Koschorke, Albrecht
Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts
München: Fink 1999. 507 S. 128,- DM
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Pfeiffer, Ludwig K.
Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. 618 S. 22 Abb. 78,- DM
(216)
 

Die Unvermeidlichkeit der Epochenschwelle
Das 18. Jahrhundert im Fokus der literarischen Anthropologie

Das 18. Jh. wird seit langem intensiv erforscht, ohne daß dieses Lieblingsobjekt der Literaturwissenschaften je außer Mode geriete. Schon die Geistesgeschichte feierte diese Epoche als Sieg der vitalen Klassik über die epigonale schöpferische Armut des Klassizismus, die Sozialgeschichte der Literatur fand hier ihren Helden, den Bürger. Auch die neuen Paradigmen der letzten Zeit haben im 18. Jh. einen überaus wichtigen Einschnitt ausgemacht: die Epochenschwelle zur Moderne. Die Begriffsgeschichte findet hier das Aufkommen von Kollektivsingularen wie "Kunst"; die Diskursanalyse verortet hier die Erfindung des Menschen durch die Humanwissenschaften und den Wechsel von der klassischen Souveränität zur modernen Biomacht; die Systemtheorie verzeichnet im Verlauf des 18. Jhs. die endgültige Durchsetzung des Primats funktionsspezifischer Differenzierung gegenüber alteuropäischen Typen der Stratifikation. Ihre Prominenz mag diese Epoche dem Umstand verdanken, daß an sie mit besonderer Aussicht auf Evidenzen das Temporalschema "vorher/nachher" angelegt werden kann. Die Gesellschaft: vorher ständisch, nachher modern; die Macht: zuvor repräsentativ, danach unauffällig disziplinierend; die Wissenschaften: vorher dogmatisch, nachher experimentell; die Literatur: erst regelpoetisch, dann genieästhetisch, oder auch: erst rhetorisch, dann individuell ... Literaturwissenschaftler, die sich jener Theorien bedienen, die im 18. Jh. eine Epochenwende dramatisieren, folgen nolens volens einer evolutionären Drift zur Untersuchung ihrer Konsequenzen für die Literatur, obwohl jede dieser Theorien für sich in Anspruch nimmt, auch andere Zeitabschnitte zu rekonstruieren. So haben systemtheoretische und diskursanalytische Studien zur Mediävistik oder zur Literatur der Gegenwart Seltenheitswert. Das 18. Jh. dagegen wird in zahllosen Einzelstudien immer genauer erschlossen.
Auch die literarische Anthropologie ist diesem Trend gefolgt; im Herbst 1999 sind zwei umfangreiche Studien erschienen, in denen die unvermeidliche Epochenschwelle eine zentrale Rolle spielt: Karl Ludwig Pfeiffers "Das Mediale und das Imaginäre" und Albrecht Koschorkes "Körperströme und Schriftverkehr". Beide Arbeiten stellen sich dezidiert in die Nachfolge der literarischen Anthropologie (vgl. Koschorke, S. 9f.; Pfeiffer, S. 57f.), die sie gleichermaßen durch eine medientheoretische Perspektive auszubauen oder zu ergänzen gedenken. Belehrt über die Historizität ihres Objekts (vgl. Koschorke, S. 9; Pfeiffer, S. 177), wendet sich die Anthropologie nun den Bedingungen der Möglichkeit des historischen Wandels zu und entdeckt in den Medien einen wesentlichen Faktor (vgl. Pfeiffer, S. 27f.). Als "Wissenschaft vom Menschen" hat sich die moderne Anthropologie keiner "zeitlosen", etwa biologischen Konstante zugewendet, sondern einem diskursiven Feld, dessen aktuelle "kulturelle Formen" (Pfeiffer, S. 27) sich der "Interdependenz von technischer Medialität und Semiose" verdanken (Koschorke, S. 9, 11). Ohne den "sozialen Austausch von Zeichen" wie Friedrich Kittler auf eine Determinante rein technischer Bedingungen zu reduzieren und ohne wie Niklas Luhmann die gleichsam 'harten' Konditionen" der "semantischen Prozeduren" zu vergessen, versucht die Mediologie Rückkopplungseffekte zwischen den "technologischen Voraussetzungen" und den kommunikativen Handhabungen dieser Voraussetzungen zu beschreiben (S. 11). Koschorke möchte "zu einem genuin 'mediologischen' Verständnis