Friedrich Kittler zeigt die heimliche Kriegs- und Mediengeschichte
der Kulturwissenschaften.
Autor: Von Niels Werber
Friedrich Kittler, Professor für Mediengeschichte und Ästhetik an der Humboldt-Universität Berlin, schreibt Kulturgeschichte als Militärgeschichte. Der Reiz seiner Thesen besteht in ihrer überraschenden Reichweite. Wer hätte etwa gedacht, dass sich Heideggers These von der "Geworfenheit" und des "Vorlaufens" einer neuen kombinierten Angriffstaktik von Stosstrupp und Artillerie im Ersten Weltkrieg verdankt? Wenn nun eine Kulturgeschichte vorliegt, dann darf man mit Recht erwarten, insgeheim eine Geschichte der "Waffengänge" und "kommender Weltkriege" zu hören.
"Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" hielt Friedrich Kittler im Sommersemester 1998 als Vorlesung. Weil "Betriebssysteme als Open Source nicht Woche um Woche abstürzen", konnten die Früchte von Kittlers Wochenenden zugleich in die "Lehre" und in die "Speichermedien" wandern. Was nicht nur von Vorteil ist: Ein Absturz des Betriebssystems hätte vielleicht den Verzicht einer wortwörtlichen Reproduktion der Vorlesung und ihrer Redundanzen zu Gunsten einer schlankeren, stringenteren Version gebracht.
Was haben nun die Berliner Studenten der Kulturwissenschaft gehört? Jedenfalls keine "cultural studies", deren Ratio auf der "Ignorierung aller kanonischen Texte" basiere. Vielmehr möchte Kittler "gewisse heilige Texte unserer Wissenschaft präsentieren", die sich beim zweiten Blick als "heilige Texte" so ziemlich jeder "so genannten" Geisteswissenschaft entpuppen: Vico und Herder, Schlegel und Hegel, Nietzsche, Freud und Heidegger. Die Auswahl sperrt sich dezidiert einer Amerikanisierung, die die Wissenschaften in den "verlogenen" Dienst von "Weltkonzernen" und "Lobbys" zwinge. Sie spürt Details auf, die es gestatten, die "heiligen Texte" in seine Mediengeschichte des Krieges einzuschreiben. An Volneys Kulturgeschichte ist also wichtig, dass Napoleon auf seiner Grundlage den Orientfeldzug planen konnte; an Hegel ist bemerkenswert, dass er am Anfang der Moderne die "Buchdruckerkunst" und das "Schiesspulver" lokalisiert: Pulver und Blei, Krieg und Medien also; Nietzsche hatte "sein erstes und letztes Buch im Donner der Schlacht von Metz konzipiert und empfangen" in einem Hotel, das "die Familie des Siegers, Helmuth Graf Moltkes, beherbergte"; und bei Freud versucht Kittler, "den Hinweis ernst zu nehmen, dass die Brüder erst dann wagten, ihren Vater zu ermorden und zu fressen, als der Kulturfortschritt ihnen eine neue Waffe bescherte"; Heidegger baut in "Sein und Zeit" Nietzsches "Kulturkampf" zum "totalen Krieg" aus, und Turing entscheidet den Zweiten Weltkrieg.
Der herkömmlichen Kulturwissenschaft galt der Mensch als Mängelwesen (Herder), als "Prothesengott" (Freud) und "tool making animal" (Franklin), als Subjekt technischer "Meinungsherrichtung" (Heidegger) oder einfach als Befehlsempfänger (Mauss). Kittler führt vor, welche "Medien und Maschinen" diesen Anthropologien immer schon vorgeschaltet sind.
Kittlers Konzeption von Geschichte findet ihre Logik vermutlich in der
Technikphilosophie Ernst Kapps, die 1877 "bündig formuliert, dass
ein Werkzeug das andere erzeugt". Aus Fotoapparat und Maschinengewehr entsteht
die Filmkamera; aus Film und Funk das Fernsehen, dessen Bildschirme sich
der Radarforschung verdanken, die wiederum immer schon mit dem Computer
verschaltet sind etc. "Capriccios" nennt Ernst Jünger in den Strahlungen
seine blitzlichtartigen Skizzen der Front und Etappe. Kittler hat seine
Vorlesung ein "Capriccio ganzer Jahrhunderte" genannt - vermutlich ganz
im Geiste Jüngers, also im Geiste einer Militärgeschichte der
Kultur, die mit "den Reden vom Menschen und vom Unbewussten gleichzeitig
Schluss" macht und allein die Kombination von Medien und Techniken gelten
lässt.
Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Wilhelm
Fink Verlag, München 2000. 260 S., 33.50 Fr.
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