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Das verramschte Millennium Für alles, was zählt, gibt es die passenden Charts. Das popkulturelle Schema der Börse 

Von Niels Werber 

Was hat Robbie Williams mit dem Biotechnologiesektor gemeinsam: gute Charts oder Substanz? Die Börse ist nicht nur ein populäres Thema geworden, sie funktioniert auch so. Millennium sei hot, absolut trendy. Auf derselben Internetseite, auf der man Millennium kaufen konnte, waren auch die begeisterten Stimmen der Experten abzurufen, die glaubwürdig klangen, weil sie sich auf die einzigen Statistiken beriefen, denen man tatsächlich trauen kann: auf Charts. Charts gehen nicht aus vagen Absichtserklärungen oder dubiosen Hochrechnungen hervor wie die Ergebnisse von Wahl- oder Konsumentenumfragen, sondern repräsentieren bereits getätigte Kaufentscheidungen. Millionen von Käufern können nicht irren, die Sache war wirklich heiß. 

Also habe ich letzten Herbst Millennium gekauft, die Single von Robbie Williams und die Aktien der US-Biotech-Firma. Mit der CD wollte ich Gunst, mit der Aktie Geld gewinnen. Meine Voraussetzungen für den Erwerb waren in beiden Fällen die gleichen: Ich hatte wenig substantielles Wissen, aber viel gehört. "Biotech boomt", titelten die einschlägigen Börsenblätter. Millennium Pharmaceuticals wurde zu den "fünf besten Biotech-Aktien" gezählt und als "Microsoft der Biotechnologie" gefeiert. Millennium galt als Outperformer, eine Aktie, die alle Erwartungen übertreffen und schneller steigen würde als der Gesamtmarkt. Der Top Tip gehörte bei jedem risikobewussten Anleger ins Depot.

Und je mehr Leute den Wert kauften, um so höher kletterte der Kurs, und um so höher der Kurs kletterte, desto mehr Nachzügler sprangen noch auf den Biotech-Zug auf. Fonds und Zertifikate wurden aufgelegt, Millennium versechsfachte innerhalb von vier Monaten seinen Kurs von ca. 50 auf ca. 300 Euro. Die Firma wurde von ihren Fans zu den "besten Aktien des nächsten Jahrtausend" gezählt, noch im März, bei einem Kursstand von 269 Euro wurde der Wert eindringlich zum Nachkaufen empfohlen. Eine "geniale Story". Was gut läuft, läuft gut. 

Je steiler der Chart wie ein Pfeil nach oben wies, desto mehr angeturnte Anleger und Fonds-Manager pumpten ihr Geld in den Biotech-Sektor und verhalfen der Aktie zu weiteren, spektakulären Kursgewinnen, die wiederum weitere Aktionäre zum Einstieg motivierten. So werden Aktien zu Stars. Um Geld zu verdienen, musste man nicht mehr tun, als dem Star zu huldigen - und zu kaufen. Während sogenannte "Substanzwerte" wie die VW-Vorzüge ständig an Wert einbüßten, feierten die modischen Biotechs einen Rekord nach dem anderen. Jeder konnte hier mitmachen und mit reinem Opportunismus ein Vermögen verdienen.

Wenn Robbie Williams' Song Millennium in den VIVA-Zwei- und MTV-Charts eine ähnliche Performance hingelegt hat wie die Millennium-Aktie, dann liegt das an den gleichen Mechanismen. Je öfter Robbie in den Medien gespielt wird, desto mehr Leute kaufen seine Platte, je mehr Leute seine Platte kaufen, desto mehr wird er gespielt und desto mehr Moderatoren behaupten, dass er tatsächlich der Talentierteste der Take That-Boys sei, der einzige, der es in einer Solokarriere zu etwas bringen würde. Aus diesem Dreieck von Charts, Opportunismus und Verkaufstatistik ergibt sich die Performance. 