von Wirklichkeitskonstitutionen durch Zeichen kommen", wozu beide Aspekte des Zeichens ins Visier zu nehmen seien: der medientechnische und der soziale (S. 345). Die "enge Verflochtenheit der 'Formen' und 'Inhalte' von Zeichenvorgängen" will er am Beispiel der sogenannten "Empfindsamkeit" vorführen, deren "Schriftlichkeit" ("Form") in einen Zusammenhang der von ihr auf den Weg gebrachten "Affektmodellierung" ("Inhalt") gebracht werden soll (S. 11f.). Systemtheoretisch könnte man vielleicht reformulieren, es gehe um die Koevolution von Medienstruktur und Affektsemantik (vgl. S. 464f.): denn beide Bereiche finden aneinander das bevorzugte Milieu ihrer Evolution und stellen im Effekt die jeweiligen "Rahmenbedingungen von Literatur" (S. 13). Eine tiefgreifende "Medienevolution" im 18. Jh., von der die Durchsetzung der schriftlichen Kommunikation nur ein Teil darstellt (vgl. S. 12), führt zu einem ebenso grundlegenden Wandel der Vorstellungen vom Menschen; und umgekehrt werden Veränderungen der medialen Bedingungen der Kommunikation forciert von semantischen Entwicklungen. Vereinfacht gesagt: ohne Schrift keine empfindsame Briefkultur; aber ohne die neuen Intimsemantiken der Seelenfreundschaft und Liebe keine Explosion der Briefproduktion. Die Mediologie untersucht "Rückkopplungssysteme", die "beide Komponenten der Zeichenproduktion, ihre Materialität und ihre Bedeutungspotenz, wechselseitig aufeinander" beziehen (S. 11). Als Anthropologie versteht sie sich, weil sie den Menschen als Schnittpunkt dieser Koevolution ansieht. Sein "Körper", sein "kognitiver und memorativer Apparat", sein Affekthaushalt sind zum Schauplatz eines "Umbaus des Menschen" geworden, der sich semantischer und medialer Prozesse zu verdanken hat (S. 12). Die geistesgeschichtliche Epoche der Empfindsamkeit wird so dekonstruiert vor dem Hintergrund der medial promovierten "physiologischen, affektiven und semantischen Umbesetzungen" im Diskurs vom Menschen (ebd.). "Evolution", "Umbesetzung", "Wandel", "Umbau" - all dies sind Begriffe, die eine Beobachtung mit dem Schema "vorher/nachher" nahelegen.

Auch Karl Ludwig Pfeiffer versteht seinen Versuch einer medialen Anthropologie als "Verbindung von Human-, Medien- und kultureller Evolution" (S. 12). Auch er geht von "Koppelungen" (ebd.) dieser Veränderungen aus: etwa von Medien wie Literatur, Theater, Oper oder dem Sportspektakel (vgl. S. 13) mit den "Modi starker Erfahrung" und aisthetischer "Faszination" des Menschen (S. 27, 39). Keinesfalls, da ist sich Pfeiffer mit Koschorke einig, gehe es der Anthropologie um die Ergründung "menschlicher, gar konstanter Eigenschaften", sondern um "Selbstzuschreibungen" - Koschorke spricht von "Selbstbeschreibungen" (S. 13) -, die unter dem Etikett "Erfahrung" verhandelt würden (S. 39), die also immer schon als kommunikativ vermittelt verstanden werden müßte: "Erfahrung" wäre dann also eine Selbstbeschreibungsformel der Kommunikation (eine Konsequenz, die Pfeiffer nicht zieht). "Medial verfaßt", so Pfeiffer programmatisch, "ist solche Anthropologie, weil sie annimmt, daß durchsetzungsstarke, 'evidente' Erfahrungen vornehmlich in und durch Medien 'inszeniert' werden" (ebd.). Im Konzept psychophysischer Erfahrung (vgl. S. 572) vor allem performativer, inkludierender Medienangebote (Musik, Tanz, Drama, Rockkonzert, Sumô-Ringen) findet er den "Kreuzungspunkt von Kulturanthropologie, Psychologie [...] und Medientheorie" (S. 168). Kultur - als semantisches Reservoir für Selbstbeschreibungsformeln - wird verstanden als ein Faktor in einem dreiteiligen Entwicklungszusammenhang, an dem im übrigen noch die "Medien" und der "Mensch" teilhaben. Kultur läßt sich nur medial vermitteln, Medien können nur den menschlichen Erfahrungsbereich adressieren (vgl. S. 151), der menschliche Erfahrungsbereich wiederum ist immer schon kulturell