Publikations-Datum: 20000930
Seite: 57
Kultur
Kleines ABC der Luhmannologie
Niklas Luhmanns Grossprojekt der Gesellschaftstheorie wird mit postum publizierten Studien zur Religion und Politik der Gesellschaft fortgeführt.
 

Autor: Von Niels Werber
"Personenkult und Bürokratie!" So könnte die Antwort auf die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Religion und Politik lauten. Sie liegt anscheinend auf der Hand. Die Inszenierungen des Papstes bei Grossereignissen mit massenmedialer Simultanverwertung wie jüngst beim Weltjugendtag der Katholiken in Rom scheint denselben Regeln zu gehorchen und dieselben Zwecke zu verfolgen wie die Nominierungspartys der demokratischen und republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA.

Und während so die Führungspersönlichkeiten in Kirche und Politik für Zustimmung und Begeisterung unter ihrer Klientel sorgen und sie gegen die Versuchungen der Konkurrenz immunisieren, wird in den Amtsstuben unauffällig, aber wirkungsmächtig das Wesentliche entschieden und verwaltet. Das Gewicht der Aussendarstellung verbirgt die Kontinuität in der Verwaltung, deren Beamte ihr Geschäft in aller Ruhe betreiben können, weil sie lebenslang beschäftigt sind und daher nicht einfach auf Linie gebracht oder ausgetauscht werden können, wenn die Führung wechselt. Mit Blick auf die jahrhundertealten Bürokratien in Kirche und Staat könnte man meinen, die Kontinuität sei so gross, dass die dramatischen Wechsel ihre Wirkung nur auf der Oberfläche entfalten. Aus dieser Perspektive fallen die Unterschiede zwischen Religion und Politik kaum ins Gewicht, denn ihre Organisation und der Repräsentationsstil ihrer Führer ähneln sich sehr.

Kommunikation als Medium
Auch der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann arbeitet in seinen jüngst erschienenen Studien zur Religion und Politik der Gesellschaft Vergleichbarkeiten heraus. In der Optik der Systemtheorie sind Religion und Politik Funktionssysteme der Gesellschaft, die spezifische Probleme der Gesellschaft lösen. Das Medium, in dem dies stattfindet, ist die Kommunikation. Auf dieser Abstraktionslage werden dann Politik und Religion vergleichbar: Man kann fragen, wie Kommunikation in Form gebracht wird, um dieses oder jenes Problem zu lösen. Sieht man zum Beispiel in der Versorgung der Bevölkerung im Alter ein Problem der Gesellschaft, dann können so verschiedene Einrichtungen wie die Rentenversicherung, der Aktienfonds, die Zeugung möglichst vieler Kinder oder das rituelle Verspeisen der Ältesten als funktionale Äquivalente erscheinen. Die Frage nach der Funktion macht Sachverhalte vergleichbar, die zunächst nichts miteinander verbindet - etwa das Aktiendepot und der Topf der Kannibalen. Diese Ausrichtung der Soziologie auf die Analyse allgemeiner Mechanismen der Gesellschaft und ihrer Systeme kommt so zwar zu überraschenden Ergebnissen, doch der Preis dafür ist zweifellos der Verzicht auf Evidenzen prima vista.

Nur Religion ist Religion, allein Politik ist Politik, so lautet die Kernüberzeugung der Systemsoziologie. Diese Tautologie ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Genauer betrachtet besagt diese Formel, dass ein System weiss, was es ist und was es nicht ist. Das System kann also sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden. Über diese Grenzen hinweg finden keine Kommunikationen statt, wohl aber Thematisierungen: Man kann die Macht des Glaubens, aber auch den Glauben an die Macht verhandeln. Ein Sozialsystem differenziert die eigenen von allen anderen Kommunikationen. Wer dies beobachtet, vermag religiöse und politische Kommunikation auseinander zu halten.

