Pfeiffer, Ludwig K.
Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer
Medientheorie
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. 618 S. 22 Abb. 78,- DM
(216)
Die Unvermeidlichkeit der Epochenschwelle
Das 18. Jahrhundert im Fokus der literarischen Anthropologie
Das 18. Jh. wird seit langem intensiv erforscht, ohne daß dieses
Lieblingsobjekt der Literaturwissenschaften je außer Mode geriete.
Schon die Geistesgeschichte feierte diese Epoche als Sieg der vitalen Klassik
über die epigonale schöpferische Armut des Klassizismus, die
Sozialgeschichte der Literatur fand hier ihren Helden, den Bürger.
Auch die neuen Paradigmen der letzten Zeit haben im 18. Jh. einen überaus
wichtigen Einschnitt ausgemacht: die Epochenschwelle zur Moderne. Die Begriffsgeschichte
findet hier das Aufkommen von Kollektivsingularen wie "Kunst"; die Diskursanalyse
verortet hier die Erfindung des Menschen durch die Humanwissenschaften
und den Wechsel von der klassischen Souveränität zur modernen
Biomacht; die Systemtheorie verzeichnet im Verlauf des 18. Jhs. die endgültige
Durchsetzung des Primats funktionsspezifischer Differenzierung gegenüber
alteuropäischen Typen der Stratifikation. Ihre Prominenz mag diese
Epoche dem Umstand verdanken, daß an sie mit besonderer Aussicht
auf Evidenzen das Temporalschema "vorher/nachher" angelegt werden kann.
Die Gesellschaft: vorher ständisch, nachher modern; die Macht: zuvor
repräsentativ, danach unauffällig disziplinierend; die Wissenschaften:
vorher dogmatisch, nachher experimentell; die Literatur: erst regelpoetisch,
dann genieästhetisch, oder auch: erst rhetorisch, dann individuell
... Literaturwissenschaftler, die sich jener Theorien bedienen, die im
18. Jh. eine Epochenwende dramatisieren, folgen nolens volens einer evolutionären
Drift zur Untersuchung ihrer Konsequenzen für die Literatur, obwohl
jede dieser Theorien für sich in Anspruch nimmt, auch andere Zeitabschnitte
zu rekonstruieren. So haben systemtheoretische und diskursanalytische Studien
zur Mediävistik oder zur Literatur der Gegenwart Seltenheitswert.
Das 18. Jh. dagegen wird in zahllosen Einzelstudien immer genauer erschlossen.
Auch die literarische Anthropologie ist diesem Trend gefolgt; im Herbst
1999 sind zwei umfangreiche Studien erschienen, in denen die unvermeidliche
Epochenschwelle eine zentrale Rolle spielt: Karl Ludwig Pfeiffers "Das
Mediale und das Imaginäre" und Albrecht Koschorkes "Körperströme
und Schriftverkehr". Beide Arbeiten stellen sich dezidiert in die Nachfolge
der literarischen Anthropologie (vgl. Koschorke, S. 9f.; Pfeiffer, S. 57f.),
die sie gleichermaßen durch eine medientheoretische Perspektive auszubauen
oder zu ergänzen gedenken. Belehrt über die Historizität
ihres Objekts (vgl. Koschorke, S. 9; Pfeiffer, S. 177), wendet sich die
Anthropologie nun den Bedingungen der Möglichkeit des historischen
Wandels zu und entdeckt in den Medien einen wesentlichen Faktor (vgl. Pfeiffer,
S. 27f.). Als "Wissenschaft vom Menschen" hat sich die moderne Anthropologie
keiner "zeitlosen", etwa biologischen Konstante zugewendet, sondern einem
diskursiven Feld, dessen aktuelle "kulturelle Formen" (Pfeiffer, S. 27)
sich der "Interdependenz von technischer Medialität und Semiose" verdanken
(Koschorke, S. 9, 11). Ohne den "sozialen Austausch von Zeichen" wie Friedrich
Kittler auf eine Determinante rein technischer Bedingungen zu reduzieren
und ohne wie Niklas Luhmann die gleichsam 'harten' Konditionen" der "semantischen
Prozeduren" zu vergessen, versucht die Mediologie Rückkopplungseffekte
zwischen den "technologischen Voraussetzungen" und den kommunikativen Handhabungen
dieser Voraussetzungen zu beschreiben (S. 11). Koschorke möchte "zu
einem genuin 'mediologischen' Verständnis von Wirklichkeitskonstitutionen
