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Untergang auf festem Boden
Mit dem jetzt neu übersetzten Familienroman "Pierre" geht Herman Melville
an Land. Und siehe, auch dort herrschen die Gesetze des Meeres
Von Niels Werber
Für Sozialexperimente muss man die Probanden isolieren. "Sechs Monate
auf See!" Die Geschehnisse an Bord dürfen als exemplarisch gelten, weil
hier alles Menschliche auf wenige Kubikmeter Lebensraum verdichtet wird und
alles Erleben und Handeln unter Hochdruck stattfindet. Herman Melville jedenfalls
hat für viele Jahre im Schiff sein soziales Laboratorium gefunden. Es
ist, schreibt er in White-Jacket (1850), "ein Staat in sich". Wie bei einem
Laborversuch lassen sich an, über und unter Deck soziale Prozesse unterscheiden,
beobachten und untersuchen. Sowohl die Fregatte Callao als auch der Walfänger
Pequod aus Moby Dick (1851) dienen als schwimmende Gemeinwesen, als Leviathane.
Melville observiert am Modell der Schiffsgesellschaften allgemeine Gesetze
des Machterhalts und der Rebellion, der Ordnung und der Subversion, der Opportunität
und der Ethik. Zusammengeballt auf engstem Raum, auf einander angewiesen
in der absoluten Gefangenschaft der hohen See, deklinieren Kapitän,
Offiziere und Mannschaften die gesamte Syntax des Politischen. Wenn für
Melville "das Schiff" also den "Staat" repräsentiert, was mag dann die
Familie sein, von der Pierre (1852) handelt?
Melville hat in seinen Südseeromanen festgehalten, dass eine Familie
unter Umständen "ein ganzer Stamm" sein kann, was auf Inseln wie den
polynesischen Marquesas bedeutet, dass dieser Stamm zugleich die gesamte
Gesellschaft ausmacht. Neben ethnologischen gibt es auch philosophische Gründe
für eine Gleichsetzung von Familie und Gesellschaft. Für Thomas
Hobbes, dessen politische Philosophie Melville beeinflusst hat, ist "eine
große Familie ein Königreich, und ein kleines Königreich
eine Familie". Gilt die Familie als quasi natürliches Modell und "Keimzelle"
der Gesellschaft, so liefert das Schiff ein Muster des Zusammenlebens unter
künstlichen Bedingungen. So gewachsen und einheitlich die Familie von
Natur aus zu sein scheint, so zusammengewürfelt aus allen Klassen und
Rassen sind die Schiffsmannschaften. Diesen scheinbar evidenten Gegensatz
von Familie und Schiff wird Melville dekonstruieren, wenn er in Pierre oder
die Doppeldeutigkeiten vorführt, wie artifiziell und brüchig die
familiäre Ordnung sein kann.
Pierre also ist ein Familienroman. Er spielt auf dem festen Land, und zwar
auf einem Herrensitz der Ostküste und in der Stadt New York. Die maritime
Existenz hatte Melville als nomadisch, gesetzlos, riskant, international
und imperialistisch beschrieben, und man könnte vermuten, das Land sei
im Gegensatz dazu der Ort fest verwurzelter Ordnungen, gewachsener Traditionen,
sicherer Grenzen und vererbter Bestände. Tatsächlich singt Melville
dieses Lied vom Land in den ersten Kapiteln, die uns Pierre Glendinning,
seine Verwandtschaft, sein Herkommen, seinen Besitz und seine Erwartungen
schildern. Boden und Blutslinie erscheinen verschwistert: "Wir haben schon
gesagt, dass die schöne Landschaft, die Pierre umgab, stolze Erinnerungen
wachrief. Für Pierre war es indes kein bloßer Zufall, dass seine
Vorfahren jene anmutige Gegend mit ihren Taten geadelt hatten; vielmehr waren
in seinen Augen all diese Berge und Talmulden gleichsam geheiligt durch den
Tatbestand, dass sie sich schon seit einer so langen ununterbrochenen Frist
im Besitz der Seinen befanden."
Was deutsche Philosophen wie Herder oder Hegel angesichts der ozeanischen
Größe Amerikas nicht für möglich hielten, haben die
Glendinnings vorgeführt: die Aneignung des Raums, die Stiftung von Kultur
und Geschichte. Gegen europäische Vorurteile, Amerika errichte der "Vergangenheit"
deshalb keine "Denkmale", da es allein in der "Gegenwart" lebe, setzt Melville
"Pflanzerfamilien" auf "Landgütern" entgegen, die "Verträge", "Pflöcke
und Grenzsteine" vorzeigen können, die älter sind als die englische,
französische und deutsche Revolution. "Diese altvererbten holländischen
Wiesen" machen "Besitzungen" aus, die dem "Zahn der Zeit zu trotzen" scheinen.