Nur nicht die Mitte
Die Kardinalfrage lautet, wie dies geht. "Woran erkennen wir, dass es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um Religion handelt?", beginnt Luhmanns "Die Religion der Gesellschaft". Traditionell würde man wohl verschiedene Glaubensrichtungen vergleichen und ihre Essenz herausdestillieren oder die Verwendung des Wortes überprüfen und den Begriffsumfang festzulegen suchen, doch lehnt Luhmann beides ab: "Das Verkehrteste wäre es nun, nach einer brauchbaren Lösung irgendwo in der «Mitte» zu suchen. Zwei unbrauchbare Lösungen geben nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Vermittlung." Sein eigener Vorschlag vermeidet inhaltliche Definitionen und setzt auf eine Differenz: den Code religiöser Kommunikation. Überall, wo diese "Leitunterscheidung" des Systems zur Anwendung kommt, unterscheidet es sich selbst von seiner Umwelt. Im Fall der Religion handelt es sich dabei um die "Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz", im Fall der Politik um die Differenz von "machtunterlegen/machtüberlegen" bzw. unter demokratischen Bedingungen um die Differenz von "Regierung/Opposition".

Dies klingt furchtbar abstrakt und schreckt ab - und sollte sich daher durch den Ausweis eines besonderen Ertrags rechtfertigen lassen. Der sieht so aus: Theorien, die ihr Objekt durch die Definition seines Wesens festlegen, bekommen entweder selbst Probleme, wenn sich dieses Objekt ändert, oder aber sie bereiten umgekehrt dem Objekt Schwierigkeiten, indem sie die Abweichungen des Phänomens von der Norm als "Irrtümer" brandmarken. Die Systemtheorie ersetzt daher diese Ontologie durch die Beschreibung des Codes des Systems; der bleibt stabil, auch wenn das System sich verändert.

So geht es zum Beispiel im Rechtssystem immer um die Unterscheidung von Recht und Unrecht, obwohl sich täglich die Gesetze und Vorschriften, die bestimmen, was jeweils als Recht oder Unrecht zu gelten hat, ändern können. Ob mit jungfräulicher Geburt oder ohne, ob mit sieben Sakramenten oder sechs Armen - mit Religion haben wir es dann zu tun, wenn Immanenz und Transzendenz voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden. Nicht bei jedem Satz, in dem von Gott die Rede ist, handelt es sich um religiöse Kommunikation, aber jede Kommunikation, die alles Diesseitige aufs Jenseits bezieht, ist Kommunikation im Religionssystem. Und nicht alles, was sich politisch gibt, gehört zum System Politik, sondern nur jene Beiträge, die sich von der Unterscheidung von Regierung und Opposition tragen lassen. Diffuse Einflüsse, Drohungen und Machtausübungen zählen für Luhmann nicht zur Politik, wenn sie nicht entsprechend codiert sind und zu kollektiv bindenden Entscheidungen führen. Wenn ein Handwerksmeister seine Lehrlinge drangsaliert, dann wird zwar Macht ausgeübt, aber Politik findet erst dann statt, wenn eine Partei die Rechte der Auszubildenden für sich entdeckt und der anderen Partei jedes vernünftige Engagement abspricht.

Aus einer andern Welt
Der Vorzug dieses Ansatzes ist sein Auflösevermögen: die Fähigkeit, zu unterscheiden. Den Freunden der Lehrlinge könnte man beispielsweise empfehlen, lieber die Gepflogenheiten kleiner Organisationen zu untersuchen, um Gründe für die bisweilen harsche Interaktionskultur in Kleinbetrieben zu finden, als "Politik" zu betreiben. Den Freunden der Wirtschaftspolitik liesse sich sagen, dass zwar alles Mögliche politisch entschieden werden kann, die ökonomischen Folgen dieser Entscheidungen aber in keiner Weise politisch kontrolliert werden können. Und diejenigen, die ständig über den "Sinnverlust" der Gesellschaft klagen und damit den Rückzug der Kirchen meinen, könnte man mit dem Hinweis trösten, dass auch ausserhalb der Organisationen der Weltreligionen religiöser Sinn kommuniziert wird, nämlich immer dann, wenn Menschen sich durch jemanden beobachtet glauben, der selbst immer unbeobachtet bleibt, weil er nicht von dieser Welt ist.

Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft; Die Politik der Gesellschaft. Beide Bücher sind erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 362 bzw. 445 S., 42 bzw. 48 DM.

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Luhmann: "Woran erkennen wir, dass es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um Religion handelt?"