einmal kennen müssen. Friedrich II. wurde achtjährig zum ersten Mal verlobt, Moritz von Berkeley war in diesem Alter bereits verheiratet.[32] Nicht nur das Haus Habsburg hat im Dienste seiner vorausschauenden Ehepolitik bereits noch zu zeugende Prinzen und Prinzessinnen verplant.[33] Es entsprach der „Vorsorge für Eheschließungen“ im Dienste „nützlicher Allianzen“ einen „Vorrat an Söhnen“ und „Töchtern“ anzulegen.[34] Ich zitiere eine beliebig ausgewählte, aber für das Allianzdispositiv exemplarische Stelle aus dem Ehebüchlein Albrechts von Eyb:

Als nun Albanus komme zu vollkommenlichen Jahren, ward er geliebet von allermänniglichen und aufgenommen für ein Herren und gekrönet zu Künig in Ungeren bei Leben und mit Willen des Vaters. [...] Der Künig von Ungern, durch Rat seiner Weisen und Edelen, schickt zu dem Kaiser und begehrt des Kaisers Tochter seinem Suhn Albano zu der Ehe. Der Tag der Ehe ward gesatzt und die Ehe vollbracht mit Wirden und Freuden.[35]

Trotz des – freilich selbst interessierten – Widerstandes der christlichen Kirchen[36] zeugt noch im 18. Jahrhundert die Literatur von arrangierten Eheschließungen im Interesse der Staatsraison, der Hauspolitik, des Aufstiegswillens der Familie, doch wird die Allianzehe in diesen Texten zum Problem. Erstmals wird die umsichtige Vormundschaft, die das Allianzdispositiv für die füreinander bestimmten Partner übernimmt, als Zwang erfahren, und zugleich kommen Alternativen in Sicht. Damit ist das Ende einer langen Epoche gekommen.[37]

In vormodernen, „agrarischen Gesellschaften“ sind „Zweckheiraten“ die Regel, konstatiert Dux mit Recht, doch könne daraus nicht – wie offenbar in der einschlägigen Literatur – gefolgert werden, „daß es unter solchen Bedingungen Liebe erst gar nicht habe geben können“,[38] vielmehr habe es „Liebe zwischen [den Geschlechtern] zu allen Zeiten der Geschichte gegeben“ (S. 155). Dies mag so sein, sicher ist, daß man in der Ägide des Allianzdispositivs nach Liebe und Erotik vor allem außerhalb der Ehe gesucht hat.[39] Die in der Mediävistik viel diskutierten Frage, ob und warum die „höfische Liebe sich hauptsächlich an verheiratete Frauen gerichtet habe“,[40] könnte man mit dem Hinweis auf die beschriebenen Modi der alteuropäischen Eheanbahnung und -führung zu beantworten suchen. Im Gegensatz dazu steht die Freiheit der Wahl bei der Beziehung des Mannes zu seiner Minneherrin im Vordergrund. Beide Seiten können auch anders wählen und Offerten ablehnen. Von dieser Freiheit des Subjekts kann bei der Eheschließung keine Rede sein. Die Liebe zur eigenen Ehegattin zu besingen, ist daher die Ausnahme geblieben,[41] die „These von der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe“ dagegen die Regel.[42] Zwei Argumente zur Begründung dieser Ansicht sind für uns von besonderem Interesse: (1) Die Eheleute seien nur aus Pflichterfüllung miteinander verbunden, während die Liebenden „einander freiwillig hingäben“.[43] (2) Die Sexualität in der Ehe konzentriert sich aus theologischen Gründen (S. 541) auf die Reproduktion: „Der ist ein Ehebrecher in seim Weibe, der sie zu hitziglichen lieb hat. [...] im dem eigen Weib ist große überflüssige Liebe schändlich“.[44] Und Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme, hat „große Herren“ sagen hören, es sei „strafbar“, wenn Ehemänner „mit ihren Frauen Mißbrauch“ trieben: „Anstatt sich in ihrem Bett mäßig mit ihren Frauen zu verhalten, wie sie müßten, huren sie damit wie Konkubinen; die Ehe ist aber nur um der Notwendigkeit und der Fortpflanzung willen eingeführt, nicht geiler und hurerischer Lüste wegen.“[45] Die Liebe kennt „die freiwillige Hingabe und den eigenen Willensentscheid über eine mögliche Weigerung“, die Wirklichkeit der Ehe jedoch nicht.[46] Die eheliche Liebe gilt als „Pflicht“, die höfische Liebe außerhalb der Ehe als „Gunst“,[47] zuweilen als „letzte Gunst“.[48] Denn in der „erzählenden Dichtung führte höfische Liebe fast immer zur körperlichen Vereinigung. Unerfüllte Liebe begegnete hier nur in Ausnahmefällen“, in der Lyrik dagegen häufiger.[49] Ob die hohe Minne nun zum Beischlaf führt oder nicht, ihren elaborierten Code kann man in jedem Fall als „ein Gegenprogramm zu der rücksichtslosen Sexualpraxis der Adelsgesellschaft interpretieren“,[50] die Frauen nicht liebt, sondern nimmt,[51] so wie es die Sänger der niederen Minne drastisch und obszön geschildert haben.[52] Die aus dem ehelichen Sexualleben ausgeschlossenen erotischen Vergnügungen[53] finden auch in der höfischen Liebe oder im Konkubinat ihren Ort,[54] Unterschiede bestehen hier primär in der Art der Kontaktanbahnung: durch Gewalt gegen Untergebene, durch Geld oder Gaben für Prostituierte oder durch „Dienst“.[55]

Diese Semantik trennt, was in der romantischen Liebe zusammengehören wird: Ehe, Liebe und Erotik.[56] Alle drei Bezirke der Intimkommunikation sind bis dahin in unterschiedliche Funktionskontexte eingebettet. Die Ehe dient als Medium der Allianz; die höfische Liebe ermöglicht, „sich im Zuge der zunehmenden Aristokratisierung der Schichtungsstruktur von der vulgären, gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse [zu] distanzieren“,[57] während sich zugleich der Mann außerhalb der höfischen Etikette und der von ihnen beförderten Selbstzwänge gehen lassen konnte, weshalb dort ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zwischen dem Begehren und seiner Erfüllung nicht sonderlich elaboriert sein mußte. Die Frau diene dem Mann „pour sa nécessité et délectation“,[58] so wird nah am Körper formuliert, und um etwaigen Widerstand zu brechen, reichen der höhere Stand und die größere Kraft vollkommen aus. Bedarf für ein auf Liebe spezialisiertes Kommunikationsmedium entsteht erst dann, wenn man mit der „Entscheidung der Frau“ zu rechnen und ihr Nein zu akzeptieren hat.[59]

Es scheint Frankreich gewesen zu sein, wo zuerst „für eine freiere gesellschaftliche Stellung der Frau und für ihre Möglichkeit zu eigener Entscheidung gesorgt“ wird (S. 59), genauer: für die Frau der Oberschicht. Erst die „Ausdifferenzierung von »doppelter Kontingenz« als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sicheinlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden, stimuliert die Entwicklung einer Spezialsemantik“ (S. 60). Sie war vorher nicht erforderlich, weil allgemein anerkannte Kriterien sowohl die Partnerwahl für die Eheschließung als auch für die Minne dirigierten: Stand und Vermögen oder Schönheit und Tugend. Die „Einbeziehung der Freiheit des anderen“ erschwert diese „Orientierung an den Eigenschaften des Partners“ (S. 62), denn wenn es nur auf physische und soziale Äußerlichkeiten ankäme, auf Rang und gutes Aussehen, dann gäbe es keine Freiheit. Die Liebe muß sich selbst motivieren, und ihr wird zugemutet, „gewisse, nicht allzu schwerwiegende Tugenddefekte und sogar Schönheitsdefekte zu überdauern“ (S. 63). Im Verlauf der Entwicklung von Liebe als Kommunikationsmedium läßt sich beobachten, wie „schließlich alle objektiven, generalisierten Indikatoren für Liebe im Sinne von Verdienst, Schönheit, Tugend abgeworfen werden und das Prinzip, das das Unwahrscheinliche ermöglichen soll, mehr und mehr personalisiert wird“ (S. 28), bis man dann im 18. Jahrhundert behaupten kann, die Einzigartigkeit des anderen sei das einzige Motiv der Liebe. Die romantische Liebe „richtet sich auf ein Ich und ein Du, sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche Beziehung sich wechselseitig ermöglichen – und nicht, weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.“ (S. 175). Erst dann kann man von Höchstpersönlichkeit der Liebe in dem Sinne sprechen, daß sie dem anderen ermöglicht, „etwas zu geben dadurch, daß er so ist, wie er ist.“ (S. 30)

Während Heiraten arrangiert werden, bleibt die Herstellung von Liebesbeziehungen den Beteiligten selbst überlassen. „Man kann hier nicht genug betonen, daß die hier gemeinte Freiheit der Liebeswahl verheiratete Personen und außereheliche Beziehungen betrifft.“ (S. 60) Die Verhandlungen, die man aufnimmt, zielen also nicht auf eine eheliche Bindung, womit alle Argumente wegfallen, die man für diesen Stand anführen könnte. Eine außereheliche Beziehung ist weder gottgefällig, noch dient sie der Zeugung legitimer Nachkommenschaft, sie ist nicht auf lebenslange Dauer ausgelegt, sie macht die Frau nicht zur Herrin über ein Haus, noch wird dem Mann das ‚Geschenk’ der Jungfräulichkeit zuteil.[60] Es muß also Mechanismen außerhalb des Allianzdispositivs geben, um Kontaktanbahnungen dennoch gelingen zu lassen. Zwei Kommunikationstechniken, die gleichermaßen die Aufnahme intimer Kommunikation ermutigen und ihr etwaiges Scheitern abfedern, entwickeln sich in der frühen Neuzeit und stehen dank des Buchdrucks im 17. Jahrhundert allgemein zur Verfügung: Liebe als Passion und Galanterie. 