Hier wurden Rechtsverhältnisse geschaffen, die gelten, "solange das
Gras wächst und das Wasser fließt, was in der Tat auf eine überraschende
Langlebigkeit für einen Vertrag schließen lässt". Auf dem
festen Land hat der auf den "lawless seas" tobende tägliche Kampf "aller
gegen alle" ein Ende.
Wenig erfährt der Leser über das Leben, das Ahab und Ismael, Queequeg
und Tashtego, Starbuck und Stubb an Land führen mögen. Genealogien
haben an Bord keinen Nutzen, denn sie führen nicht dazu, dass irgendjemand
die anstehende Arbeit besser zu verrichten vermöchte. Pierre Glendinning
dagegen wird ganz und gar definiert durch "Stammbaum und Grundbesitz", und
diese doppelte Erbschaft scheint völlig ausreichend zu sein, um ein
großes Vermögen zu erben und die Hand der hübschen und reichen
Lucy zu erwerben. In seiner Schicht führt kluge "Vermittlung die Menschen
zum Altar". Seine "Ahnenreihe" scheint gar nichts anderes zuzulassen, als
dass auch er eine passende Ehe schließt, um derart das Familienkapital
zu mehren und dem Stammbaum einen weiteren Zweig hinzuzufügen. "Da steht
nun unser Pierre auf diesem edlen Sockel; wir werden sehen, ob er die hehre
Stelle halten kann". Selbstverständlich nicht.
Ahab blieben Nachkommenschaften versagt. Der Rache an dem weißen Wal,
der ihn zweifach verstümmelt hat, opfert er daher Schiff, Profit, Mannschaft
und Leben. Pierre dagegen möchte eine Familie gründen und bewahren,
doch endet die Geschichte ebenso im Tod fast des gesamten Personals. Denn
vor der Heirat mit Lucy entdeckt er seine unehelich gezeugte Schwester Isabel,
die er aufzunehmen verspricht. "Isabel, rief Pierre, ich nehme die süße
Buße an meines Vaters statt auf mich". Um den Ruf des verstorbenen
Vaters und die Ehre der stolzen Mutter zu schützen, verzichtet er auf
die geliebte Lucy und behauptet, mit Isabel verheiratet zu sein.
Das Projekt wird mit einem typischen Satz entworfen, begründet und erzählt:
"Von Anfang an entschlossen, den guten Ruf seines Vaters unter allen Umständen
reinzuhalten, ganz gleich, was er täte, um Isabel zu beschützen
und ihr all seine brüderliche Ergebenheit und Liebe zu schenken, und
ebenso entschlossen, seiner Mutter andauernden Seelenfrieden nicht durch
sinnlose Enthüllung unwillkommener Tatsachen zu stören, dabei aber
das Gelübde in seinem Busen tragend, Isabel auf irgendeine Weise vor
aller Welt zu umarmen und ihr verlässlichen Trost und Beistand zu leisten,
und außerstande, einen gangbaren Weg zu finden, all diese Ziele gleichzeitig
zu erreichen, ohne einen einzigartigen, aber doch frommen Betrug zu begehen,
den ihm der Himmel, wie er glaubte, gewiss vergeben werde, da ja er, Pierre
allein, das hehre Opfer des Selbstverzichts wäre, hatte er nun die folgende
feste und unumstößliche Absicht gefasst, nämlich vor aller
Welt zu behaupten, Pierre Glendinning sei bereits heimlich mit Isabel Banford
vermählt - eine Behauptung, die..."
Es sei nur noch hinzugefügt, dass Lucy erkrankt und seine Mutter ihn
verstößt und enterbt, um verbittert darüber zu sterben, dass
ein Glendinnig eine "Schlampe" zu heiraten vermag. Pierre muss von etwas
namenlos Niedrigem verführt worden sein. "So erbarmungslos mit einem
einzigen triebhaften Streich den herrlichen Stamm eines ehrenvollen Geschlechts
zu fällen!" Dass der Stamm selbst, ihr Mann, der Vater des Flittchens
war, erfährt sie nie, dass dieser Vater sich überhaupt für
Sexuelles interessierte, hält nur ein Porträt fest, das die Mutter
hasst und Pierre schätzt. Auch Lucy erfährt die Wahrheit über
Isabel nie, folgt aber dennoch ihrem scheinverheirateten Pierre nach New
York, um mit ihm, Isabel und einem weiteren gefallenen Mädchen eine
Wohngemeinschaft verarmter Luxuskids zu gründen, die versuchen, aus
ihren Hobbys wie Sticken, Zeichnen und Dichten Geld zu machen. Umsonst.