überformt (vgl. S. 177, 27). Um es auch hier zu simplifizieren: kein origineller moderner Roman und keine intensiven Erfahrungen desselben ohne Medien (vgl. S. 70f., 124f.), und keine neuen "Medienkonfigurationen" ohne einen "kulturell-konstruktiven Vermittlungsbedarf ästhetischer Erfahrung" (S. 48). Am "Roman des 18. Jahrhunderts" (S. 70) findet Pfeiffer ein herausragendes Beispiel für die Wechselverhältnisse zwischen Medien, Kultur und Erfahrung, da seine Genese in einen tiefgreifenden Epochenwandel fällt: "Kulturelle Veränderungen erfordern intermediale Reflexionen. Das Schreiben und Lesen von Romanen [...] drängen auf eine Neuordnung der Beziehungen zwischen performativen, auch körperlich codierten und imaginativen Elementen unseres Verhaltens." (S. 95) Umgekehrt setzt das Angebot neuer Medienkopplungen, wie die Romanlektüre sie auf den Weg bringt (Medien, denn es geht ja nicht nur um das Medium Buch, sondern um die sozialen, psychischen und physischen Bedingungen der Rezeption, die beim Roman ganz andere sind als bei der gedruckten Bibel - der Medienbegriff wird im übrigen nicht definiert, sondern mit größter Großzügigkeit verwendet), auch eine entsprechende Nachfrage nach Erfahrungen voraus. Es sind "Inszenierungsbedürfnisse" (S. 119), die in der aisthetischen Erfahrung Erfüllung finden, wenn es denn den Medien oder Künsten (die Begriffe werden nicht unterschieden; vgl. S. 22, 52) gelingt, mit intensivierenden Medienkopplungen die Aufmerksamkeit zu fesseln (vgl. S. 327, 127, 278). "Anthropologisch gewendet heißt dies: daß das Verlangen nach Spannungserlebnissen gleichsam ständig auf der Pirsch ist." (S. 101; Hervorhebung - N.W.) Aber woher stammt dieses Verlangen? Auf diese Frage, die Koschorke erst gar nicht stellt, vermag Pfeiffer nur eine sehr problematische Antwort zu geben: aus den Bedürfnissen des Menschen als Menschen. Damit ist nicht gemeint, daß alle Künste eine bestimmte motorische und wahrnehmungsphysiologische Ausstattung voraussetzen. Vielmehr fungiert das immer gleiche menschliche "Verlangen nach Spannungserlebnissen" (ebd.) als der ursprüngliche Motor aller Evolutionen der Medien und Technologien, von neuen Kunstformen und spektakulären Experimenten. In den "Erfahrungsmedien" (S. 13) befriedigen sich immer wieder "quasi-ewige (und in meinem Sinne anthropologische) Formen des Begehrens" (S. 37). Die psycho-physische Ausstattung des Menschen liefert den Grund dafür, daß "Kulturen" aller Zeiten und Orte - und Pfeiffer spannt den Bogen von der Antike bis zur Gegenwart und vom fernen Osten bis zum vertrauten Westen - "Medien - traditionell: Künste" brauchen, die "packende, faszinierende Erfahrungen" ermöglichen, "ohne welche soziale wie private Lebensformen imaginativ austrocknen würden" (S. 22). Da mit dem "Verlust imaginär-vitaler Handlungsketten", die derartige Erfahrungen ermöglichen, die "Kulturen irgendwann auch ihre 'Handlungsfähigkeit' verlieren" (S. 22f.), kommt ihrem "Austrocknen" und den damit drohenden "Verlusten" immer die List der evolutionären Vernunft zuvor. Droht beispielsweise im Gefolge des Siegeszuges der Schriftkommunikation im 18. Jh. und seiner "Schreib- und Lesewut" der Kultur ein "Entzug von Körperlichkeit" (S. 122), so widmen sich die "Romane" ausgleichend den "durch andere Medien produzierten Erfahrungscodierungen" (S. 116). So gelangt man schließlich doch zu einer Kompensationstheorie, wie sie typisch für die ältere Anthropologie etwa Gehlenscher Provenienz ist: "Der Roman simuliert also Modi der Kommunikation, Interaktion und kulturellen Performanz, an denen frühere 'poetische' Medien mehr oder weniger direkt partizipierten." (S. 70) Die dem "18. Jahrhundert fast unvermeidlich zugeschriebene Systemdifferenzierung" (Austrocknung!) weckt "das Bedürfnis nach einer sie überspielenden, affektiven Codes nochmals Raum gebenden Geselligkeit", deren "interaktive Performanz" (S. 69), die den ganzen Menschen an der Erfahrung teilhaben läßt, statt ihn zu zerlegen, vom Roman künftig vorgetäuscht wird (vgl. S. 70). Ich will nicht an den Fakten zweifeln: das 18. Jh. ist gewiß der Schauplatz funktionaler Differenzierung, und seine Romane inszenieren oft genug eine Totalinklusion des Menschen, die in der sozialen Umwelt der Literatur nicht mehr zu finden ist; es geht mir vielmehr um die Kritik der Selbstverständlichkeit der Erklärung dieses Zusammentreffens als Kompensation.