durch Zeichen kommen", wozu beide Aspekte des Zeichens ins Visier zu nehmen
seien: der medientechnische und der soziale (S. 345). Die "enge Verflochtenheit
der 'Formen' und 'Inhalte' von Zeichenvorgängen" will er am Beispiel
der sogenannten "Empfindsamkeit" vorführen, deren "Schriftlichkeit"
("Form") in einen Zusammenhang der von ihr auf den Weg gebrachten "Affektmodellierung"
("Inhalt") gebracht werden soll (S. 11f.). Systemtheoretisch könnte
man vielleicht reformulieren, es gehe um die Koevolution von Medienstruktur
und Affektsemantik (vgl. S. 464f.): denn beide Bereiche finden aneinander
das bevorzugte Milieu ihrer Evolution und stellen im Effekt die jeweiligen
"Rahmenbedingungen von Literatur" (S. 13). Eine tiefgreifende "Medienevolution"
im 18. Jh., von der die Durchsetzung der schriftlichen Kommunikation nur
ein Teil darstellt (vgl. S. 12), führt zu einem ebenso grundlegenden
Wandel der Vorstellungen vom Menschen; und umgekehrt werden Veränderungen
der medialen Bedingungen der Kommunikation forciert von semantischen Entwicklungen.
Vereinfacht gesagt: ohne Schrift keine empfindsame Briefkultur; aber ohne
die neuen Intimsemantiken der Seelenfreundschaft und Liebe keine Explosion
der Briefproduktion. Die Mediologie untersucht "Rückkopplungssysteme",
die "beide Komponenten der Zeichenproduktion, ihre Materialität und
ihre Bedeutungspotenz, wechselseitig aufeinander" beziehen (S. 11). Als
Anthropologie versteht sie sich, weil sie den Menschen als Schnittpunkt
dieser Koevolution ansieht. Sein "Körper", sein "kognitiver und memorativer
Apparat", sein Affekthaushalt sind zum Schauplatz eines "Umbaus des Menschen"
geworden, der sich semantischer und medialer Prozesse zu verdanken hat
(S. 12). Die geistesgeschichtliche Epoche der Empfindsamkeit wird so dekonstruiert
vor dem Hintergrund der medial promovierten "physiologischen, affektiven
und semantischen Umbesetzungen" im Diskurs vom Menschen (ebd.). "Evolution",
"Umbesetzung", "Wandel", "Umbau" - all dies sind Begriffe, die eine Beobachtung
mit dem Schema "vorher/nachher" nahelegen.
Auch Karl Ludwig Pfeiffer versteht seinen Versuch einer medialen Anthropologie
als "Verbindung von Human-, Medien- und kultureller Evolution" (S. 12).
Auch er geht von "Koppelungen" (ebd.) dieser Veränderungen aus: etwa
von Medien wie Literatur, Theater, Oper oder dem Sportspektakel (vgl. S.
13) mit den "Modi starker Erfahrung" und aisthetischer "Faszination" des
Menschen (S. 27, 39). Keinesfalls, da ist sich Pfeiffer mit Koschorke einig,
gehe es der Anthropologie um die Ergründung "menschlicher, gar konstanter
Eigenschaften", sondern um "Selbstzuschreibungen" - Koschorke spricht von
"Selbstbeschreibungen" (S. 13) -, die unter dem Etikett "Erfahrung" verhandelt
würden (S. 39), die also immer schon als kommunikativ vermittelt verstanden
werden müßte: "Erfahrung" wäre dann also eine Selbstbeschreibungsformel
der Kommunikation (eine Konsequenz, die Pfeiffer nicht zieht). "Medial
verfaßt", so Pfeiffer programmatisch, "ist solche Anthropologie,
weil sie annimmt, daß durchsetzungsstarke, 'evidente' Erfahrungen
vornehmlich in und durch Medien 'inszeniert' werden" (ebd.). Im Konzept
psychophysischer Erfahrung (vgl. S. 572) vor allem performativer, inkludierender
Medienangebote (Musik, Tanz, Drama, Rockkonzert, Sumô-Ringen) findet
er den "Kreuzungspunkt von Kulturanthropologie, Psychologie [...] und Medientheorie"
(S. 168). Kultur - als semantisches Reservoir für Selbstbeschreibungsformeln
- wird verstanden als ein Faktor in einem dreiteiligen Entwicklungszusammenhang,
an dem im übrigen noch die "Medien" und der "Mensch" teilhaben. Kultur
läßt sich nur medial vermitteln, Medien können nur den
menschlichen Erfahrungsbereich adressieren (vgl. S. 151), der menschliche
Erfahrungsbereich wiederum ist immer schon kulturell überformt (vgl.