Bei „dem Liebesgefühl“, erinnert sich Montaigne, „ging es mir nun so: ich fühlte, wie es entstand, wuchs, und, trotz meines Widerstandes, immer stärker wurde, und wie es schließlich – ich sah und erlebte es ganz deutlich – mich ergriff und in seine Gewalt bekam“.[61] Die Liebe wird hier erlebt wie eine Krankheit, für die man nicht selbst verantwortlich zeichnet. Das „brennende Verlangen“, das ihn beherrscht, rechnet sich Montaigne nicht selbst zu, sondern einer fremden Macht, die „mich beherrschte“ (S. 236). Allerdings versucht er, sich wieder „in meine Hand [zu] bekommen“ (S. 358). Eine andere Möglichkeit, mit dieser Art des Erlebens der Liebe umzugehen, ist es, die Verantwortung für die Passion der Frau zuzurechnen, die man begehrt. „Passion drückt aus, daß man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür man keine Rechenschaft einklagen kann.“[62] Ähnliches leisten ältere Metaphern wie Liebe als Wahnsinn, als Krankheit, als Versklavung, als Wunder etc. Passion wird dann zum Programm intimer Kommunikation, wenn sie nicht mehr das passive Leiden eines Einzelnen meint, der wie Montaigne tapfer gegen seine Krankheit ankämpft, sondern Kontaktanbahnungen ermöglicht. Der Vicomte de Valmont begehrt die selbstredend verheiratete Präsidentin de Trouvel und gedenkt sie zu verführen und schließlich zu verderben. Da die Kontaktanbahnung mit ihr diese Motive nicht offen legen darf, schreibt er an sie: „Ihre umfassende Gewalt über mich macht Sie zur uneingeschränkten Herrin meiner Gefühle; und wenn nur meine Liebe Ihnen widersteht, wenn Sie sie nicht zerstören können, kommt es daher, daß sie Ihr Werk ist und nicht meines.“[63] Obwohl Valmont die Verführung generalstabsmäßig plant und „nichts dem Zufall“ (S. 36) überlassen will, versteht er es, in der Interaktion wie im Briefwechsel mit Madame de Trouvel ihr die Verantwortung für sein Handeln zuzuweisen. Die Liebe, auf die Valmont immer wieder zu sprechen kommt, obwohl es die Schicklichkeit, der Stand seiner Geliebten und sie selbst nicht erlauben (S. 148), sei ihm von ihr eingeflößt und eben deshalb unwiderstehlich. Dank dieser Umattribution kann Valmont Frau von Trouvel sogar Vorwürfe machen. „Um die Größe meiner Schmerzen zu fassen, müßten sie wissen, bis zu welchem Grade ich Sie liebe; und Sie kennen mein Herz nicht.“ (S. 152) Valmonts Semantik der Passion delegiert die Verantwortung für sein Wohlergehen und sein Verhalten an die Geliebte: „Meine Liebe erschreckt Sie, Sie finden sie gewaltsam, fessellos! Mäßigen Sie sie mit sanfterer Liebe. Schlagen Sie die Herrschaft nicht aus, die ich Ihnen antrage“ (S. 234). Auf alle Bitten, seine Avancen zu unterlassen, antwortet Valmont nur mit der erneuten Versicherung, er sei gegen die Liebe, die sie in ihm erzeugt habe, machtlos. So wird „Aktivität als Passivität, Freiheit als Zwang getarnt“. Mit dem Verweis auf Passion gewinnt man eine „Handlungsfreiheit, die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht.“[64] Valmont völlig zu ignorieren, wirkt auf Dritte grausam, Frau von Rosemonde scheint seine Melancholie auf die Abreise der Präsidentin zurückzuführen (S. 331), welche sich denn auch prompt verantwortlich fühlt (S. 338f). Man beutet, so Luhmann, „die Semantik der Passivität rhetorisch aus, um die Frau zur Erfüllung anzuhalten: Schließlich hat ihre Schönheit“ – oder Tugend – „die Liebe verursacht, und der Mann leidet unschuldig, wenn nicht abgeholfen wird.“[65] Als Valmont Madame de Trouvel überzeugend vorspielt, er würde sterben, da er fern von ihr nicht leben könne, vermag sie sein Leid nicht länger zu verantworten und gibt ihren Widerstand auf (S. 369f). Valmonts sorgfältiger Plan ist aufgegangen, und der Leser seiner Briefe kommt nicht umhin zu bemerken, daß seine Passion ein Kommunikationscode ist, kein Gefühl.[66] Wer Romane liest, kann beobachten, daß das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Liebe „relativ unabhängig davon gehandhabt“ wird, ob ein „Sachverhalt“ wie Liebe aus der Sicht der „Beteiligten“ überhaupt besteht. Es reicht der „Liebe“ durchaus, daß man sich „so verhält, als sei [man] verliebt“.[67] Das Medium funktioniert auf der Ebene beobachtbarer Kommunikationen ? auf der „Ebene der faktisch lokalisierten Qualitäten, Gefühle, Ursächlichkeiten“ läßt es sich nicht erfassen. Dies sieht man seit dem 17. Jahrhundert daran, daß das Liebesmedium und sein Code „als Orientierung und als Wissen“ verfügbar sind als „generalisierte Suchmuster“, noch „bevor man den Partner findet“.[68] Gerade Romane tragen ihren Teil dazu bei, Novizen anzulernen. Und gerade in der Literatur läßt sich beobachten, daß das „Kommunikationsmedium Liebe seine Referenz nicht im psychischen, sondern im sozialen System“ hat (S. 76). Nur die fiktive Literatur zeigt nicht nur den Verlauf der Kommunikation, sondern gewährt auch einen Einblick in die gleichzeitige authentische psychische Disposition des Helden. So wird das Publikum trainiert, zwischen Bewußtsein und Kommunikation Diskrepanzen zu vermuten und darauf zu warten, daß „Unterschiede“ zwischen „Reden“ und „Handeln“ offenbaren,[69] ob man mit dieser Vermutung richtig liegt. Als die Akteure der Liaisons dangereuses den Kenntnisstand der Leser erreichen,[70] weil auch sie endlich den gesamten Briefwechsel lesen können, fallen alle in der Kommunikation gepflegten Zurechnungen auf Gefühle und Motive in sich zusammen. Zu den Folgen gehören Duell, Emigration, Flucht, totaler Achtungsentzug, Einweisung ins Kloster, Krankheit und Tod.[71] Zugleich mit dieser katastrophalen Enttäuschung wird nicht allein der Brief, sondern die Kommunikation schlechthin, inklusive Körpersprache und Interaktion, als „Medium der Täuschung und Verstellung“ vorgeführt.[72] Aufrichtige und unaufrichtige Kommunikation zu unterscheiden, wird zu einem zentralen Problem der Liebessemantik,[73] das sich nochmals mit der „Einsicht der Inkommunikabilität der Icherfahrung, des authentischen Selbstseins“ verschärft.[74] Über die authentischen Beweggründe des Vicomte läßt sich auch nach der Lektüre aller Briefe nur spekulieren, es liegt nahe anzunehmen, auch ihm selbst seien sie keinesfalls transparent. Die Differenz von aufrichtig / unaufrichtig, deren souveräne Handhabung der Vicomte und die Marquise vorführen, wird hier schon tendenziell abgelöst von der Differenz bewußt / unbewußt, deren Karriere gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt. Entsprechend verliert um 1800 die privatpolitische Beobachtungskunst, die das Differenzieren simulierter und wahrhaftiger Kommunikation gelehrt hat, ihre Bedeutung an die Psychologie. 