Die "kulturanthropologisch interessierte Medientheorie" setzt voraus (statt dies erst einmal nachzuweisen), daß Medien die "Bedürfnisse" nach "fordernder Komplexität" und "entlastender [...] Erregung ausbalancieren" (S. 27). Die "monomedialen Verengungen" der Literatur (S. 23) finden so ihren Ausgleich im "Roman", der alle "Vorteile des Schriftsystems bis aufs äußerste ausreizt", um "den schriftlich unterdrückten Dimensionen von Performativität ein virtuelles Leben zu erhalten" (S. 83). Deshalb erkunde Goethes "Wilhelm Meister" das "Potential des Theatralischen" (S. 86f.), deshalb experimentiere Fielding mit der Implementierung der Malerei (Hogarth) in seine komischen Romane (vgl. S. 98) und deshalb folge die Literatur immer wieder ihrem Hang zur Synästhesie (vgl. S. 138). Selbst "dem auf Differenzierung setzenden systemtheoretischen Bewußtsein unserer Zeit" bleibe das "Bedürfnis" nach Erfahrungen der "Entdifferenzierung", die es im Roman finde, der das "Auseinanderdriften von sozialer Komplexität und imaginärer Potentialität noch einmal bündelt" (S. 117f.). Der Roman mache die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Einheit - und sei es auch fiktiv - erfahrbar. Pfeiffer folgert: "Es muß Erfahrungsvereinfachungen geben, die attraktiver sind als die von sozialen Systemen und Ideologien aufgezwungenen oder bereitgestellten Selektionen." (S. 118; Hervorhebung - N.W.) Es wundert nicht, daß gleich im nächsten Satz versichert wird: "Ich laufe damit keineswegs in die Fallstricke einer Kompensationstheorie." (Ebd.) Genau dies scheint mir nämlich der Fall zu sein. Um es noch einmal zu belegen: "Romane [werden] geschrieben, um die Verarmung kulturell-performativer Kompetenz zu diagnostizieren und um ihr entgegenzusteuern. Romane sind Formen kultureller Selbstbeschreibung, in denen ein Gespür für Verarmung und für potentielle Gegenmaßnahmen wachgehalten wird." (S. 83) Aus der anthropologischen Perspektive resultiert so eine geradezu normative Definition des Romans. "Pace Systemtheorie", ruft Pfeiffer (ebd.), doch dieses Friedensangebot muß wohl ausgeschlagen werden, denn die Systemsoziologie geht nicht normativ vor, sondern evolutionstheoretisch - und würde in einer Kultur, die bei schwindender Bedeutung an Performativität sofort für einen Ausgleich durch entsprechende Simulationen sorgte, eine kontingente, unwahrscheinliche, erklärungsbedürftige Form des Sozialen sehen und nicht den Normalfall, der seinerseits begründen soll, was eigentlich erst erklärt werden müßte: daß nämlich jegliche "Verarmung kulturell-performativer Kompetenz" sofort von neuen Medienkonfigurationen aufgefangen wird. Die Fallstricke, denen Pfeiffer nicht zu entgehen vermochte, sind die der Zirkularität. Gewiß, im 18. Jh. verliert die multimediale "poietische Performanz" (der Geselligkeit, der Rhetorik, der Künste ...) ihren altangestammten Primat an das Monomedium "poetischer Literatur" (S. 563); aber die Bemühungen, alle Folgen dieses Wandels als unvermeidliche Versuche zu deuten, die verlorene prästabilisierte Harmonie zwischen Kultur, Medien und Erfahrung zu restituieren, bleiben unbefriedigend. Zur "Mediengeschichte des Romans" gehört mehr als die fiktive Revitalisierung der von der Schrift verdrängten Potentiale "faszinierender Erfahrung" (S. 86).