S. 177, 27). Um es auch hier zu simplifizieren: kein origineller moderner
Roman und keine intensiven Erfahrungen desselben ohne Medien (vgl. S. 70f.,
124f.), und keine neuen "Medienkonfigurationen" ohne einen "kulturell-konstruktiven
Vermittlungsbedarf ästhetischer Erfahrung" (S. 48). Am "Roman des
18. Jahrhunderts" (S. 70) findet Pfeiffer ein herausragendes Beispiel für
die Wechselverhältnisse zwischen Medien, Kultur und Erfahrung, da
seine Genese in einen tiefgreifenden Epochenwandel fällt: "Kulturelle
Veränderungen erfordern intermediale Reflexionen. Das Schreiben und
Lesen von Romanen [...] drängen auf eine Neuordnung der Beziehungen
zwischen performativen, auch körperlich codierten und imaginativen
Elementen unseres Verhaltens." (S. 95) Umgekehrt setzt das Angebot neuer
Medienkopplungen, wie die Romanlektüre sie auf den Weg bringt (Medien,
denn es geht ja nicht nur um das Medium Buch, sondern um die sozialen,
psychischen und physischen Bedingungen der Rezeption, die beim Roman ganz
andere sind als bei der gedruckten Bibel - der Medienbegriff wird im übrigen
nicht definiert, sondern mit größter Großzügigkeit
verwendet), auch eine entsprechende Nachfrage nach Erfahrungen voraus.
Es sind "Inszenierungsbedürfnisse" (S. 119), die in der aisthetischen
Erfahrung Erfüllung finden, wenn es denn den Medien oder Künsten
(die Begriffe werden nicht unterschieden; vgl. S. 22, 52) gelingt, mit
intensivierenden Medienkopplungen die Aufmerksamkeit zu fesseln (vgl. S.
327, 127, 278). "Anthropologisch gewendet heißt dies: daß das
Verlangen nach Spannungserlebnissen gleichsam ständig auf der Pirsch
ist." (S. 101; Hervorhebung - N.W.) Aber woher stammt dieses Verlangen?
Auf diese Frage, die Koschorke erst gar nicht stellt, vermag Pfeiffer nur
eine sehr problematische Antwort zu geben: aus den Bedürfnissen des
Menschen als Menschen. Damit ist nicht gemeint, daß alle Künste
eine bestimmte motorische und wahrnehmungsphysiologische Ausstattung voraussetzen.
Vielmehr fungiert das immer gleiche menschliche "Verlangen nach Spannungserlebnissen"
(ebd.) als der ursprüngliche Motor aller Evolutionen der Medien und
Technologien, von neuen Kunstformen und spektakulären Experimenten.
In den "Erfahrungsmedien" (S. 13) befriedigen sich immer wieder "quasi-ewige
(und in meinem Sinne anthropologische) Formen des Begehrens" (S. 37). Die
psycho-physische Ausstattung des Menschen liefert den Grund dafür,
daß "Kulturen" aller Zeiten und Orte - und Pfeiffer spannt den Bogen
von der Antike bis zur Gegenwart und vom fernen Osten bis zum vertrauten
Westen - "Medien - traditionell: Künste" brauchen, die "packende,
faszinierende Erfahrungen" ermöglichen, "ohne welche soziale wie private
Lebensformen imaginativ austrocknen würden" (S. 22). Da mit dem "Verlust
imaginär-vitaler Handlungsketten", die derartige Erfahrungen ermöglichen,
die "Kulturen irgendwann auch ihre 'Handlungsfähigkeit' verlieren"
(S. 22f.), kommt ihrem "Austrocknen" und den damit drohenden "Verlusten"
immer die List der evolutionären Vernunft zuvor. Droht beispielsweise
im Gefolge des Siegeszuges der Schriftkommunikation im 18. Jh. und seiner
"Schreib- und Lesewut" der Kultur ein "Entzug von Körperlichkeit"
(S. 122), so widmen sich die "Romane" ausgleichend den "durch andere Medien
produzierten Erfahrungscodierungen" (S. 116). So gelangt man schließlich
doch zu einer Kompensationstheorie, wie sie typisch für die ältere
Anthropologie etwa Gehlenscher Provenienz ist: "Der Roman simuliert also
Modi der Kommunikation, Interaktion und kulturellen Performanz, an denen
frühere 'poetische' Medien mehr oder weniger direkt partizipierten."
