Dr. Niels Werber
Hauptseminar „M“, Mabuse, Moriati, Morvitius. Medien, Massen und Manipulation in den 20er Jahren.



Die Spuren verwischen: Verhaltenslehren der Kälte


Thomas Waitz: Anmerkungen zu Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M 1994

„Verhaltenslehren der Kälte“ als Möglichkeit, Existenz zu verwirklichen
„Die zwanziger Jahre sind ein Augenblick tiefwirkender Desorganisation. Vertraute Orientierungsmuster der wilhelminischen Gesellschaft haben keine Geltung mehr. […] Der Krieg hat die Einsicht der pessimistischen Anthropologie gefördert, daß der Mensch ‚von Natur aus’ zur Destruktion neigt und die Zivilisation einen barbarischen Kern hat.“ (7) In seinem Essay „Verhaltensleeren der Kälte“ widmet sich Helmut Lethen Tendenzen und Ausformungen einer avantgardistischen Anthropologie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Er legt dar, wie in einer Zeit großer Verunklarung „verbindlicher“ Werte und normativer Entscheidungskriterien ein Habitus zu Tage tritt, der durch Merkmale wie Wahrnehmungsschärfe, Nüchternheit, Realismus, Kühle und Kälte gekennzeichnet sei. Dabei rekurriert Lethen auf die „Grenzen der Gemeinschaft“ von Helmut Plessner (1924): „Traditionell negativ bewertete Merkmale wie Anonymität, Aufenthaltslosigkeit, Zerstreuung und Seinsentlastung werden von Plesner als Möglichkeitshorizont begrüßt, ohne den sich eine menschliche Existenz nicht auf spezifisch humane Weise verwirklichen kann“ (8)
Den Schriften von Jünger, Schmitt, Brecht, kurzum: der Literatur der Neuen Sachlichkeit, unterstellt Lethen, über den Charakter von „Anweisungen“ zu verfügen und also „Verhaltenslehren“ zu sein. Ihre historisch gewordene Funktion, so Lethen, liege darin, „Eigenes und Fremdes, Innen und Außen [zu] unterscheiden“ (7). Das implizite Ziel bildet somit die Gewinnung von Verhaltenssicherheit in der Erlernung von Techniken, „mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich von einander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen“ (Plessner). „Kälte“ – so Lethens These – werde zur Überlebensstrategie des Subjekts im Angesicht von Modernisierungsschüben. Es gehe darum, „dem Menschen einen angstfreien Zugang zum Prozeß der Modernisierung zu erschließen und einen Freiheitsspielraum zu konstruieren.“ (43)
„Kalte Persona“
Als kennzeichnend für diesen Zugang zur Welt und damit einem spezifischen Modus der eigenen Identitätskonstruktion entwirft Lethen die Kunstfigur der „kalten Persona“ und deren verinnerlichte „Psychologie des Außen“ (50).
Die Erfahrung der Großstadt, in der sich in den zwanziger Jahren die Verwerfungen der Modernisierung prototypisch abzeichnet, bildet in ihrer literarischen Repräsentation keine Möglichkeiten der „Sinnproduktion“: Die alltäglich erfahrene Komplexität der als feindlich empfunden Umwelt mag, wie in Mynonas „Graue Magie“ (1922), durch technische Mittel zu überwinden gehofft werden, abschließbar ist sie dennoch nicht. Doch wenn das „Außen“ der Figuren als ungeordnet und widersprüchlich erlebt wird, zersplittert irgendwann ihre Innenwelt. Die Umgebung der Subjekte wird damit, im Gegenzug, zum Spiegel ihrer inneren seelischen Konfusion.
Auf diese Wirklichkeitserfahrung versucht das Konstrukt der „kalten Persona“ nun zu antworten: Die Still- und „Kalt“-Stellung des Bedrohlichen soll geleistet werden durch den coolen, ernüchterten, distanzierten Blick, durch eine quasi nicht betroffene Beobachterperspektive, eine stoische Selbstpanzerung als „kalte Persona“. Gleichgültigkeit, Kälte und Distanz werden in der Literatur der Neuen Sachlichkeit als Überlebensstrategien der Helden positiv dargestellt und propagiert.
So heißt es etwa bei Brecht „Aus einem Lesebuch für Städtebewohner“ (1926):
„Was immer du sagst, sage es nicht zweimal. / Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. / Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ / Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat / Wie soll der zu fassen sein! Verwisch die Spuren.“
Identität in der Fremdwahrnehmung
Die „kalte Persona“ findet ihre Identität in der Folge ausschließlich in der Fremdwahrnehmung der mit ihr in Konkurrenz stehenden Subjekte. „Da diese Mitwelt ‚immer unversöhnlich’ ist, wirft ihr Spiegel dem Subjekt ein Bild realitätstüchtiger Selbsterkenntnis zu; denn es geht ums Überleben. Nur gespannte Wachsamkeit und die Bereitschaft, sich jederzeit aus Bindungen zu lösen, gewährleisten Mobilität. Darum darf sich die ‚vollendete Persona’ auch ‚auf keine Eigenschaft festnageln lassen’. Völlige Eigenschaftslosigkeit erhöht den Aktionsradius.“ (58)
Verkehr als Modell der Wahrnehmung
Welchen Schauplatz erwählt sich nun die Neusachliche Literatur zur Austragung ihrer immanenten Konflikte? Zentraler Topos, so Lethen, sei der Verkehr. Er führe die Mobilität der Kriegszeit in zivile Bahnen; als Stabilisierung und Neutralität zu Ende gingen, sei er militarisiert worden. „Der Verkehr verwandelt Moral in Sachlichkeit und erzwingt funktionsgerechtes Verhalten. […]“.(44) Dass der Verkehr um eine leere Mitte kreise, sei ganz in Ordnung, lenke nicht ab. Der Verlust der Mitte wirke vielmehr belebend, man könne „sein Sinnen jetzt auf die Zirkulation selber“ richten (45). Alles verkehrt miteinander: In den zwanziger Jahren ist das kein Schreckensbild – in den egalitären Freuden der Zirkulation klingt die „Erleichterung, von den erstarten Verhältnissen der wilhelminischen Gesellschaft befreit zu sein“ (46).
Lethens Ausführungen mögen – so scheint mir – über weite Strecken apodiktisch bleiben. Sie verweisen aber auf eine entscheidende Frage: Wie vermögen kulturelle Diskurse individuelles Verhalten formen?