Millennium war ein klarer Kauf, auch als Geschenk, denn sie passte ins CD-Rack neben Eros Ramazotti und Madonna wie ins Depot zu EM.TV und Softbank. Robbie Williams war eben populär und musste also jedem gefallen, der Charts schaut oder hört. Robbie Williams war der neue George Michael, Millennium Pharm. eine neue Microsoft. So lauten populäre Kaufempfehlungen, und als Begründung reicht ein Blick auf die Charts. Musiktheoretische oder ökonomische Analysen werden dagegen nur von Eingeweihten verstanden, aber der Markt und seine Charts werden von der Masse gemacht. Millennium wurde nicht populär, weil man viel darüber wissen musste, sondern weil man einen Star erkennt, wenn man ihn sieht.

Auch die Buchungsgewinne waren gigantisch, im März konnte sich jeder Käufer zufrieden die Hände reiben. Es ist geradezu verblüffend leicht gewesen, das Richtige zu treffen. The trend is your friend, lautet die Börsenweisheit der Haussiers: Kaufe, was alle kaufen, dann steigt die Aktie, weil ihr Chart stimmt und der Aufwärtskanal munter ein Kaufsignal nach dem anderen aussendet. Ohne nur das Geringste von Musik bzw. Aktien und ihrer fachmännischen Beurteilung zu verstehen und ohne solche Organe profunden Wissens wie Spex oder einen Anlageberater auch nur zu konsultieren, völlig unbekümmert um die mögliche Seichtheit und triviale Gefälligkeit der Scheibe und genauso unbesorgt um die substantielle Bewertung des Unternehmens (KGV von 490!), habe ich im Herbst alles richtig gemacht. 

Das schöne an der Popkultur ist, dass wirklich jeder mitmachen kann, weil hier nur die Popularität zählt und nicht arkanes Wissen. Und was populär ist, erkennt jedermann am Chart. Die Iden des März brachten auch meinem Depot den Tod. Im Laufe des Ausverkaufs der Biotechnologiewerte büßte Millennium gut 50 Prozent an Wert ein. Die Aktie wurde verramscht wie der Sommer Hit des letzten Jahres. Wenn der Trend vorbei ist, schlägt die Stunde der Substanz. Statt quantitative werden nun qualitative Maßstäbe angelegt. Ähnlich wie die elitären Anhänger der E-Kultur den Konsumenten der U-Kultur vorhalten, dass sie aus Mangel an anspruchsvollen Kriterien einfach einer oberflächlichen Mode hinterherlaufen, die von langlebiger Qualitätskunst (Bob Wilson, Godard, Miles Davis etc.) überlebt werden wird, triumphieren nun die konservativen Depotmanager und ihre langsam steigenden Standardaktien über die modischen Fans der High-Techs, deren Vermögen sich binnen Wochenfrist halbiert hatte.

Die Besserwisser hatten es ja schon immer gesagt, der Wert sei überbewertet und hochspekulativ, der Gewinn pro Aktie niedrig; warum habe man so viel mehr für diesen Wert gezahlt als für General Motors oder Wal Mart, deren KGV doch viel günstiger sei? Die Anhänger des Substantiellen machen sich für die Klassiker der Old Economy stark und fragen skeptisch nach den Chancen der Newcomer. Es erscheint plötzlich klug, solide Dow Jones-Werte ins Depot zu nehmen, Unternehmen, die Produkte zum Anfassen herstellen, statt riskante Wetten auf mögliche Gewinne in der Zukunft abzuschließen. So gelten die Stars von gestern heute als "überbewertet" und "überschätzt", die Fans wenden sich enttäuscht ab, und je mehr Millennium verkaufen, desto unaufhaltsamer weist der Trend nach unten. Den letzten Getreuen wird nun von denselben Analysten, die Millennium aus populären, also charttechnischen Gründen zum Kauf empfohlen hatten, versichert, dass ihr Wert auch Substanz habe und sich daher sicher erholen werde, wenn man nur geduldig warte.