Zieht sich durch Pfeiffers Buch die optimistische Gewißheit, daß uns die inkludierenden, performativen, intensiven, aktivierenden Effekte immer neuer multimedialer, enervierender und stimulierender Medienkopplungen für die Einschränkungen der Monomedien und -kulturen entschädigen, betont Albrecht Koschorke umgekehrt die Notwendigkeit der Einhegung jeder neuen Vielfalt: "Gegen die technisch möglich gewordene Abundanz bedarf es erneuerter Strategien der Verknappung." (S. 397) Dies klingt nach einer pessimistischen Kompensationstheorie. Doch obwohl er dem 18. Jh. denselben Befund ausstellt wie Pfeiffer, nämlich Epoche einer Transformation zu sein von "Interaktion in Kommunikation", und obwohl er die "Unterbrechung der Interaktion" mit "einer Intensivierung der kommunikativen Verbindungsmöglichkeiten" einhergehen sieht (S. 167), und obwohl konstatiert wird, daß "Medien die sich lockernden Interaktionsbindungen supplementieren" (S. 265), betreibt Koschorke keine Anthropologie, die die Einheit des Wandels in der Konstanz menschlicher Bedürfnisse finden würde. Medien und Semantik stehen für ihn in "funktionalen Beziehungen" (S. 167), Veränderungen werden daher nicht auf ein Modell der Summenkonstanz bezogen (vgl. dagegen Pfeiffer, S. 27; jeder Entzug an Performanz in der einen Medienkonfiguration wird durch erhöhte Performanz in einer anderen ausbalanciert), sondern als äquifunktionale Transformationen aufgefaßt: zum Beispiel führt die neue Privatheit der stillen (Roman-)Lektüre, die sich - anders als das gemeinsame, laute Lesen in einer Kontrollgruppe: der Familie, der Gesellschaft eines Salons etc. - der "Augenkontrolle" entzieht (S. 265), auch zu neuen Formen der Kontrolle: extern etwa durch Kanonbildung und Lektürereglements (vgl. S. 398), intern durch dem Text selbst eigene Verfahren der Rezeptionssteuerung. "Mit dem Grad der sozialen Dekontextualisierung wachsen die Anforderungen an eine von den Werken selbst ausgelegte Kontextsicherheit." (S. 298) Koschorke operiert mit der Theoriefigur von Problem und Lösung: Das Problem ist die Sicherung eines Kanals. Was gesendet wird, soll ankommen. Als Lösung fungierten im rhetorischen Zeitalter etwa die Zustimmung und Verstehen sichernden Topoi, die überzeugende actio oder das aptum (vgl. S. 297f.). Wir haben es hier mit Kausalschemata zu tun, die "zwischen Sprachform und induziertem Affekt" ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis installierten (S. 298). Für individuelle Imagination ist kein Platz mehr. Mit dem stillen Lesen in der Einsamkeit allerdings kommen die Rhetorik, die darin nur einen melancholischen Sonderfall gesehen hatte, und ihr Modell des "mündlichen Vortrags und seiner kollektiven Aufnahme" an ihr Ende (S. 293, 297). Das Problem der Wirkungskontrolle aber bleibt, zumal Machtfragen involviert sind (vgl. S. 399). Man scheint hier Foucaults Stimme hören zu können: "in jeder Gesellschaft wird die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, organisiert und kanalisiert" (Foucault, M.: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M. 1977, S. 7.).