Der 48. Brief der Sammlung erfreut sich besonderer Berühmtheit. Der Liebesbrief des Vicomte an die Präsidentin de Tourvel ist durchgängig zweifach codiert. Geschrieben auf dem nackten Rücken der Prostituierten Emilie, scheint er Frau von Trouvel den Hof zu machen und gibt zugleich über „meine Lage und meine Aufführung genauen Bericht“ (S. 130). „Indes ich schreibe“, heißt es da, „lehrt mich mehr als je die unwiderstehliche Macht der Liebe kennen. Es kostet mich Mühe, genügend Selbstbeherrschung zu bewahren [...]. Vergebens überhäufen Sie mich mit Ihrer trostlosen Strenge; sie hält mich nicht ab, mich ganz der Liebe hinzugeben... Die Unterlage sogar, auf der ich Ihnen schreibe und die zum ersten Mal dieser Bestimmung geweiht ist, wird für mich zum heiligen Altar der Liebe.“ (S. 131f) Dieser Brief hat drei Adressaten und Funktionen: er amüsiert Emilie, gibt der Marquise ein erneutes Zeugnis der Meisterschaft des Vicomte und treibt die Eroberung von Madame de Trouvel voran. Die Briefe der Liaisons, zumal zwischen dem Vicomte und der Marquise, sind voller Beispiele für die mehrfache Codierung von Kommunikationen und Interaktionen. Nicht von der „konventionellen Bedeutung“ der „Worte“ (S. 285), sondern von der Perspektive des Beobachters hängt es ab, wie ein Brief, ein Gespräch, ein Blick, ein Laut, ja selbst das Schweigen zu deuten ist. Die Marquise dokumentiert ausführlich den taktische Einsatz von „doppelsinnigen Gesprächen“, der „Sprechweise“ der „Augen“ und der gesamten eloquentia corporis im Dienste einer Kontaktanbahnung in Anwesenheit Dritter (S. 242ff). Die Semantik dieser Kommunikationstechnik läuft im 17. und 18. Jahrhundert unter der Flagge der Galanterie.[75]

Galanterie leistet in der Interaktion unter Anwesenden wie in der schriftlichen, immer von Indiskretionen bedrohten Kommunikation zweierlei: Sie gefällt auf eine Art, die „weder in der bibel, noch sonst verboten“ ist. Sie „ist nichts anderes, als eine Schertzhaffte und dabey kluge artigkeit“, die uns die Zeit in Gesellschaft oder bei der Lektüre angenehm vertreiben hilft.[76] Die Galanterie ist ein Interaktionsideal, dessen souveräne Befolgung die Akteure angenehm und gefällig erscheinen läßt und ihr Reüssieren – unabhängig vom Ziel – unterstützt.[77] Sie zwingt uns geradezu, „gleichsam wider Willen [...] einem Menschen günstig und gewogen zu seyn“.[78] Richardsons Libertin Lovelace und De Laclos’ Valmont verdanken ihre Beliebtheit in der weiblichen Welt zu einem guten Teil dieser Fähigkeit. Der Reiz ihrer Interaktion besteht genau in der beschriebenen Doppelcodierung, deren Verstehen aber von den züchtig scheinenden Frauen jederzeit geleugnet werden kann. Die Galanterie, so erläutert Benjamin Neukirch in seiner Anweisung aus dem Jahre 1721, läßt sich daher „öffentlich und ohne scheu“ äußern, weil alles gleichsam nur „schertzend“ vorgebracht wird.[79] So kann die Kontaktanbahnung „enttäuschungssicher praktiziert werden“,[80] weil die Galanterie auch dann ihre Funktion erfüllt, wenn sie als Werbung um einen Intimpartner scheitert. Sie gefällt, wenn auch nicht mehr als das, und man kann behaupten, nie mehr intendiert zu haben. So können in der Öffentlichkeit Offerten gemacht werden, ohne daß dabei ein Gesichtsverlust riskiert würde. Dies ermutigt die Aufnahme von intimer Kommunikation – und insofern kann man in der Galanterie einen evolutionären Mechanismus sehen. Freilich hängt die besagte „Enttäuschungssicherheit“ davon ab, wie lange man bei der galanten Kommunikation offen läßt, ob denn nun zur „Intimität“ oder zur „Geselligkeit“ hin nach Anschlußfähigkeit gesucht wird (S. 97). Die Marquise de Merteuil nutzt die Ambivalenzen dieses Programms souverän, wenn sie Herrn Prévan zu verstehen zu geben scheint, daß sie seine Galanterie verstehe, um ihn, als er tatsächlich in ihrem Schlafzimmer auftaucht, von ihren Bedienten durchprügeln zu lassen.[81] Da sie ihn nur in Begleitung getroffen hat und niemals unter den Augen Dritter „Klartext“ in der Sache gesprochen wurde, geht alle Welt davon aus, daß er gegen ihr Einverständnis in ihr Boudoir eingedrungen sein muß (S. 251). Er wird künftig mißtrauischer sein, und wohl auch die Leser dieser Briefe. Es ist möglich, daß die Publikation solcher histoires galantes das Programm unter Verdacht setzt, jedenfalls wird sie dazu beigetragen haben, daß schließlich das Konzept der Unschuld das der Galanterie verdrängt.[82] Der Roman, so ließe sich nun folgern, reflektiert nicht nur die Intimsemantik seiner Zeit,[83] sondern setzt sie zugleich unter Änderungsdruck. Mit „Formeln“, die man „im ersten besten Roman vom Tage“ finden kann, wird man jedenfalls keinen Erfolg haben.[84] Die von der Literatur in eine „tradierbare Form“ gebrachte Intimsemantik gibt also gerade mit ihren zeitgemäßen „Darstellungen der Liebe“ ihren Lesern keine Informationen über die auf diese selbst zukommenden „Realsachverhalte des Liebens“,[85] denn die „Sitten in den Romanen“ werden nicht von allen studiert, um sie nachzuahmen, sondern von manchen auch nur, um zu wissen, was erwartet wird.[86] Wer diese Erwartungen nur bedient, kann dann vorgeführt werden wie Monsieur Prévan. Den „geregelten Gang“ seiner Kontaktanbahnung hat die Marquise „so leicht erraten! Ankunft, Ton, Rede: ich wußte alles das schon tags zuvor.“ (S. 244) Wer sich an Büchern orientiert und aus ihnen „lehr-sätze“ destilliert, wie dies im 17. Jahrhundert noch üblich gewesen zu sein scheint,[87] wird damit im 18. kaum reüssieren. Man „kann alles galant ausdrucken“, aber man muß sich dazu „etwas neues“ einfallen lassen.[88]

Mit der Forderung nach Originalität und Überraschung, der Liebe als Passion und dem galanten art de plaire stehen gleichsam im Winter Alteuropas semantische Entwicklungen bereit, an die die moderne Liebessemantik anschließen kann. Die durch die Verbreitung des Buchdrucks immer forcierter auftretende Nötigung, es in der Galanterie – genau wie in der Literatur – mit dem Neuen zu versuchen, macht die Bahn frei für eine auf Individualität gestützte Semantik. Die Formeln der Passion stellen den Liebenden nicht hinterfragbare Begründungen dafür zur Verfügung, daß sie gerade die Person lieben, die sie lieben, gehörte sie auch einem anderen Stand an. So steht ein „Diskurs“ zur Verfügung, der die Distanzierung von „gesellschaftlichen Erwartungen“ erlaubt, wenn nicht dazu einlädt.[89] Man beginnt damit, Hindernisse als Mechanismen der „Bewußtwerdung und Steigerung der Passion“ anzusehen.[90] Die Überwindung ständischer Differenzen kann so als Liebesbeweis gewertet werden, und die Topoi der Passion sorgen dafür, daß Herablassung oder Anmaßung toleriert werden. „Wenn ein Mann und eine Frau eine heftige Leidenschaft füreinander haben“, bemerkt Nicolas-Sébastien Roch de Chamfort, „so glaube ich immer, daß sie von Natur zusammengehören, daß sie trotz aller Hindernisse wie Gatten, Eltern und so weiter aus göttlichem Recht besitzen, allen Satzungen und menschlichen Übereinkommen zum Trotz.“[91] Auch der art de plaire läßt derart sich für die Überwindung von Standesdifferenzen nutzen, freilich nicht als Sozialtechnik für Privatpolitiker, nicht als „Gefallsucht“.[92] Für sie gilt der Spruch des Marquis de Vauvenarques: „Die Kunst zu gefallen ist die Kunst zu täuschen“.[93] Als anschlußfähig für die moderne Intimsemantik erweist sich nicht das plaisir, das man mit klugem Situationsbewußtsein und rhetorischem Einsatz anderen bereitet, um die eigenen Interessen zu verfolgen,[94] sondern die Selbstbeobachtung, Lust zu empfinden. Diese evidente Empfindung kann dem Subjekt von niemandem bestritten werden.[95] Es gibt daher keinen Unterschied zwischen richtigem oder falschem plaisir,[96] wie es Kriterien zur Auswahl des Partners im Allianzdispositiv und im Paradigma der galanten Intimkommunikation gibt. Empfindung verleitet also zu einer Kommunikation, die sich zur Stratifizierung indifferent verhält.[97] Der Vicomte de Valmont macht diese Erfahrung zum ersten Mal ausgerechnet im Umgang mit weit unter ihm rangierenden Bauern, die er vor dem Steuereintreiber rettet und die sich rührend bei ihm bedanken. „Ich will meine Schwäche gestehen“, schreibt er der Marquise de Merteuil, „meine Augen sind feucht geworden von Tränen, und ich habe eine unfreiwillige, doch köstliche Rührung gespürt.“ (S. 66) Valmonts Wertschätzung für „Gefühlswahrheit“ wird ihm freilich von der Marquise ausgetrieben (S. 91), zumindest bestreitet er in der Kommunikation den Wert dieser Erfahrungen, und der Vicomte arbeitet weiter für seinen „Ruf“: für die „Ehre“, als einer der raffiniertesten Verführer der Zeit zu gelten (S. 30-33). Den Unterschied zwischen der Liebe, die ihm Frau von Trouvel entgegenbringt, und derjenigen anderer Frauen, bemerkt er zwar sehr deutlich, versucht aber die Einzigartigkeit dieser Liebe in eine Liaison von vielen zurück zu verwandeln (S. 392). Entgegen der Evidenz seines Gefühls, auf das ihn die Marquise mehrmals hinweist (S. 395), orientiert der Vicomte seine Entscheidungen schließlich an der Achtung oder Mißachtung durch andere und bringt dem ‚guten’ Ruf seine Liebe zum Opfer (S. 420). Er handelt und stirbt sozusagen als ‚Ehrenmann’, als jemand, dem soziale Distinktion über alles geht, selbst über sein Leben.[98]