(S. 70) Die dem "18. Jahrhundert fast unvermeidlich zugeschriebene Systemdifferenzierung"
(Austrocknung!) weckt "das Bedürfnis nach einer sie überspielenden,
affektiven Codes nochmals Raum gebenden Geselligkeit", deren "interaktive
Performanz" (S. 69), die den ganzen Menschen an der Erfahrung teilhaben
läßt, statt ihn zu zerlegen, vom Roman künftig vorgetäuscht
wird (vgl. S. 70). Ich will nicht an den Fakten zweifeln: das 18. Jh. ist
gewiß der Schauplatz funktionaler Differenzierung, und seine Romane
inszenieren oft genug eine Totalinklusion des Menschen, die in der sozialen
Umwelt der Literatur nicht mehr zu finden ist; es geht mir vielmehr um
die Kritik der Selbstverständlichkeit der Erklärung dieses Zusammentreffens
als Kompensation.
Die "kulturanthropologisch interessierte Medientheorie" setzt voraus
(statt dies erst einmal nachzuweisen), daß Medien die "Bedürfnisse"
nach "fordernder Komplexität" und "entlastender [...] Erregung ausbalancieren"
(S. 27). Die "monomedialen Verengungen" der Literatur (S. 23) finden so
ihren Ausgleich im "Roman", der alle "Vorteile des Schriftsystems bis aufs
äußerste ausreizt", um "den schriftlich unterdrückten Dimensionen
von Performativität ein virtuelles Leben zu erhalten" (S. 83). Deshalb
erkunde Goethes "Wilhelm Meister" das "Potential des Theatralischen" (S.
86f.), deshalb experimentiere Fielding mit der Implementierung der Malerei
(Hogarth) in seine komischen Romane (vgl. S. 98) und deshalb folge die
Literatur immer wieder ihrem Hang zur Synästhesie (vgl. S. 138). Selbst
"dem auf Differenzierung setzenden systemtheoretischen Bewußtsein
unserer Zeit" bleibe das "Bedürfnis" nach Erfahrungen der "Entdifferenzierung",
die es im Roman finde, der das "Auseinanderdriften von sozialer Komplexität
und imaginärer Potentialität noch einmal bündelt" (S. 117f.).
Der Roman mache die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Einheit - und
sei es auch fiktiv - erfahrbar. Pfeiffer folgert: "Es muß Erfahrungsvereinfachungen
geben, die attraktiver sind als die von sozialen Systemen und Ideologien
aufgezwungenen oder bereitgestellten Selektionen." (S. 118; Hervorhebung
- N.W.) Es wundert nicht, daß gleich im nächsten Satz versichert
wird: "Ich laufe damit keineswegs in die Fallstricke einer Kompensationstheorie."
(Ebd.) Genau dies scheint mir nämlich der Fall zu sein. Um es noch
einmal zu belegen: "Romane [werden] geschrieben, um die Verarmung kulturell-performativer
Kompetenz zu diagnostizieren und um ihr entgegenzusteuern. Romane sind
Formen kultureller Selbstbeschreibung, in denen ein Gespür für
Verarmung und für potentielle Gegenmaßnahmen wachgehalten wird."
(S. 83) Aus der anthropologischen Perspektive resultiert so eine geradezu
normative Definition des Romans. "Pace Systemtheorie", ruft Pfeiffer (ebd.),
doch dieses Friedensangebot muß wohl ausgeschlagen werden, denn die
Systemsoziologie geht nicht normativ vor, sondern evolutionstheoretisch
- und würde in einer Kultur, die bei schwindender Bedeutung an Performativität
sofort für einen Ausgleich durch entsprechende Simulationen sorgte,
eine kontingente, unwahrscheinliche, erklärungsbedürftige Form
des Sozialen sehen und nicht den Normalfall, der seinerseits begründen
soll, was eigentlich erst erklärt werden müßte: daß
nämlich jegliche "Verarmung kulturell-performativer Kompetenz" sofort
von neuen Medienkonfigurationen aufgefangen wird. Die Fallstricke, denen
Pfeiffer nicht zu entgehen vermochte, sind die der Zirkularität. Gewiß,
im 18. Jh. verliert die multimediale "poietische Performanz" (der Geselligkeit,
der Rhetorik, der Künste ...) ihren altangestammten Primat an das
Monomedium "poetischer Literatur" (S. 563); aber die Bemühungen, alle
Folgen dieses Wandels als unvermeidliche Versuche zu deuten, die verlorene
prästabilisierte Harmonie zwischen Kultur, Medien und Erfahrung zu
restituieren, bleiben unbefriedigend. Zur "Mediengeschichte des Romans"
gehört mehr als die fiktive Revitalisierung der von der Schrift verdrängten
Potentiale "faszinierender Erfahrung" (S. 86).