Ist dem so, dann fragt sich nur: wie? Beispielsweise durch "Verwaltung der Phantasie", die "im 18. Jahrhundert zum Hauptgegenstand diätetischer Reglementierungen wird" und versucht, eine "luxurierende" Lektüre einzuhegen und die von ihr drohende "mentale Dissoziation in Grenzen zu halten" (S. 424f.). Dies gelingt nur sehr bedingt, wie der "Siegeszug" der "Originalität" in Produktion wie Rezeption belegt. Originelle Lektüren entziehen sich den stereotypen Anleitungen der Lesesuchtkritiker genauso wie der "Schöpfungsakt des Originalgenies" dem regelpoetischen "Modell des humanistisch-gelehrsamen Dichters" (S. 425). Wenn man aber wie die Aufklärung mit der Literatur Ziele verfolgt, dann müssen die veralteten, von der Interaktion her konzipierten "Techniken der Affizierung" durch neue, funktionsäquivalente Formen ersetzt werden: etwa durch Umbauten an der "Schriftsprache" selbst, die in der Epoche der Empfindsamkeit ein "Affektvolumen" erreicht, dem man zutrauen konnte, die Funktionen des "Realkontextes" und "sprachbegleitender Signale" einer Poesie unter Anwesenden zu übernehmen (S. 297). "Substitutionen" heißen denn auch zwei große Kapitel der Studie Koschorkes, in denen solche Transformationen beschrieben werden. Bezugspunkt dieser Umbauten des 18. Jhs. ist aber immer ein kommunikatives oder mediales Problem und nicht ein sich durch alle Veränderungen durchhaltendes Grundbedürfnis des Menschen und seiner Kultur.
"Die großen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts lassen sich als Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien beschreiben." (S. 15) Was da zirkuliert, sind Zeichen; worin sie zirkulieren, sind Medien; die Grenzen der Zirkulation sind soziale. So lauten die Prämissen der Studie. Der Mediologie geht es um die Rekonstruktion dieses Wandels des "sozialen Austauschs von Zeichen" auf dem Niveau eines "Systemverbundes", in dem die "einzelnen kommunikativen Akte aneinander anschließen, ohne über den Hebelpunkt einer von außen intervenierenden Steuerungsinstanz zu verfügen" (S. 10f.). Der Anschluß von Kommunikation an Kommunikation verläuft innerhalb eines strikt begrenzten Netzwerkes autopoietisch: der Systemverbund steuert sich selbst, er ist ein selbstorganisierendes Netzwerk und keine Trivialmaschine, könnte man systemtheoretisch reformulieren. "Mediale Prozesse" wie das Ende der Rhetorik und den Siegeszug der modernen Literatur oder den Wechsel von der fremdreferentiellen Konstitution des Charakters in der Temperamentenlehre zur selbstreferentiellen Bestimmung des Ich als Individuum versteht Koschorke "als operative Abläufe zum Zweck der Herstellung kultureller Realität", die in "ihrer faktischen Wirksamkeit zu untersuchen" seien, und das heißt: "im Zusammenhang der zeitgenössischen kommunikativen Praxis". Diese Praxis nun sei nirgends anders anzutreffen als in den "zeitgenössischen Texten" und den darin enthaltenden "Selbstbeschreibungen des damaligen Kommunikationssystems" (S. 272). Spräche man es nur aus: so wäre die elementare Einheit der Mediologie also die Kommunikation - und nicht der Mensch und auch nicht die technischen Medien. Denn allein in bezug auf die in den Texten greifbare Semantik sind die "funktionalen Leistungen der Schrift und von Medien im allgemeinen erkennbar zu machen" (S. 345). Wo die Systemtheorie Variationen der historischen Semantik auf gesellschaftsstrukturelle Prozesse bezieht, fragt die Mediologie nach der Kopplung von semantischer und medialer Evolution. Dies klingt sehr ähnlich, ein Unterschied wenigstens aber fällt auf: wenn die Systemtheorie die Medien(techniken) der Kommunikation bislang nur marginal, ohne Sinn für Details und jedenfalls als Umwelt der Gesellschaft behandelt hat, so verzichtet die Mediologie auf die Analyse der Formen sozialer Differenzierung. Darin liegt ihr Nachteil: denn sie differenziert nicht nach dem systemischen Status einer Kommunikation als Beitrag zur Wissenschaft, zur Literatur, zur Politik, zur Religion etc. und interessiert sich dementsprechend auch nicht für die unterschiedlichen Grade der Anschlußfähigkeit eines Beitrags zu unterschiedlichen Systemkommunikationen. So werden etwa die über dem Problem der "Lesesucht" entstehende Ratgeberliteratur und die stumme, einsame Romanlektüre als zwei Seiten eines Dispositivs der "Zirkulation" gedeutet, ohne daß sich die Frage stellte, ob die medizinischen, psychologischen und moralischen Traktate die Teilnehmer der literarischen Kommunikation des Romans überhaupt erreichen. Die Wirksamkeit der Strategien der Verknappung wären in den Romanen selbst nachzuweisen. Doch liegt in der Abblendung von Systemdifferenzierungen auch ein Vorteil: denn die Mediologie bekommt Bedingungen in den Blick, die gleichsam quer zu den Sozialsystemen die "Zirkulation" der "Zeichen" schlechthin betreffen.