Man hat inzwischen gelernt, scharf zu unterscheiden zwischen der „Ehre“, die der „Sorge“ verpflichtet ist, wie die „Welt“ über die eigenen Handlungen denkt,[99] und einer Moral, deren Handlungsmaximen sich allein an der „Idee der Pflicht“ und den „sittlichen Gesetzen“ orientieren.[100] Die Differenzierung von „Ehre“ und „Tugend“ folgt den Unterscheidungen von innen und außen, Bewußtsein und Kommunikation, Gewissen und Ansehen oder auch Gefühl und Ruf. Die Galanterie rangiert hier ganz auf der Außenseite der Unterscheidung. Sie entsteht als Interaktionstechnik zur Verfolgung persönlicher Interessen bei öffentlichen Anlässen und unterwirft sich vollkommen dem Komment. In Deutschland wird die Galanterie anhand von Kategorien wie Dekorum, Scharfsinnigkeit, Discretion, Höflichkeit oder Geschmack diskutiert, die allesamt in das alteuropäische Schema stratifizierter Kommunikation eingebunden sind. Es verwundert daher nicht, daß man sich auch an die Ausarbeitung der Galanterie zu einem Regelwerk gemacht hat. Dagegen ist die Systemreferenz der „Gefühlswahrheit“ nicht die Gesellschaft und ihre Interaktionsvorschriften, sondern das eigene psychophysische Selbst. Den gleichen Wechsel vollzieht um 1700 die Kunstkommunikation: An die Stelle von Regelcodizes und „metaphysischer Vorgaben für das Kunstwerk trat die Reaktion des Einzelnen, der sinnliche Eindruck, die Wirkung.“[101] In der Empfindung des Subjekts, genauer: in dieser Semantik der Empfindung schafft sich das 18. Jahrhundert einen archimedischen Punkt, von dem aus es die stratifizierte Gesellschaft Alteuropas aus den Angeln heben kann. Zwar werden die alten Formrepertoires und Rezeptsammlungen zunächst noch weiter tradiert, in der Liebe wie in der Literatur, aber ihre Relevanz wird zunehmend akademisch. Die am Beginn des 18. Jahrhunderts reichlich sprießende gelehrte Ratgeberliteratur, die noch einmal versucht, das überkommene Wissen in Regeln zu fassen, verfehlt den aktuellen Stand der Kunst- und Intimkommunikation, die gleichermaßen auf Individualität und Innovation aufbauen. Wer „Rezepten und Regeln“ folgt,[102] macht Eindruck als Pedant, aber nicht als Künstler oder Liebhaber. Der Roman des 18. Jahrhunderts macht sich zum Kronzeugen dieser semantischen Transformation.

Wer bemerkt, was er empfindet, kann zwar seine Interaktion nach wie vor an den Anforderungen der Oberschichten ausrichten, wie Valmont es tut, aber er weiß – oder fühlt – es besser. Wer den Grund für das eigene Vergnügen exklusiv dem Erleben des anderen zurechnet, der liebt, mag er es auch leugnen. Mr B. dagegen spricht es aus, „I find it in vain, my Pamela, to struggle against my affection for you“,[103] und heiratet dann weit unter seinem Stand. Denn das Erleben des anderen (S. 305) ist ihm nun wichtiger geworden als Achtung oder Mißachtung seiner Standesgenossen, speziell seiner Familie (S. 438). Mit dieser Abkehr von der stratifikatorischen Codierung der Liebe findet sich auch ein Ersatz für die Formeln und Komplimente der Galanterie: die Sprache der Herzen. „My charmer!“ ruft Mr B., „your heart speaks at your eyes in a language that words indeed cannot utter.“ (S. 391) Die ‚natürliche’ „eloquentia cordis“ setzt sich gegen die „rhetorisch disziplinierte, verstellte eloquentia corporis“ durch.[104] Den rhetorisch inspirierten Interaktionslehren wird eine unkünstliche „Sprache des Herzens“ entgegengesetzt.[105] Wer diese neue Sprache versteht, gewinnt ein radikal subjektives Kriterium für eine Liebe, die soweit geht, das Stubenmädchen der eigenen Mutter zu heiraten. So bereitet der art de plaire der Liebe das Ehebett. 

Luhmann hat am plaisir die „Unbestreitbarkeit“ betont sowie seine weitgehende Indifferenz gegen soziale Kontexte.[106] Man empfindet, was man empfindet, auch wenn es unangemessen, unstandesgemäß oder unklug wäre, der Empfindung gemäß zu handeln. Wo alle Privatpolitik und Klugheitslehre zur Dissimulation, zur Verstellung raten würde, folgt die auf die Evidenz des eigenen Empfindens gestützte Intimkommunikation mit der gleichen Rigorosität ihrer eigenen Logik – so wie es Kant vom moralischen Handeln fordert.[107] Diese neue Eigenlogik des Liebens treibt willfährige Töchter in den erbittertsten Widerstand gegen ihre Eltern und dünkelhafte Adelssprößlinge zur Überwindung von Stolz und Vorurteil. In der „kriterienlosen Selbstreferenz“ der eigenen Empfindungen findet das Subjekt einen gegen äußere Einflußnahmen resistenten Ausgangspunkt für seine Liebe, und wenn ego damit beginnt, das Erleben dieses Gefühls exklusiv alter zuzurechnen, dann haben wir es mit moderner, gegen externe, zumal ständische Ansprüche differenzierter Intimkommunikation zu tun, die auf ihre Orientierung an „Anhaltspunkten“ wie „Ehre, Geld, Macht oder physiognomischen Signifikanzen“ verzichtet.[108] Die Geschichte dieser Konfrontation alteuropäischer und moderner Intimkommunikation erzählt der moderne Roman. Warum gerade der Roman und nicht eine andere Gattung, ist eine der zentralen Fragen, auf welche diese Untersuchung eine Antwort zu geben sucht. 

Was für ein „Unglück“, entsetzt sich am Ende aller Affären Frau von Volange, zeitigt „ein einziges gefährliches Verhältnis“.[109] Über Möglichkeiten, solche Entwicklungen zu vermeiden, hatte sie bereits nachgedacht – freilich ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Formuliert wird eine Kritik der Allianzen und zumindest implizit ein Übergang zur Liebesehe: „Diese Ehe, die man ausrechnet, anstatt sie passend zusammenzustellen, die man Konvenienzehen nennt und denen tatsächlich alles konveniert außer den Neigungen und Charakteren – sind sie nicht die ergiebigste Quelle der Skandalausbrüche, die alle Tage häufiger werden?“ (S. 282) Es sei wohl besser, die geplante Verbindung mit Gervourt aufzugeben und dem verliebten Danceney zu gestatten, seine Cécile de Volange zu heiraten. Die Marquise de Merteuil sorgt eigens dafür, daß es dazu nicht kommt. Die Skrupel der Mutter Céciles, ihre Tochter einem völlig unbekannten, älteren Mann zu verheiraten, sind in der Literatur des 18. Jahrhunderts längst zum Topos geworden. Rousseaus Erziehungsroman Emil betont die ‚Unnatürlichkeit’ der Konvenienzehe, die das Unglück des Paares fast zwangsläufig nach sich ziehe. Emils Erzieher rät:

Wollt ihr diesem Uebelstand abhelfen und dazu beitragen, daß die Ehen glücklich werden, so erstickt die Vorurteile, vergeßt die menschlichen Einrichtungen und fragt die Natur um Rat. Vereinigt nicht Leute, die nur in bezug auf Rang und Stellung zueinander passen, die aber in keiner Hinsicht mehr zueinander passen, sobald ihre gesellschaftliche Stellung eine Aenderung erleidet. Verbindet vielmehr solche Personen miteinander, die sich in jeglicher Lebenslage, in jedem Lande, in welchem sie ihren Wohnsitz aufschlagen mögen, in jeder gesellschaftlichen Stellung, in die sie eintreten mögen, in gegenseitiger Liebe zueinander hingezogen fühlen.[110]

Die von Galanterie, Passion und ihrer Anthropologie immer wieder beschworenen Gefahren der „Unbeständigkeit der Männer“ und des Erkaltens der Liebe in der Ehe[111] gedenkt Rousseau mit der Einführung der doppelten Kontingenz in die Liebesehe zu begegnen. „Vergeßt nicht“, so mahnt er Sophie und Emil, „daß ihr beide frei seid und daß es sich hier nicht um eheliche Pflichten handelt.“ (S. 527) Die Sexualität wird nicht unter dem Titel „Pflicht“ in die Ehe einbezogen, sondern als gemeinsame Befriedigung eines Verlangens beider Partner, also als Erotik.