Zieht sich durch Pfeiffers Buch die optimistische Gewißheit, daß
uns die inkludierenden, performativen, intensiven, aktivierenden Effekte
immer neuer multimedialer, enervierender und stimulierender Medienkopplungen
für die Einschränkungen der Monomedien und -kulturen entschädigen,
betont Albrecht Koschorke umgekehrt die Notwendigkeit der Einhegung jeder
neuen Vielfalt: "Gegen die technisch möglich gewordene Abundanz bedarf
es erneuerter Strategien der Verknappung." (S. 397) Dies klingt nach einer
pessimistischen Kompensationstheorie. Doch obwohl er dem 18. Jh. denselben
Befund ausstellt wie Pfeiffer, nämlich Epoche einer Transformation
zu sein von "Interaktion in Kommunikation", und obwohl er die "Unterbrechung
der Interaktion" mit "einer Intensivierung der kommunikativen Verbindungsmöglichkeiten"
einhergehen sieht (S. 167), und obwohl konstatiert wird, daß "Medien
die sich lockernden Interaktionsbindungen supplementieren" (S. 265), betreibt
Koschorke keine Anthropologie, die die Einheit des Wandels in der Konstanz
menschlicher Bedürfnisse finden würde. Medien und Semantik stehen
für ihn in "funktionalen Beziehungen" (S. 167), Veränderungen
werden daher nicht auf ein Modell der Summenkonstanz bezogen (vgl. dagegen
Pfeiffer, S. 27; jeder Entzug an Performanz in der einen Medienkonfiguration
wird durch erhöhte Performanz in einer anderen ausbalanciert), sondern
als äquifunktionale Transformationen aufgefaßt: zum Beispiel
führt die neue Privatheit der stillen (Roman-)Lektüre, die sich
- anders als das gemeinsame, laute Lesen in einer Kontrollgruppe: der Familie,
der Gesellschaft eines Salons etc. - der "Augenkontrolle" entzieht (S.
265), auch zu neuen Formen der Kontrolle: extern etwa durch Kanonbildung
und Lektürereglements (vgl. S. 398), intern durch dem Text selbst
eigene Verfahren der Rezeptionssteuerung. "Mit dem Grad der sozialen Dekontextualisierung
wachsen die Anforderungen an eine von den Werken selbst ausgelegte Kontextsicherheit."
(S. 298) Koschorke operiert mit der Theoriefigur von Problem und Lösung:
Das Problem ist die Sicherung eines Kanals. Was gesendet wird, soll ankommen.
Als Lösung fungierten im rhetorischen Zeitalter etwa die Zustimmung
und Verstehen sichernden Topoi, die überzeugende actio oder das aptum
(vgl. S. 297f.). Wir haben es hier mit Kausalschemata zu tun, die "zwischen
Sprachform und induziertem Affekt" ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis
installierten (S. 298). Für individuelle Imagination ist kein Platz
mehr. Mit dem stillen Lesen in der Einsamkeit allerdings kommen die Rhetorik,
die darin nur einen melancholischen Sonderfall gesehen hatte, und ihr Modell
des "mündlichen Vortrags und seiner kollektiven Aufnahme" an ihr Ende
(S. 293, 297). Das Problem der Wirkungskontrolle aber bleibt, zumal Machtfragen
involviert sind (vgl. S. 399). Man scheint hier Foucaults Stimme hören
zu können: "in jeder Gesellschaft wird die Produktion des Diskurses
zugleich kontrolliert, organisiert und kanalisiert" (Foucault, M.: Die
Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M. 1977, S. 7.).