Koschorkes Darstellung der Umwälzungen des 18. Jhs. greift weit aus. Beschrieben wird der Wandel von der Oberflächlichkeit höfischer Salonkonversation (vgl. S. 16f.) zur "Tiefe" empfindsamer Seelenliebe, vom pneumatisch-fluiden Leib, dessen Grenzen weiter sind als die der Haut, zum Körper als klar von seiner Umwelt unterschiedenen Funktionseinheit von Organen (vgl. S. 47f., 263), vom galanten Liebesbrief (vgl. S. 174ff.), der sexuelle Ziele verfolgt, zur empfindsamen Liebe im "Zeichen der Nichtpräsenz", die sich mit medial stimulierten Gefühlen begnügt und Sexualität substituiert (vgl. S. 147f.), von den kausalen, "alten Techniken der poetischen Affizierung" (S. 297) zur Autonomie der Produktion und Rezeption (vgl. S. 385f.), von der Natürlichkeit der Lust zur unschuldigen Natur (vgl. S. 444, 437ff.) oder von der Ursprünglichkeit des Bösen zum ursprünglich Reinen (vgl. S. 446f.). All diese Aussagen werden dicht am Material entwickelt und breit belegt. Aber was zumindest genau so wichtig ist: sie werden zu interessanten Thesen generalisiert, die das gesamte Feld der Semantik erschließen. So bezeichnet Koschorke beispielsweise den Übergang von den alteuropäischen Denkformen der Physik, Physiologie, Humoralpathologie, der Temperamentenlehre, Diätetik, Mnemotechnik und Rhetorik zur modernen Anthropologie, zur Assoziationspsychologie, Pädagogik und Hermeneutik als "Wechsel von analogischen Relationierungen zwischen Vorstellungen und Sachen zu reflexiven und damit in gewisser Hinsicht lockereren Kopplungen" (S. 349). Es geht um die Ablösung alteuropäischer Kausalschemata, die man als analoge oder "feste Kopplung" zwischen Ursache und Wirkung beschreiben könnte. Ein "wohl gefaster Brief", ein "artiges Schreiben" führe denn wohl schon zum erfolgreichen Abschluß eines "Liebes=Commerce", unterstellt ein galanter Traktat: von einer "konventionsgemäßen rhetorischen Operation" wird eine ebenso konventionelle Reaktion erwartet (S. 175), während der Liebesbrief am Ausgang des 18. Jhs. nichts weniger sein darf als regelgerecht und vorhersehbar. Führten einst der richtige Topos, die gelungene Formulierung, das angemessene Dekorum mit derselben Gewißheit zum Erfolg wie eine standesgemäße Werbung, so verlieren sie ihren Status als Ursachen, die ganz bestimmte Wirkungen zeitigen. Denn der Rezipient ist nicht länger eine Trivialmaschine, die durch ihren Charakter, ihren Stand oder ihr Sternzeichen vollständig determiniert und daher auch kalkulierbar gewesen ist, sondern ein in der Reflexion auf sich selbst entstehendes Individuum (vgl. S. 385). Die rhetorische oder humoralpathologische Überzeugung, auf der Basis eines bestimmten Wissens und bestimmter Regeln mittels bestimmter Eingaben die erwünschten Ausgaben zu erzielen: etwa passionierte Liebe, trifft nach der 'operativen Schließung' des Menschen (S. 263) auf den "Störfaktor" einer "irreduziblen Individualität" (S. 375). Wie ein Individuum auf eine Offerte reagiert, hängt nun nicht allein von der Offerte ab, sondern von der Individualität. Zustandsänderungen (etwa zu lieben beginnen) sind nicht strikt an bestimmte Ursachen gekoppelte Wirkungen, sondern verdanken sich einer internen Verarbeitung äußerer Anlässe. So beginnt es auch die Medizin zu sehen: "Hatte man