Aber um all das geht es im Pierre nur so viel oder wenig wie in Moby Dick
um den Walfang. Melville geht es um Ordnungen und ihre Gefährdung, Erwartungen
und ihre Enttäuschung. Die männliche Zucht, die auf Kriegs- oder
Walschiffen mit eiserner Disziplin und diktatorischer Führung aufrecht
erhalten wird, wird unter Deck von namenlosen Praktiken gefährdet, die
genügend angedeutet sind, wenn Ismael von sich und Queequeg als einem
"Paar" spricht, das einen "Honeymoon" erlebt, oder die nackte Mannschaft
ein Bad im weißen "sperm" des Pottwales nimmt. Wenn junge, besonders
hübsche, erklärtermaßen "feminine" Vortopmänner wie
Billy Budd von ihren Offizieren gequält und gedemütigt werden,
wird die Naht zwischen latent-homosexueller und offiziell-disziplinärer
Ordnung sichtbar. Die familiäre Ordnung birgt andere, aber gleichfalls
sexuelle Gefahren
So sehr Pierre sich am "Soldatenschicksal seines Urgroßvaters" zu orientieren
gedenkt, so sehr prägt die Mutter seine gesamte Existenz. Die attraktive
Witwe nennt er "Schwester Mary". Wie ein Vicomte im Boudoir der Geliebten
hilft Pierre seiner Mutter "galant" bei der Garderobe, macht ihr die Frisur
und will Bänder gar mit einem "Kuss befestigen". Der unschuldige Titel
einer Schwester klingt reichlich doppeldeutig, um den Untertitel des Romans
endlich zu verwenden, wenn man liest, dass "vieles von dem, was uns die Gattin
so köstlich macht, ja schon in der Schwester liegt". Was denn genau?
Auch sein Verhältnis zu Isabel fällt ein wenig unüblich aus.
Er "fühlte, dass er niemals niemals fähig wäre, Isabel mit
nur brüderlicher Zärtlichkeit in seine Arme zu schließen."
Was mit einer solchen Zärtlichkeit gemeint sein könnte, geht offenbar
so weit, dass sofort betont werden muss, seine "unverdorbene Seele sei gänzlich
frei von jedem Gedanken an eine andere Art von Zärtlichkeit" gewesen,
jener Zärtlichkeit, so wird erläuternd nachgeschoben, "wie sie
im vertraulicheren häuslichen Umgang aufzukommen pflegt". Auch hier
macht die vermeintliche Klarstellung nichts unverfänglicher. Im vertrauten
häuslichen Umgang sind also andere Zärtlichkeiten als brüderliche
üblich?
Eine Doppeldeutigkeit folgt hier der nächsten, und es kann nicht verwundern,
dass die zeitgenössische Kritik nur anzudeuten wagt, was die Lektüre
zu einer Zumutung mache: die Schilderung eben der triebhaften Dimension der
Familie. Offenbar führt die Isolierung und Kasernierung weniger Personen
hier zu ähnlichen Tabubrüchen wie auf einem Kriegsschiff. Auf festem
Land mögen Grenzsteine und Verträge Sicherheit und Planbarkeit
suggerieren, tatsächlich ist das Grundinstitut dieser Ordnung aber in
permanenter Gefahr, vom Naturzustand, den sie abschafft, verschlungen zu
werden. Dies ist nicht, wie auf See, der Krieg aller gegen alle; auf Land
ist es der Beischlaf aller mit allen. Die Keimzelle und Reproduktionsanstalt
der Gesellschaft wird von dem bedroht, was sie voraussetzt: der Sexualität.
Das Buch
Herman Melville
Pierre oder die Doppeldeutigkeiten.
Deutsch von Christa Schuenke, hrsg. von Daniel Göske, mit einem Nachwort
von Hans-Joachim Lang. Carl Hanser Verlag, München 2002, 741 Seiten,
34,90 € .
Nicht die Familie ist in Gefahr, die Familie ist die Gefahr. Am Ende des
Romans erwerben Isabel und Pierre ein Gemälde einer jungen Italienerin,
die von ihrem Vater verführt wurde und ihn aus Rache tötete. Und
jene nymphomane Ninon de Lenclos wird erwähnt, die von einem ihrer unehelichen
Söhne derart begehrt wurde, dass er sich tötete, als er sie nicht
haben konnte. All diese Familienverhältnisse münden in Mord und
Selbstmord. Und genau so endet auch Pierre. Mit der Konvention, dass am Ende
eines "Romans" gattungsgemäß "immer Hochzeitsglocken läuten"
und sich alle "Geheimnisse" in "Wohlgefallen auflösen", hat Melville
gebrochen. In den puritanischen USA hat er sich mit seinen Doppeldeutigkeiten
keine Freunde gemacht.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 24.01.2003 um 16:04:07 Uhr
Erscheinungsdatum 25.01.2003