Ist dem so, dann fragt sich nur: wie? Beispielsweise durch "Verwaltung
der Phantasie", die "im 18. Jahrhundert zum Hauptgegenstand diätetischer
Reglementierungen wird" und versucht, eine "luxurierende" Lektüre
einzuhegen und die von ihr drohende "mentale Dissoziation in Grenzen zu
halten" (S. 424f.). Dies gelingt nur sehr bedingt, wie der "Siegeszug"
der "Originalität" in Produktion wie Rezeption belegt. Originelle
Lektüren entziehen sich den stereotypen Anleitungen der Lesesuchtkritiker
genauso wie der "Schöpfungsakt des Originalgenies" dem regelpoetischen
"Modell des humanistisch-gelehrsamen Dichters" (S. 425). Wenn man aber
wie die Aufklärung mit der Literatur Ziele verfolgt, dann müssen
die veralteten, von der Interaktion her konzipierten "Techniken der Affizierung"
durch neue, funktionsäquivalente Formen ersetzt werden: etwa durch
Umbauten an der "Schriftsprache" selbst, die in der Epoche der Empfindsamkeit
ein "Affektvolumen" erreicht, dem man zutrauen konnte, die Funktionen des
"Realkontextes" und "sprachbegleitender Signale" einer Poesie unter Anwesenden
zu übernehmen (S. 297). "Substitutionen" heißen denn auch zwei
große Kapitel der Studie Koschorkes, in denen solche Transformationen
beschrieben werden. Bezugspunkt dieser Umbauten des 18. Jhs. ist aber immer
ein kommunikatives oder mediales Problem und nicht ein sich durch alle
Veränderungen durchhaltendes Grundbedürfnis des Menschen und
seiner Kultur.
"Die großen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts lassen sich
als Veränderung der Zirkulationsweise sozialer Energien beschreiben."
(S. 15) Was da zirkuliert, sind Zeichen; worin sie zirkulieren, sind Medien;
die Grenzen der Zirkulation sind soziale. So lauten die Prämissen
der Studie. Der Mediologie geht es um die Rekonstruktion dieses Wandels
des "sozialen Austauschs von Zeichen" auf dem Niveau eines "Systemverbundes",
in dem die "einzelnen kommunikativen Akte aneinander anschließen,
ohne über den Hebelpunkt einer von außen intervenierenden Steuerungsinstanz
zu verfügen" (S. 10f.). Der Anschluß von Kommunikation an Kommunikation
verläuft innerhalb eines strikt begrenzten Netzwerkes autopoietisch:
der Systemverbund steuert sich selbst, er ist ein selbstorganisierendes
Netzwerk und keine Trivialmaschine, könnte man systemtheoretisch reformulieren.
"Mediale Prozesse" wie das Ende der Rhetorik und den Siegeszug der modernen
Literatur oder den Wechsel von der fremdreferentiellen Konstitution des
Charakters in der Temperamentenlehre zur selbstreferentiellen Bestimmung
des Ich als Individuum versteht Koschorke "als operative Abläufe zum
Zweck der Herstellung kultureller Realität", die in "ihrer faktischen
Wirksamkeit zu untersuchen" seien, und das heißt: "im Zusammenhang
der zeitgenössischen kommunikativen Praxis". Diese Praxis nun sei
nirgends anders anzutreffen als in den "zeitgenössischen Texten" und
den darin enthaltenden "Selbstbeschreibungen des damaligen Kommunikationssystems"
(S. 272). Spräche man es nur aus: so wäre die elementare Einheit
der Mediologie also die Kommunikation - und nicht der Mensch und auch nicht
die technischen Medien. Denn allein in bezug auf die in den Texten greifbare
Semantik sind die "funktionalen Leistungen der Schrift und von Medien im
allgemeinen erkennbar zu machen" (S. 345). Wo die Systemtheorie Variationen
der historischen Semantik auf gesellschaftsstrukturelle Prozesse bezieht,
fragt die Mediologie nach der Kopplung von semantischer und medialer Evolution.