Bleibt beide Herr über eure Person und Eure Liebesbeweise und gewährt sie dem anderen nur aus freiem Willen. Erinnert euch immer daran, daß selbst in der Ehe die Lust nur dann rechtens ist, wenn das Verlangen geteilt ist. (S. 527)

Die Freiheit zum Nein, die Voraussetzung für die höfische, aber auch die galante und passionierte Intimkommunikation, und die „Lust“ werden so in die Ehe integriert. Für eine glückliche Ehe, so lautet die prägnante Kurzformel des Mentors, müsse man „weiterhin Liebhaber bleiben, auch wenn man Ehegatte ist.“ (S. 526) Man könnte hierin den Versuch sehen, die Phase der Kontaktanbahnung auf Dauer zu stellen. Die alte Überzeugung, die Ehe lasse gerade aufgrund ihres lebenslangen Zeithorizontes keine Liebe zu, kann zurückgelassen werden, indem man den anderen alten Grundsatz aufgreift, daß der Anspruch auf Erfüllung das Ende der Liebe bedeutet.[112] Im 17. Jahrhundert hieß es, „mit der Ehe beginnt die Freiheit“ – zur außerehelichen Liebe nämlich.[113] Diese Freiheit wird im 18. Jahrhundert in die Ehe hineingeholt. Die Voraussetzung dafür ist die Freigabe der Partnerwahl. Es wird nun zur „Pflicht des Staates“ erhoben, dafür Sorge zu tragen, daß die Frau „nicht gezwungen werde, sich einem Manne zu ergeben, außer aus Liebe“.[114] Nur wenn „freie Einwilligung der Personen“ in die „Ehe“ der „objektive Ausgangspunkt“ dazu ist, nunmehr „eine Person auszumachen“,[115] ist sie mehr als ein Vertragsverhältnis zu wechselseitigem Nutzen (§ 163, S. 313), nämlich das exklusive Medium, in dem die eine Person sich „im anderen ihrer selbst bewußt wird“ (§ 167, S. 320). Die „Liebe“ erhält hier „die Gestalt der Ehe“ (S. 317); und die Liebe, von der Hegel nicht spricht, die er aber beschreibt, ist die romantische Liebe. – Die romantische Liebe wird von der Soziologie – im Rückgriff auf die Romanliteratur des 18. Jahrhunderts – als ein integratives Konzept bestimmt, das die bislang semantisch und funktional distinkten Elemente „sexuelle Leidenschaft“ und „affektive Zuneigung“, „Liebe und Ehe“, „Freundschaft“ und „Elternschaft“ miteinander verbindet und neu ausrichtet.[116] Der vielleicht auffälligste semantische Unterschied zum Allianzdispositiv ist sicherlich die Forderung, allein die Liebe als „Prinzip der Wahl des Ehepartners“ zuzulassen und als Motiv für eine Ablehnung der Verbindung nur die Gewißheit, „sich nicht lieben zu können“.[117] Die soziologischen Konsequenzen des Paradigmas der „Liebesheirat“ sind vielleicht unauffälliger, aber wirkungsmächtiger. Hegel hat sie so beschrieben:

Durch eine Ehe konstituiert sich eine neue Familie, welche ein für sich Selbständiges gegen die Stämme oder Häuser ist; die Verbindung mit solchen hat die natürliche Blutsverwandtschaft zur Grundlage, die neue Familie aber die sittliche Liebe.[118]

Die Kinder dieser Ehe sind „an sich Freie“ (§ 175, S. 327), die mit dem Erreichen ihrer „Volljährigkeit“ aus dem Familienverband ausscheiden, um eine „eigene Familie zu stiften“ (§ 177, S. 330). Die Herkunftsfamilie, so betont Hegel nochmals, hat dann als „das Abstraktum des Stammes keine Rechte“ mehr (§ 178, S. 330). Was Foucault als Räson des Allianzdispositivs bestimmt hat, nämlich die Bedeutung des „Blutes, d.h. des Alters der Aszendenzen und des Wertes der Allianzen“,[119] wird von Hegel nur zitiert, um ihre Bedeutungslosigkeit zu hervorzuheben. Die Rechtsphilosophie Hegels bleibt allerdings in einem für uns wichtigen Punkt altmodisch: in der Frage der Kontaktanbahnung. Der einschlägige Paragraph 162 lautet:

Wie der äußerliche Ausgangspunkt beschaffen ist, ist seiner Natur nach zufällig und hängt insbesondere von der Bildung der Reflexion ab. Die Extreme hierin sind das eine, daß die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern den Anfang macht und in den zur Vereinigung der Liebe füreinander bestimmt werdenden Personen hieraus, daß sie sich, als hierzu bestimmt, bekannt werden, die Neigung entsteht, - das andere, daß die Neigung in den Personen, als in diesen unendlich partikularisierten, zuerst erscheint. - Jenes Extrem oder überhaupt der Weg, worin der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht und die Neigung zur Folge hat, so daß bei der wirklichen Verheiratung nun beides vereinigt ist, kann selbst als der sittlichere Weg angesehen werden. - [...] In den modernen Dramen und anderen Kunstdarstellungen aber, wo die Geschlechterliebe das Grundinteresse ausmacht, wird das Element von durchdringender Frostigkeit, das darin angetroffen wird, in die Hitze der dargestellten Leidenschaft durch die damit verknüpfte gänzliche Zufälligkeit, dadurch nämlich gebracht, daß das ganze Interesse als nur auf diesen beruhend vorgestellt wird, was wohl für diese von unendlicher Wichtigkeit sein kann, aber es an sich nicht ist. (§ 162, S. 311)

Hegel nennt zwei „extreme“ Möglichkeiten der Zusammenführung zweier Personen zu einem Paar. Die erste ist: Dritte bestimmen das Paar für die Ehe und gehen davon aus, daß der „Verehelichung“ schon die „Neigung“ folgen werde. Die zweite Möglichkeit kehrt die Reihenfolge um: das Paar verliebt sich und entschließt sich dann zu heiraten. Luhmann hat in seinem Kommentar dieser Passage angemerkt, daß hier „noch einmal das Prinzip der alten Ehe“ zur Geltung komme: „die Annahme, daß der Eheschließung Zuneigung und Liebe, normalerweise wenigstens, schon folgen werde“.[120] Gemeint ist jene Maxime, die man noch Clarissa anempfohlen hat: „Marry first and love will come after“.[121] Genau wie Madame de Volange sieht Clarissa in der Durchsetzung der Ehen durch Dritte mit der Hilfe dieses Topos den Hauptgrund dafür, daß “there are so few happy marriages” (S. 201). Für Hegel dagegen ist die Reihenfolge gleichgültig. Ob nun die „besondere Neigung“ oder die „Vorsorge und Veranstaltung der Eltern“ zum „subjektiven Ausgangspunkt der Ehe“ geworden ist, entscheidend ist für ihn allein die „freie Einwilligung“ als „objektiver Ausgangspunkt“ der Ehe (§ 162, S. 310). Die Unterscheidung zwischen der Kontaktanbahnung durch die künftigen Ehepartner selbst und ihrer Bestimmung durch Dritte ist für Hegel zweitrangig, in der Literatur ist sie dagegen entscheidend. Denn der Roman führt die verschiedenen Temporalverhältnisse der Eheanbahnung – erst Liebe, dann Heirat / erst Ehe, dann Neigung – zurück auf unterschiedliche Gesellschaftsordnungen und Mentalitäten, auf moderne bzw. altständische. Die Liebesheirat profiliert sich als modern gegen die alteuropäischen Verhältnisse. Hegel hat sich für die Intimkommunikation in „Kunstdarstellungen“ nicht weiter interessiert, da ihm Liebe oder Leidenschaft aufgrund ihrer „Zufälligkeit“ als Motive einer Eheschließung skandalös vorkommen (S. 310f). Hier hat er sich aber getäuscht, denn gerade die Romanliteratur des 18. Jahrhunderts arbeitet intensiv daran, den „Zufall“ von Kontaktanbahnung und Intimkommunikation in Wahrscheinlichkeit zu überführen. Kierkegaard hat in seinem Essay über Die ästhetische Gültigkeit der Ehe mit Hegel festgehalten, daß das „Substantielle in der Ehe [...] die Liebe“ sei, um unmittelbar daran die Frage nach der Reihenfolge anzuschließen: „welches aber ist das Erste, ist die Liebe das Erste, oder ist es die Ehe, so daß die Liebe sukzessive hinterher käme?“[122] Die Antwort fällt eindeutig aus: „Die Ehe soll also die Liebe nicht hervorrufen, vielmehr sie setzt sie voraus“ (S. 562); und diese Auffassung wird eingebettet in das Projekt nachzuweisen, daß „die romantische Liebe mit der Ehe einen Bund schließen und einen Platz in ihr finden kann“ (S. 556). Die Romantische Liebe mündet in die Ehe (S. 556). Ihre interessanteste Phase ist die Kontaktanbahnung (S. 580ff), deren Geschichte der Roman erzählt, die dementsprechend mit der Eheschließung endet (S. 540).