Ähnlich heißt es von Popstars, deren Platten sich nicht mehr verkaufen lassen, sie seien äußerst begabt und arbeiteten an Projekten jenseits des Mainstreams. Substanz braucht eben Zeit, um die Moden zu überdauern. Man denke nur an TAFKAP (the artist formerly known as prince). Der amerikanische Philosoph Richard Shusterman hat in einem überaus erfolgreichen Werk Kunst. Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus (Fischer Taschenbuch, Reihe Zeitschriften) den Gegensatz zwischen populärer Kultur und unpopulärer Kunst beschrieben: Was schöne Kunst und "ihre rechtmäßige Erfahrung" sei, werde auf die "epochemachende Avantgarde" und die "Elite ihrer Rezipienten beschränkt; avancierte Kunst gelte als schwierig, mithin als "unpopulär", ja "antipopulär", sie entziehe sich dem leichten Konsum und finde daher kaum ein Massenpublikum. Was dagegen auch der "populären Erfahrung und dem weniger gebildeten Verständnis zusagt, wird in ein sub-künstlerisches Reich verbannt und abwertend als Kitsch, Unterhaltung oder »Industrie« der populären Kultur betitelt." Die "Dichotomie hoch / populär" begründet und erneuert ständig "Trennungen in der Gesellschaft zwischen Elite und Herde, Hochkunst und Massenkultur, Avantgarde und Hollywood (Adorno). Shusterman bedauert diese Teilung und hofft, dass einst Funk und Rap genauso hoch geschätzt werden wie Gedichte von T.S. Eliot. 

Um seine Wertschätzung der Popkultur zu begründen, setzt Shusterman jedoch nicht auf Charts, sondern auf Substanz: so biete etwa "HipHop die Freuden dekonstruktivistischer Kunst", an Rap-Texten wird die "reiche Intertextualität" gelobt. Es scheint undenkbar zu sein, HipHop und Rap zu mögen, ohne sie in die Hochkultur hinaufzuanalysieren.

Die gleiche Differenzierung von high und low prägt auch die Semantik der Börse. Sie ist eine elitäre Kultur, weil ihr Jargon "schwierig" und "anspruchsvoll" bleibt, und weil diese Dichotomie die Broker-Elite von der Masse der Anleger genauso unterscheidet wie Wagnerianer von Robbie Williams-Fans. Die Werbung für Fonds inszeniert die Komplexität der Börse und empfiehlt ihre Manager als Eingeweihte. Schön, dass es Herrn Kaiser gibt, der Mann hat den Überblick, wir nicht. Mit substantiellen Argumenten wurde auch die Volksaktie T-Online heruntergeredet, und doch sind alle Robert T-Online-Fans glücklich. Es gibt eben auch eine Popkultur der Börse, weil Aktien in Bestsellerlisten und Charts geführt werden wie Songs und Movies.

Der Maßstab dieser Wertung ist ihre Popularität, und populär ist, was eine wachsende Menge hört, sieht, besucht, kauft. Die Populärkultur ist strikt demokratisch, egalitär und exoterisch. Um an ihr teilzuhaben, muss man nur dort zugreifen, wo die Top-Ten-Regale stehen. Genauso einfach ist es, Aktien zu kaufen. Mit dem gleichen Enthusiasmus für reine Quantität, mit der nach jedem Spieltag die Bundesligatabellen aus den Ergebnissen und die internationalen Top Hits aus der Verkaufsstatistik berechnet werden, erstellen die Massenmedien börsentäglich frische Charts. Und wie man uns Tag für Tag mitteilt, welcher Film oder Song von Platz vier auf Platz zwei marschiert ist, hören wir aus New York, dass die Börsenkapitalisierung von Cisco Systems an Microsoft vorbeigezogen ist. Populäre Autoren, Songs oder Blockbuster sind daran zu erkennen, dass sie die Charts heraufklettern. In oder out, lautet die Frage. Wenn Charts einen Knick bekommen, dann sollte man sich von seinen Stars trennen, um anderen eine Chance zu geben. 

Die Popkultur hat ein kurzes Gedächtnis. Jeden Tag verglüht ein Star und wartet eine zweite Microsoft oder Madonna auf ihre Entdeckung. Ihren Erfolg wird man den Charts entnehmen können. 
 
 

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Dokument erstellt am 29.05.2000 um 21:06:37 Uhr
Erscheinungsdatum 30.05.2000 
 
 

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