Dies klingt sehr ähnlich, ein Unterschied wenigstens aber fällt
auf: wenn die Systemtheorie die Medien(techniken) der Kommunikation bislang
nur marginal, ohne Sinn für Details und jedenfalls als Umwelt der
Gesellschaft behandelt hat, so verzichtet die Mediologie auf die Analyse
der Formen sozialer Differenzierung. Darin liegt ihr Nachteil: denn sie
differenziert nicht nach dem systemischen Status einer Kommunikation als
Beitrag zur Wissenschaft, zur Literatur, zur Politik, zur Religion etc.
und interessiert sich dementsprechend auch nicht für die unterschiedlichen
Grade der Anschlußfähigkeit eines Beitrags zu unterschiedlichen
Systemkommunikationen. So werden etwa die über dem Problem der "Lesesucht"
entstehende Ratgeberliteratur und die stumme, einsame Romanlektüre
als zwei Seiten eines Dispositivs der "Zirkulation" gedeutet, ohne daß
sich die Frage stellte, ob die medizinischen, psychologischen und moralischen
Traktate die Teilnehmer der literarischen Kommunikation des Romans überhaupt
erreichen. Die Wirksamkeit der Strategien der Verknappung wären in
den Romanen selbst nachzuweisen. Doch liegt in der Abblendung von Systemdifferenzierungen
auch ein Vorteil: denn die Mediologie bekommt Bedingungen in den Blick,
die gleichsam quer zu den Sozialsystemen die "Zirkulation" der "Zeichen"
schlechthin betreffen.
Koschorkes Darstellung der Umwälzungen des 18. Jhs. greift weit
aus. Beschrieben wird der Wandel von der Oberflächlichkeit höfischer
Salonkonversation (vgl. S. 16f.) zur "Tiefe" empfindsamer Seelenliebe,
vom pneumatisch-fluiden Leib, dessen Grenzen weiter sind als die der Haut,
zum Körper als klar von seiner Umwelt unterschiedenen Funktionseinheit
von Organen (vgl. S. 47f., 263), vom galanten Liebesbrief (vgl. S. 174ff.),
der sexuelle Ziele verfolgt, zur empfindsamen Liebe im "Zeichen der Nichtpräsenz",
die sich mit medial stimulierten Gefühlen begnügt und Sexualität
substituiert (vgl. S. 147f.), von den kausalen, "alten Techniken der poetischen
Affizierung" (S. 297) zur Autonomie der Produktion und Rezeption (vgl.
S. 385f.), von der Natürlichkeit der Lust zur unschuldigen Natur (vgl.
S. 444, 437ff.) oder von der Ursprünglichkeit des Bösen zum ursprünglich
Reinen (vgl. S. 446f.). All diese Aussagen werden dicht am Material entwickelt
und breit belegt. Aber was zumindest genau so wichtig ist: sie werden zu
interessanten Thesen generalisiert, die das gesamte Feld der Semantik erschließen.
So bezeichnet Koschorke beispielsweise den Übergang von den alteuropäischen
Denkformen der Physik, Physiologie, Humoralpathologie, der Temperamentenlehre,
Diätetik, Mnemotechnik und Rhetorik zur modernen Anthropologie, zur
Assoziationspsychologie, Pädagogik und Hermeneutik als "Wechsel von
analogischen Relationierungen zwischen Vorstellungen und Sachen zu reflexiven
und damit in gewisser Hinsicht lockereren Kopplungen" (S. 349). Es geht
um die Ablösung alteuropäischer Kausalschemata, die man als analoge
oder "feste Kopplung" zwischen Ursache und Wirkung beschreiben könnte.
Ein "wohl gefaster Brief", ein "artiges Schreiben" führe denn wohl
schon zum erfolgreichen Abschluß eines "Liebes=Commerce", unterstellt
ein galanter Traktat: von einer "konventionsgemäßen rhetorischen
Operation" wird eine ebenso konventionelle Reaktion erwartet (S. 175),
während der Liebesbrief am Ausgang des 18. Jhs. nichts weniger sein
darf als regelgerecht und vorhersehbar. Führten einst der richtige
Topos, die gelungene Formulierung, das angemessene Dekorum mit derselben
Gewißheit zum Erfolg wie eine standesgemäße Werbung, so
verlieren sie ihren Status als Ursachen, die ganz bestimmte Wirkungen zeitigen.