Hegel scheint irritiert zu sein von „der Freigabe von Eheschließungen an sozial nicht mehr kontrollierbare Zufälle“, doch was aus der Sicht des Rechtssystems oder auch der alten Familie nichts als Zufall zu sein scheint, erhält im Binnenraum des „Kommunikationsmediums Liebe“,[123] so wie der Roman oder Kierkegaards Essayistik es freilegen, eine geradezu teleologische Stringenz. Was aus einer externen Perspektive nur als unwahrscheinliche Häufung von Zufällen erscheint, deutet die Liebe als Bestimmung. Rückwirkend wird der Zufall ausgeblendet und den „Liebenden ist, als hätten sie sich schon lange geliebt“.[124] Man habe sich gesucht wie jene zwei Hälften, von denen Platons Symposion berichtet, und endlich auch gefunden; man sei füreinander bestimmt gewesen etc. Dorothea Schlegels Romanheld Florentin ist überzeugt, „noch hat mein Auge sie nicht gesehn, aber ich kenne sie, ... o sie wird alles verlassen, was sie halten will, und hat sie mich gefunden, mir hierher folgen, und hier mit mir der Liebe leben.“[125] Für die Liebenden der Romantik gibt es keinen Zufall, der sich nicht im nachhinein als notwendiges Ereignis eines Prozesses erwiese, der die zwei Partner zueinander führt. Man kennt sich noch nicht, ist aber füreinander bestimmt; oder man kennt sich schon immer, entdeckt aber erst jetzt die Vorherbestimmung füreinander. „Florio stand in blühende Träume versunken, es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung des Lebens wieder vergessen und verloren“.[126] Die Literatur bietet eine Fülle von Formeln an, um die Kontingenz, die aller Kontaktanbahnung zugrunde liegt, zu invisibilisieren.

Diotima! edles Leben!

Schwester, heilig mir verwandt!

Eh ich dir die Hand gegeben,

Hab ich ferne dich gekannt.

Damals schon, da ich in Träumen,

[...] 

Säuselte, wie Zephirstöne,

Göttliche! dein Geist mich an.[127]

Liebe als Anamnesis, als Erinnerung, dies mag den Protagonisten genügen, aber nicht dem Roman, der als Teil der literarischen Kommunikation auch formale und funktionale Anforderungen zu erfüllen hat. Ich werde im Verlauf dieser Vorlesungen darlegen, welche das sind und welche Konsequenzen dies für die literarische Formung intimer Kommunikation hat.

4. Literaturwissenschaft und Liebe

Unser Thema ist populär, die „Entstehung“ der „modernen Vorstellung von Liebe“, die „Wandlung des Liebes- und Ehediskurses im 18. Jahrhundert“ ist „in den letzten fünfzehn Jahren ein bevorzugtes Forschungsfeld geworden“.[128] Man könnte sogar sagen, es ist dies bereits seit 80 oder auch seit 125 Jahren, seit den berühmten Monographien von Paul Kluckhohn und Erich Schmidt. Motivgeschichte (Mario Praz, Peter von Matt, Helmut Schmiedt, Günther Saße), Diskurstheorie (Nikolaus Wegmann, Jutta Greis), Systemtheorie (Georg Jäger, Julia Bobsin) oder auch Gattungstheorie (Peter Rau) haben das Feld der Liebe ins Zentrum ihrer Untersuchungen gerückt. Jutta Greis Feststellung aus dem Jahre 1991, „obwohl die Liebe das auffälligste gemeinsame Element, oft zentrales Sujet, der Literatur im 18. Jahrhundert ist, [habe] die Literaturwissenschaft bisher diese Tatsache niemals thematisiert“,[129] ist also überzogen. Der Literaturwissenschaft fehlt es nicht an Arbeiten zum Motiv der Liebe, und seit geraumer Zeit sind sie auch soziologisch, diskursanalytisch oder historisch informiert. Einschlägige Forschungsberichte liegen vor.[130] Die neuere Literatur zum Thema hat sich der Liebe aus den verschiedensten Perspektiven genähert und sie anthropologisch, medizin- und mentalitätsgeschichtlich, soziologisch, diskursanalytisch, rechts- und sozialhistorisch kontextualisiert. Ich habe von einigen dieser Studien profitiert und werde sie im Kontext der Literaturanalysen zu ihrem Recht kommen lassen. Auffällig ist allerdings eines: daß die wenigsten Abhandlungen von ihrem historiographischen oder soziologischen Vorspann einen überzeugenden Bogen zur Analyse der Liebe in literarischen Texten zu schlagen vermögen. Hier würde ich die Marktnische meines Ansatzes situieren. Was insbesondere fehlt, ist die Rücksicht auf die Eigeninteressen, welche die Literatur bei ihrer Aneignung der Liebe verfolgt, ganz besonders auf die Rolle, welche die verschiedenen Gattungen der Literatur bei dieser Formung spielen. Soziologen und Diskursanalytiker mögen gleichgültig ihrem literarischen Status gegenüber Romane wie Dramen, Briefsammlungen wie Tagebücher als Quellen benutzen, um ihre Thesen zur Liebe zu illustrieren oder zu belegen – die Literaturwissenschaft darf sich aber damit nicht begnügen, denn sonst müßte sie eine Antwort schuldig bleiben auf die zentrale Frage, was denn die Liebesliteratur von der Intimkommunikation der Gesellschaft deshalb unterscheidet, weil sie Literatur ist. Dieser Unterschied freilich fällt überhaupt nur auf vor dem Hintergrund der Liebe der Gesellschaft, und deshalb geht es nicht ohne Soziologie und Diskursanalyse. Diese Arbeit beschäftigt sich daher nicht allein mit der Liebe im Roman, sondern genauso mit der Liebe als Roman: also mit der doppelten Frage, welche Folgen es für die Intimkommunikation hat, wenn sie zum Medium eines Romans wird und sich literarisch formen läßt, und welche Konsequenzen zu erwarten sind, wenn ein Roman eine bestimmte Intimsemantik und keine andere übernimmt, um seine Geschichte zu erzählen. Der Gattungsgeschichte der literarischen Form muß daher in der literaturwissenschaftlichen Untersuchung dasselbe hohe Gewicht zukommen wie dem Wandel der historischen Intimsemantik, denn die intime und die literarische Kommunikation der Gesellschaft stehen in einem Verhältnis der Koevolution. Sie stellen sich gegenseitig Strukturen zu Verfügung, um ihre Semantik weiterzuentwickeln. Ich möchte in dieser Arbeit abstecken, was der Roman der Liebe und die Liebe dem Roman zu verdanken hat. Man wird sehen: genau wie die Liebenden können beide nicht ohne einander sein.