Nerven zuvor als Kanäle betrachtet, so werden sie [...] zu Medien im eigentlichen Sinn dieses Begriffs, die in sich selbst zurücklaufend endogene Effekte hervorbringen und zugleich nach außen hin in wachsendem Maß refraktäre Wirkungen zeigen." (S. 371) In Luhmanns Worten: "Die Form des Relationierens auf Selbstreferenzen, die ein System zugleich autonom und verstärkt umweltabhängig macht, wird sozusagen am Menschen geprobt." (Luhmann, N.: "Frühneuzeitliche Anthropologie". In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. I. Frankfurt/M. 1980, S. 162-234, S. 194) Koschorke selbst bringt seine Analysen des Wandels der sozialen Zirkulation der Zeichen auf die systemtheoretische Formel eines zunehmenden "Abbaus von System-Umwelt-Entsprechungen" (S. 452). Dieser Trend zur Selbstorganisation oder losen Kopplung von externen Anlässen und ihrem systemischen Processing läßt sich am Konzept des Gedächtnisses nachweisen, am Körper (vgl. S. 371), an der Rezeption von Texten (vgl. S. 374f.), an der romantischen Liebe oder auch am Verständnis der Kunst als autonomer (vgl. S. 424). Was man im 18. Jh. auf breiter Front beobachten kann, ist eine Abkopplung des Systems von seiner Umwelt, die mit einer steten Steigerung an Binnenkomplexität einhergeht, die "wiederum ein höheres Maß an Selektivität in bezug auf Einwirkungen von außen mit sich bringt" (S. 452). Noch einmal anders formuliert: ein "Umweltreiz" führt im System allein zu "systemgesteuerten" Reaktionen (S. 453). Ob ein Liebesbrief sein Ziel erreicht, hängt nach dem Ende der Rhetorik nicht mehr von der Rhetorik ab, sondern von der Person, die ihn liest. Und auch die Wirkung von Kunst und Literatur beruht auf der Eigentümlichkeit des Rezipienten - deshalb bemüht sich die Lesesuchtkritik noch einmal nachhaltig um eine Konformität der Rezeption, weil sie weiß, daß eine "geniale", idiosynkratische Rezeption möglich ist (S. 425).
In diese großartige "mediologische" Skizze der medialen und semantischen Rahmenbedingungen des 18. Jhs. stellt Koschorke seine - wenigen - Literaturanalysen. Seine Arbeit, die ursprünglich als "Studie über das empfindsame Liebesschrifttum" (S. 11) geplant war, hat sich globaleren Fragen zugewendet und dezidiert auf den Anspruch verzichtet, "unmittelbar zur Interpretation von literarischen Werken beizutragen" (S. 13). Das ist schade, denn die Lektüren der Romane Gellerts, La Roches, Rousseaus, Millers oder der Briefwechsel Klopstocks, Gleims oder Herders sind aufschlußreich und belegen die mögliche Fruchtbarkeit der Mediologie. Hier wünschte man sich mehr. Dagegen wirken die lange Diskussion des Schriftbegriffs Derridas und die metakritische Aufarbeitung der Entwicklung der Zeichentheorie und des Konzeptes der Repräsentation fehl am Platze. Hier hätte vielleicht auf die Demonstrationen einer ausgreifenden Gelehrsamkeit verzichtet werden können zugunsten einer intensiveren Diskussion der Primärquellen. Will man sich eine Wertung erlauben, dann ist "Körperströme und Schriftverkehr" gleichwohl einer der anregendsten und profundesten Beiträge zum 18. Jh. der letzten Jahre. So lange es interessante neue Paradigmen gibt, wird man dieser Epoche nicht müde werden.
 

Niels Werber, Bochum
 

Referatedienst zur Literaturwissenschaft 31 (1999) 4