Denn der Rezipient ist nicht länger eine Trivialmaschine, die durch
ihren Charakter, ihren Stand oder ihr Sternzeichen vollständig determiniert
und daher auch kalkulierbar gewesen ist, sondern ein in der Reflexion auf
sich selbst entstehendes Individuum (vgl. S. 385). Die rhetorische oder
humoralpathologische Überzeugung, auf der Basis eines bestimmten Wissens
und bestimmter Regeln mittels bestimmter Eingaben die erwünschten
Ausgaben zu erzielen: etwa passionierte Liebe, trifft nach der 'operativen
Schließung' des Menschen (S. 263) auf den "Störfaktor" einer
"irreduziblen Individualität" (S. 375). Wie ein Individuum auf eine
Offerte reagiert, hängt nun nicht allein von der Offerte ab, sondern
von der Individualität. Zustandsänderungen (etwa zu lieben beginnen)
sind nicht strikt an bestimmte Ursachen gekoppelte Wirkungen, sondern verdanken
sich einer internen Verarbeitung äußerer Anlässe. So beginnt
es auch die Medizin zu sehen: "Hatte man Nerven zuvor als Kanäle betrachtet,
so werden sie [...] zu Medien im eigentlichen Sinn dieses Begriffs, die
in sich selbst zurücklaufend endogene Effekte hervorbringen und zugleich
nach außen hin in wachsendem Maß refraktäre Wirkungen
zeigen." (S. 371) In Luhmanns Worten: "Die Form des Relationierens auf
Selbstreferenzen, die ein System zugleich autonom und verstärkt umweltabhängig
macht, wird sozusagen am Menschen geprobt." (Luhmann, N.: "Frühneuzeitliche
Anthropologie". In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. I. Frankfurt/M.
1980, S. 162-234, S. 194) Koschorke selbst bringt seine Analysen des Wandels
der sozialen Zirkulation der Zeichen auf die systemtheoretische Formel
eines zunehmenden "Abbaus von System-Umwelt-Entsprechungen" (S. 452). Dieser
Trend zur Selbstorganisation oder losen Kopplung von externen Anlässen
und ihrem systemischen Processing läßt sich am Konzept des Gedächtnisses
nachweisen, am Körper (vgl. S. 371), an der Rezeption von Texten (vgl.
S. 374f.), an der romantischen Liebe oder auch am Verständnis der
Kunst als autonomer (vgl. S. 424). Was man im 18. Jh. auf breiter Front
beobachten kann, ist eine Abkopplung des Systems von seiner Umwelt, die
mit einer steten Steigerung an Binnenkomplexität einhergeht, die "wiederum
ein höheres Maß an Selektivität in bezug auf Einwirkungen
von außen mit sich bringt" (S. 452). Noch einmal anders formuliert:
ein "Umweltreiz" führt im System allein zu "systemgesteuerten" Reaktionen
(S. 453). Ob ein Liebesbrief sein Ziel erreicht, hängt nach dem Ende
der Rhetorik nicht mehr von der Rhetorik ab, sondern von der Person, die
ihn liest. Und auch die Wirkung von Kunst und Literatur beruht auf der
Eigentümlichkeit des Rezipienten - deshalb bemüht sich die Lesesuchtkritik
noch einmal nachhaltig um eine Konformität der Rezeption, weil sie
weiß, daß eine "geniale", idiosynkratische Rezeption möglich
ist (S. 425).
In diese großartige "mediologische" Skizze der medialen und semantischen
Rahmenbedingungen des 18. Jhs. stellt Koschorke seine - wenigen - Literaturanalysen.
Seine Arbeit, die ursprünglich als "Studie über das empfindsame
Liebesschrifttum" (S. 11) geplant war, hat sich globaleren Fragen zugewendet
und dezidiert auf den Anspruch verzichtet, "unmittelbar zur Interpretation
von literarischen Werken beizutragen" (S. 13). Das ist schade, denn die
Lektüren der Romane Gellerts, La Roches, Rousseaus, Millers oder der
Briefwechsel Klopstocks, Gleims oder Herders sind aufschlußreich
und belegen die mögliche Fruchtbarkeit der Mediologie. Hier wünschte
man sich mehr. Dagegen wirken die lange Diskussion des Schriftbegriffs
Derridas und die metakritische Aufarbeitung der Entwicklung der Zeichentheorie
und des Konzeptes der Repräsentation fehl am Platze. Hier hätte
vielleicht auf die Demonstrationen einer ausgreifenden Gelehrsamkeit verzichtet
werden können zugunsten einer intensiveren Diskussion der Primärquellen.
Will man sich eine Wertung erlauben, dann ist "Körperströme und
Schriftverkehr" gleichwohl einer der anregendsten und profundesten Beiträge
zum 18. Jh. der letzten Jahre. So lange es interessante neue Paradigmen
gibt, wird man dieser Epoche nicht müde werden.
Niels Werber, Bochum
Referatedienst zur Literaturwissenschaft 31 (1999) 4