zurück
Menschenrechte der Kunst Ästhetik und Weltgesellschaft. In Bochum diskutierte man über Kunst und kritische Theorie 

Von Niels Werber 

Dass die Kunst eine eigene Geschichte habe, ist die Voraussetzung aller Kunstgeschichte. Ein wie immer gearteter Begriff der Autonomie, der eigenen Ordnung der inneren Verhältnisse der Kunst durch die Kunst, gehört daher zum Kernbestand des Fachs. Die Geschichte der Kunst lässt sich wegen ihres autonomen Status von anderen Geschichten (der Ökonomie, der Religion etc.) unterscheiden. Indizien für die Auflösung ihrer Autonomie müssen die Zunft daher aufs Höchste beunruhigen. Dies ist aber der Fall: die aktuelle Lage erinnert an Adornos Positionierung der autonomen Kunst gegen eine expandierende Kulturindustrie, die sich mit großem Erfolg daran macht, alle Kunst dem "Anspruch der Verwertbarkeit" zu unterwerfen und zugleich ihre Rezipienten in Konsumenten zu transformieren.

Wenn die "Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ihre Funktionslosigkeit" ist, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie schreibt, dann muss ihre Stunde dann geschlagen haben, wenn an ihren Werken nur noch der "Reizwert", der zu erwartende Grad an "Unterhaltung und Entspannung" geschätzt wird. Wenn im Zeichen der Neuen Medien und der globalen Ikonisierung die Unterschiede zwischen Kunst und Kommerz, Kunst und Kitsch, Kunst und Werbung, Kunst und Massenmedien verloren zu gehen drohen, muss sich dann nicht die aktuelle Kunstgeschichte an Adorno orientieren, legte Monika Steinhauser (Bochum) den Teilnehmern des Bochumer Kolloquiums Der Stachel der Kunst. Kritische Theorie und Kunst heute nahe. 

Denn die Kunstgeschichte läuft offenbar Gefahr, ihren genuinen Objektbereich einzubüssen, sie würde selbst historisch werden oder sich aufgeben und ihr methodisches Potential der allgemeinen Analyse der visuellen Kommunikation widmen, ohne noch Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden zu wollen.

Gertrud Koch (Berlin) scheint genau darin den Weg der Filmwissenschaften zu sehen. Ihr Beitrag unterschied die Autonomie der Kunst von der Autonomie filmischer Erfahrung. Diese Erfahrung verdanke der Film weder der "Institution Kunst", noch der Kulturindustrie, sondern Medium und Apparatur. Das Filmische stellt eine fiktive Welt auf. Ob diese Welt aber der Kunst angehöre oder nicht, ob sie high oder low sei oder wie sie institutionell eingebettet werde, seien obsolete Fragen. Am Film selbst: also an jedem Film jeden Genres von der Werbung bis zum Blockbuster sei die vom Medium selbst bewirkte Autonomie des Filmischen nachzuweisen. Diese Wendung zieht unter Adornos Analysen des sozialen Kontextes des Kinos ("Kulturindustrie") einen Schlussstrich und erklärt systemtheoretische Versuche der Unterscheidung von Sozialsystem (Kunst) und Medium (Film) für überflüssig.

Es blieb zwei Emeriti vorbehalten, die entschiedenste Frage an die Autonomie der Kunst zu stellen und die entschlossenste Antwort zu geben: Willibald Sauerländer (München) und Jürgen Habermas (Starnberg). Als in einem architekturhistorischen Seminar der Dozent die "klassischen" Formen Vitruvs vorstellt, bemerkt eine afrikanische Studentin nur: "This is not my architecture." Sauerländer ging in seinem souveränen Vortrag der Frage nach, wieweit sie Recht damit hat. Für ihn ist die westliche Kunst und ihre Reflexion zutiefst geprägt von der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Europa, die die Kunst von externen Funktionen freigestellt hat. Autonome Kunst habe keinen politischen, religiösen, pädagogischen Wünschen nachzukommen. Nicht-westliche Artefakte seien dagegen vom Gebrauch in ihrem Kontext nicht zu trennen, ohne sie damit zu entwurzeln. Doch habe der Westen nie ein Verständnis für "magische Kunst" entwickelt, sondern die Artefakte aus Übersee zunächst im kolonialen Gestus europäischer Überlegenheit in Volkskundemuseen ausgestellt, in jüngster Zeit dagegen, bemüht um "Wiedergutmachung", dieselben Werke in autonome Kunst verwandelt und so in bornierter Ignoranz von ihrer ursprünglichen Kontextierung getrennt. Die westliche Kunstgeschichte, ob kolonialistisch oder political correct, ist wegen ihres Autonomiekonzeptes nicht in der Lage, "magischer Kunst" gerecht zu werden; sie wird entweder als Kunst oder als Magie nicht Ernst genommen.

Diese Haltung wird sich die Kunstgeschichte nicht länger ungestraft leisten können, denn die im Medium zumal visueller massenmedialer Kommunikation globalisierte Weltgesellschaft könnte das immer schriftgestützte, westliche Verständnis autonomer Kunst veralten lassen, während sie in den Körperbildern schriftloser Zivilisationen ihr angemessenes Idiom entdecken könnte. Sauerländer stellt die Frage, ob sich die Kunstgeschichte in diesem Jahrhundert nun in eine Transkulturwissenschaft auflösen solle oder ihr singulär westliches Verständnis selbst um den Preis des Nicht-Verständnis des Anderen beibehalten solle.

Die Antwort darauf hat Habermas gegeben. Mit Adorno hält er daran fest, dass Kunst sich sozialen Instrumentalisierungen entziehen müsse, da sie nur so durch ihr bloßes Dasein der Gesellschaft kritisch gegenüberstehe. Allein aus diesem Verständnis der Kunstautonomie folgt schon, dass "magische Kunst", deren kommunikativer Einsatz ja eben nicht autonom ist, sondern mehrere religiöse, politische, medizinische und ästhetische Dimensionen verschmilzt, nicht das Richtige ist für die Zukunft der Weltgesellschaft. Außerwestliche Kunst, so Habermas, habe letztlich der vom Westen entwickelten Syntax der Autonomie zu folgen, auch wenn ihre Semantik dann anders ausfallen und "auf ihre Weise Modernisierungsschäden" verarbeiten könne. Genau wie die westlichen Menschenrechte für die ganze Welt die angemessene sei und jede andere Kultur (außer skrupellose Vertreter der "Asian values") im herrschaftsfreien Diskurs davon überzeugt werden könne, erwiese sich auch das europäische Modell der Kunst als das einzig richtige. Diesen Universalismus der Menschenrechte und Ästhetik positionierte Habermas explizit gegen seine neokonservativen Kritiker, die er zumal in der Zeitschrift Merkur am Werk sieht. 

Auf die Frage, ob sein universalistisches Kunstverständnis nicht jede Distinktion Sauerländers zwischen autonomer und magischer Kunst einziehe und der außerwestlichen Kunst erneut genuin europäische Programme oktroyiere, wollte Habermas nicht mehr antworten, er verließ die Konferenz. Wann der "herrschaftsfreie Diskurs" einen Ort zu seiner Entfaltung erhält, hängt eben doch nicht von der Vernunft allein ab, sondern von den Entscheidungen der Akteure. Habermas konnte das Ergebnis eines globalen Diskurses der Kulturen über die Kunst nur deshalb präsentieren, weil dieser noch nie stattgefunden hat.
 
 

[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2000 
Dokument erstellt am 03.07.2000 um 21:13:29 Uhr
Erscheinungsdatum 04.07.2000 
 
 

zurück