[1] Luhmann, Liebe als Passion, S. 23.
[2] Und zwar seitdem das Buch als Manuskript zirkuliert, seit 1969. Für einen Überblick vgl. Andrea Leupold, Liebe und Partnerschaft: Formen der Codierung von Ehen, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 12. Heft 4, Oktober 1983, S. 297-327. Auch in der Literaturwissenschaft geht man mit Luhmann davon aus, daß Liebe ein „historisch sich veränderndes System menschlicher Interaktion und Kommunikation“ ist (Bernd Witte, Casanovas Tochter, Werthers Mutter: Über Liebe und Literatur im achtzehnten Jahrhundert, in: H. Kaspar Spinner / Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Eros – Liebe – Leidenschaft, Bonn 1988, S. 93-113, S. 93.)
[3] Oder zumindest so zu handeln, als glaubten sie.
[4] Jürgen Gerhards, Bernd Schmidt, Intime Kommunikation, Baden-Baden 1992, S. 24f.
[5]Ars amatoria, Vs. 49f. Überhaupt scheint Ovid auf das Gesetz der großen Zahl zu vertrauen, worin sich sein Gespür für Wahrscheinlichkeiten zeigt.
[6] Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, HA Bd. 6, S. 20.
[7] Ovid, Ars amatoria, Vs. 85.
[8] Luhmann, Liebe als Passion, S. 14.
[9] Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 83.
[10] Schneider, Liebe und Betrug, S. 148.
[11] Horaz, Ars poetica, Vs. 128.Vgl. Plumpe, Epochen moderner Literatur, S. 83.
[12] Schneider, Liebe und Betrug, S. 146.
[13] Vgl. Gerhards / Schmidt, Intime Kommunikation, S. 23.
[14] Luhmann, Liebe als Passion, S. 17.
[15] Friedrich Gottlieb Klopstock, Elegie (1748), in: Ausgewählte Werke, hrsg. von Karl August Schleiden, München 1962, S. 23. Es ist sonst üblich, die Szene auf Klopstocks Frühlingsfeier zu beziehen.
[16] Luhmann, Liebe als Passion, S. 200.
[17] Vgl. mit vielen Belegen Günter Burkart, Auf dem Weg zu einer Soziologie der Liebe, in: Hahn / Burkart, Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 15-49, S. 23.
[18] Luhmann, Liebe als Passion, S. 30.
[19] Friedrich von Blanckenburg, Rezension: Die Leiden des jungen Werthers, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1775, 18. Folge, 1. Band, S. 46-95, S. 58.
[20] Dux, Geschlecht und Gesellschaft, S. 108.
[21] Vgl. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, S. 80.
[22] Der Code, wie jeder Code, „schematisiert binär“. Im Falle der Liebe heißt das: „mit einem Partner, aber nicht mit anderen“. (Niklas Luhmann, Symbiotische Mechanismen (1974), in: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen 1991, S. 228-244, S. 234.)
[23] Illusion deshalb, weil aus operativen Gründen die Überprüfung des Bewußtseins des Anderen unmöglich ist.
[24] Luhmann, Liebe als Passion, S. 28.
[25] Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 30.
[26] „Ich suchte Lottens Augen; ach, sie gingen von einem zum andern! Aber auf mich! mich! mich! der ganz allein auf sie resigniert dastand, fielen sie nicht!“ (S. 36f) 
[27] Ovid, Ars amatoria. Liber primus, Vs. 42.
[28] Dux, Geschlecht und Gesellschaft, S. 40f.
[29] Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M 1983, S. 128f.
[30] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Tübingen 51980, S. 213. Dies gilt freilich primär für Oberschichten, in den unteren Schichten kommt es auf den Unterschied zwischen legitimen und illegitimen Nachkommen nicht so sehr an, aber die Konsequenzen sind ja auch nicht so gravierend. Vgl. hierzu Otto Borst, Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt/M 1983, S. 401.
[31] Lawrence Stone, Heirat und Ehe im englischen Adel des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Heidi Rosenbaum (Hrsg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt/M 1978, S. 444-479, S. 475.
[32] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, 442.
[33] Man findet noch in den „Heiratsverträgen“ und Testamenten des 16. Jahrhundert viele Belege dafür, daß die „Kinder im voraus wie Vieh verschachert“ wurden (Stone, Heirat und Ehe, S. 445).
[34] Phillipe Ariès, Die unauflösliche Ehe, in: Ariès, Béjin, Foucault u.a., Die Masken des Begehrens, S. 176-196, S. 180.
[35] Albrecht von Eyb, Ehebüchlein (1472), Leipzig 1986, S. 114.
[36] Das Sakrament der Eheschließung erfordert die freiwillige Zustimmung beider Partner. Das Ehesakrament wurde zum wichtigen Institut kirchlicher Interessenpolitik, aber langfristig auch zum Hebel gegen Konvenienzehen. Vgl. Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsverträge vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Frankfurt/M 1985.
[37] Für Beispiele und ihre Analyse verweise ich auf Kapitel IV.
[38] Dux, Geschlecht und Gesellschaft, S. 147.
[39] Ausnahmen von der Regel sind interessant, auch wegen der Wortwahl. Er „liebte“ seine Ehefrau „so zärtlich wie eine Mätresse“, heißt es in Karl Ludwig Wilhelm von Pöllnitz’ Schlüsselroman Das galante Sachsen (Amsterdam 1735, Reprint Dortmund 1979) vom Herrn von Manzera.
[40] Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990, S. 99
[41] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, S. 437.
[42] Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde., Bd. 2, München 1990, S. 530. Noch 1689 beantwortet Thomasius die Frage, ob wahrhafftige Liebe zwischen Eheleuten sich nothwendig in anderer Gesellschaft kund geben müsse, mit einem Nein. Zwar wird die Liebe in der Ehe als Möglichkeit in Betracht gezogen, doch sollten die Eheleute in Gesellschaft einander mit „indifferenter Höfflichkeit“ behandeln (in: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften, Halle 1701, S. 321-340, S. 326).
[43] Bumke, Höfische Kultur, S. 530.
[44] Eyb, Ehebüchlein, S. 12.
[45] Pierre de Bourdeille, Seigneur de Brantôme, Das Leben der galanten Damen. 2 Bde, Frankfurt/M 1981, Bd. 1., S. 60. Das Buch entstand im 16. Jahrhundert und erschien postum 1666.
[46] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, S. 437.
[47] Bumke, Höfische Kultur, S. 531.
[48] Luhmann, Liebe als Passion, S. 62.
[49] Bumke, Höfische Kultur, S. 515f.
[50] Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, S. 98.
[51] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, S. 397. Bumke, Höfische Kultur, S. 561f. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2, Frankfurt/M 1979, S. 105f.
[52] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, S. 398f.
[53] Vgl. Jean-Louis Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft, in: Ariès, Béjin, Foucault u.a., Die Masken des Begehrens, S. 147-164, S. 155f.
[54] Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 562. Der Schwerpunkt außerehelichen Verkehrs lag anscheinend eher auf der Quantität als auf dem Grad des Rafinements.
[55] Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, S. 99.
[56] Für einen sehr pointierten Beleg vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundriß des Familienrechts, § 14 in: Grundlage des Naturrechts (1796), Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1962, Bd. 2, S. 328.
[57] Luhmann, Liebe als Passion, S. 50f.
[58] Borst, Alltagsleben im Mittelalter, S. 398.
[59] Luhmann, Liebe als Passion, S. 59.
[60] Vgl. dagegen die Argumente für eine Eheschließung bei Erasmus (Elias, Über den Prozeß der ZivilisationBd. 2, S. 233f).
[61] Michel de Montaigne, Die Essais (1572/88), 2. Buch, 12. Kapitel, Leipzig 1986, S. 235.
[62] Luhmann, Liebe als Passion, S. 30.
[63] Choderlos de Laclos, Schlimme Liebschaften (1782), Frankfurt/M 1972, S. 98 oder Les Liaison dangereuses, Paris 1993, S. 91. Zu Valmonts Vorsätzen vgl. Schlimme Liebschaften, S. 31, 37.
[64] Luhmann, Liebe als Passion, S. 73.
[65] Luhmann, Liebe als Passion, S. 73.
[66] Daß er sich dann doch in Frau von Trouvel verliebt, ändert nichts daran, daß nahezu seine gesamte Kommunikation mit ihr auf Simulationen basiert. Aber auch seine Liebe zu ihr, versucht er zu verbergen – Frau von Merteuil gegenüber.
[67] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 196.
[68] Luhmann, Liebe als Passion, S. 23.
[69] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 411.
[70] Uwe Lindemann, Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Polyperspektivismus, Spannung und der iterative Modus der Narration bei Richardson, de Laclos, Tieck, Collins und Browning, in: Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen 1999, S. 48-81, S. 67 spricht hier vom „allwissenden Leser“, da der Leser des Briefwechsels die Dinge „überschaut“. Dies trifft zwar zu, aber eben nur die Verhältnisse, wie sie sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Lektüre entwickelt haben. Der „allwissende“ Erzähler dagegen weiß jederzeit, was geschehen wird, und kann, wenn er will, darauf verweisen. Aus dem Umgang mit dieser „Allwissenheit“ ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der Spannungserzeugung und -vernichtung. (Vgl. Kapitel IV)
[71] Auch die Abenteuer des Herrn Prévan, von denen der Vicomte berichtet, enden für eine der beteiligten drei Frauen im Kloster, für die beiden anderen in der Verbannung (S. 215). Die drei Damen sind übrigens alle verheiratet, betrogen werden von Prévan aber ihre Liebhaber, nicht die Ehemänner.
[72] Vgl. Lindemann, Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, S. 67.
[73] Darüber hinaus beschäftigt es die gesamte Epoche. Vgl. dazu auch Geitner, Die Sprache der Verstellung, a.a.O.
[74] Luhmann, Liebe als Passion, S. 132.
[75] Luhmann, Liebe als Passion, S. 97f.
[76] Benjamin Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen (Leipzig 1721, Vorrede, unpag.), zit. n. Conrad Wiedemann (Hrsg.), Der galante Stil, Tübingen 1969, S. 31.
[77] Vgl. den Artikel Galanterie in: Alain Montandon (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de la politesse et du savoir vivre, Paris 1995, S. 417-422.
[78] Christian Thomasius, Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? (1687), in: Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften, Halle 1701, S. 1-70, S. 15.
[79] Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen, S. 35.
[80] Luhmann, Liebe als Passion, S. 104.
[81] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 249.
[82] Das „neue Liebesideal“ – ein Import aus England – bedingt „ein anderes Frauenbild. Es setzt die tugendhafte, ihrer eigenen Körperlichkeit und damit ihrer Sexualität nicht bewußte Frau voraus“, meint Witte, Casanovas Tochter, Werthers Mutter, S. 95. Dies stimmt, doch leuchtet sein Beispiel der Schwedischen Gräfin von Gellert nicht ein, denn diese ist sich ihrer Sexualität bewußt und teilt sich darüber mit. Wir werden später (Kap. IV) den von Witte angesprochenen Übergang genauer untersuchen.
[83] So Daub, Intime Systeme, S. 29. Man müßte ohnehin ergänzen: und vergangener Zeiten. In den Liaison dangereuses finden sich drei Schichten. Die älteste ist die höfische Liebe, die zitiert wird, wenn sich die Marquise de Merteuil an das Ende einer langen Kette von Prüfungen setzt, die der Vicomte zu bestehen hat und an deren Ende dann ihre Eroberung stehen soll. Die dominanteste ist wohl die frivol-galante Intimkommunikation. Eine Form der modernen, protoromantischen Liebe findet sich sozusagen subkutan in der Beziehung zwischen Valmont und der Trouvel.
[84] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 355.
[85] Luhmann, Liebe als Passion, S. 24.
[86] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 226.
[87] Luhmann, Liebe als Passion, S. 65.
[88] Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen, S. 41, S. 36.
[89] Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit, S. 42.
[90] Luhmann, Liebe als Passion, S. 92.
[91] In: Französische Moralisten, hrsg. von Fritz Schalk, Zürich 1995, S. 414.
[92] Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 212.
[93] In: Französische Moralisten, S. 189.
[94] Vgl. dazu den Eintrag „Plaire“ im Dictionnaire raisonné de la politesse et du savoir vivre, S. 689ff. Es scheint, als ob man den art de plaire bis ins 18. Jahrhundert nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet hat, wie man anderen gefällt (vgl. Niklas Luhmann, Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1, Frankfurt/M 1980, S. 301-313, S. 306f), und nicht unter dem Aspekt, was mit dem passiert, dem etwas gefällt (außer daß er getäuscht und manipuliert wird). Die Empfindsamkeit, die sich dafür vor allem interessiert, betont diese Seite der Form des Plaire.
[95] Luhmann, Liebe als Passion, S. 110f.
[96] Die strukturellen Parallelen zur Geniesemantik fallen hier ins Auge: der Vorwurf, gegen die stratifizierten Regeln der Stiltrennung, des Dekorum etc. zu verstoßen, prallt am Genie ab, das sich auf in ihm selbst liegende, „natürliche“ Ressourcen beruft.
[97] VglGeitner, Die Sprache der Verstellung, S. 46.
[98] Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M 1997, S. 943.
[99] Pierre Bayle, Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist (1683, Hamburg 1741), Leipzig 1975, S. 383.
[100] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 13.
[101] Hans von Trotha, Angenehme Empfindungen. Medien einer populären Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert vom Landschaftsgarten bis zum Schauerroman, München 1999, S. 34.
[102] Luhmann, Liebe als Passion, S. 87.
[103] Samuel Richardson, Pamela or virtue rewarded ( 1740), London 1985, S. 285.
[104] Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 5.
[105] Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, S. 124.
[106] Luhmann, Liebe als Passion, S. 111, 113.
[107] Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 24.
[108] Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 263.
[109] Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 483.
[110] Ich zitiere diesmal nach Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 2 Bde, Leipzigo. J., Bd. 2, S. 430, weil die Übersetzung in Bezug auf Ablehnung der Allianzkriterien prägnanter ist. Die aus dem Kontext ersichtliche Tendenz ist aber allemal eindeutig. Vgl. auch Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (1762), Paderborn, München 1991, S. 444.
[111] Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (1762), Paderborn, München 1991, S. 526.
[112] Luhmann, Liebe als Passion, S. 89.
[113] Luhmann, Liebe als Passion, S. 60.
[114] Fichte, Grundriß des Familienrechts, § 21, S. 334f.
[115] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), in: Werke, Bd. 7, Frankfurt/M 1986, § 162, S. 310.
[116] Exemplarisch: Lenz, Romantische Liebe, S. 66-68.
[117] Luhmann, Liebe als Passion, S. 163.
[118] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 172, S. 324.
[119] Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 149f.
[120] Luhmann, Liebe als Passion, S. 181f.
[121] Samuel Richardson, Clarissa or The History of a Young Lady, London 1747-48 (London 1985), S. 149.
[122] Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 561.
[123] Luhmann, Liebe als Passion, S. 184.
[124] Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 571.
[125] Dorothea Schlegel, Florentin. Ein Roman (1801), Stuttgart 1993, S. 13.
[126] Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild (1818), in: Werke, München 1970, Bd. 2, S. 541.
[127] Friedrich Hölderlin, Diotima. Jüngere Fassung (1797), in: KSA Bd. 1, S. 227. In der mittleren Fassung von 1796 heißt es ganz ähnlich: „Unser Himmel wird bestehen Unergründlich sich verwandt / Hat sich, eh wir uns gesehen, Unser Innerstes gekannt.“ (KSA Bd. 1, S. 222)
[128] Hans-Peter Schwander, Alles um Liebe? Zur Position Goethes im modernen Liebesdiskurs, Opladen 1997, S. 8.
[129] Jutta Greis, Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 4.
[130] Der ausführlichste Forschungsbericht zur Liebe findet sich bei Julia Bobsin, Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in den deutschen Erzählliteratur 1770 – 1800, Tübingen 1994, S. 10-75. Hier fällt aber auch am deutlichsten auf, wie wenig die minuziösen Rekonstruktionen der Bedeutung des Kirchenrechts, der Ehegesetzgebung, der Medizin, der Pädagogik, der Popularphilosophie etc. für die Liebe, die Eheschließung, die Erotik, die Sexualität oder Onanie mit den Untersuchungen zur Liebenssemantik in der Literatur verbunden werden. Für einen kürzeren Überblick vgl. Hans-Peter Schwander, Alles um Liebe? Zur Position Goethes im modernen Liebesdiskurs, Opladen 1997. Schwander weist zurecht darauf hin, daß ein Großteil der literaturwissenschaftlichen Forschung im romantischen Liebesideal ein Telos der Liebesdiskurse gefunden hat: „Von diesem Ziel her, der Vereinigung der Liebenden in der Ehe, wird rückwärts alles als Durchsetzung dieser Tendenz aufgerollt“ (S. 9). Man kann diese Kritik, wie wir es oben getan haben, auf die Soziologie ausdehnen. Leider unterläßt es aber auch Schwander, den Anteil der literarischen Gattungen an der Wirkungsmacht dieser Teleologie der Liebe in Betracht zu ziehen. Merkwürdig ist auch, daß Schwander ausgerechnet den Diskursanalytikern Greis und Wegmann sowie Luhmann vorhält, die „Frage der Macht“ in der Liebe zu unterschlagen (S. 100). Schwander scheint an eine ohne weiteres sichtbare und souverän handelnde Macht zu denken, wenn er ihr Auftreten bei Greis, Wegmann oder Luhmann vermißt, die freilich die Machtverhältnisse in der Umwelt, im Kontext oder im Dispositiv der Liebe situieren. Schwanders Schneider-Lektüre (S. 101) belegt im Übrigen, daß er bisweilen die Analysen der historischen Semantik mit Aussagen über die Sache selbst verwechselt.

Greis, Drama Liebe und Günter Saße, Die Ordnung der Gefühle. Das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1996 haben ihre Forschung ausdrücklich auf die Rolle der Liebe in der Gattung des Dramas beschränkt. Um so verblüffender ist es, daß die sehr generellen – diskursanalytischen und systemsoziologischen – Überlegungen zur Liebessemantik in kein Verhältnis gesetzt werden zu ihrer spezifischen Formung durch diese literarische Gattung. Derselbe Vorwurf trifft auch Karl Eibls Lessing- und Goethe-Lektüren (Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt/M 1995) sowie Helmut Schmiedts Beiträge zu Gellert, Goethe und Armin in seiner Studie Liebe, Ehe, Ehebruch (Opladen 1993). Wir werden dagegen die Unterschiede der Liebe in der Literatur, die auf Gattungsdifferenzen zurückzuführen sind, immer wieder betonen.