Krieg und Frieden
Ein Beben der Begriffe
VON NIELS WERBER

Am 12. Juli 2006 verhängen die israelischen Verteidigungskräfte eine Seeblockade gegen den Libanon und fliegen Luftangriffe. So beginnen Kriege. Zehn Tage später unternehmen motorisierte Verbände "gezielte Vorstöße" über die Grenze, um nach zwei entführten Soldaten zu suchen und ihre Entführer zu bestrafen. Die Hisbollah "antwortet" auf die israelische "Antwort" und greift israelische Siedlungen mit Raketen an. 1500 Menschen sterben, die überwiegende Mehrheit sind Zivilisten. Raketen, Panzer, Kampfjets sind zum Einsatz gekommen, international anerkannte Grenzen zwischen souveränen Staaten sind verletzt worden, dennoch hat hier kein "Krieg" stattgefunden, sondern ein "Konflikt" oder eine "militärische Auseinandersetzung". Jede "grenzüberschreitende Anwendung von Gewalt" wäre ja auch völkerrechtlich verboten, wenn es sich um einen Krieg handelte, also ist es keiner, sondern eine legitime Strafaktion gegen Geiselnehmer, Mörder und Verbrecher.

Fundamentale Begriffsverwischung

Krieg oder Nicht-Krieg. Die Tagesschau nennt auf ihrer Website die "Wortwahl" eine "heikle Sache". Das mag sein, aber wie die Geschehnisse genannt werden, ist viel mehr als eine Frage taktvoller Zurückhaltung der öffentlich-rechtlichen Medien. Denn die begriffliche Unsicherheit zeigt nicht etwa an, dass den deutschen Medien die Fähigkeit abhanden geraten wäre, zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden, sondern der Welt, über die sie berichten. Wenn aber das vorsätzliche, organisierte und gut gerüstete gegenseitige Töten von sozialen Gruppen nicht als Krieg verstanden werden kann, hat sich die Lage fundamental geändert. Einen Tag nach der massiven Bombardierung von Kafr Qana, in deren Zuge 54 Zivilisten sterben, erklärt der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert der libanesischen Bevölkerung, sie sei nicht der Feind und Israel führe gegen ihren Staat keinen Krieg. Warum auch, sagt er, schließlich "gebe es nicht den geringsten Grund für einen Konflikt zwischen uns und dem Libanon." Die Armee kämpfe gegen "ruchlose Terroristen", nicht gegen den Nachbarstaat und seine Bürger oder gar seine Armee. Diese Verlautbarungen werden freilich niemanden davon überzeugen, dass in der Region Frieden herrsche. Der UN-Sicherheitsrat spricht von einem "tödlichen Konflikt" und "offensiven militärischen Operationen", der UN-Generalsekretär brandmarkt das unermessliche "Blutvergießen und Leid" in der Region. Dies scheint eine deutliche Sprache zu sein.

Doch in der Resolution 1701 zur Situation im Libanon fällt der Begriff Krieg nicht ein einziges Mal. Die einstimmig geforderte Waffenruhe ist kein im Kriegsrecht definierter Waffenstillstandsvertrag, so dass man nicht sicher sein kann, ob blutige Maßnahmen und Vergeltungen diese Ruhe verletzen oder vielmehr dem "Recht auf Selbstverteidigung" entsprechen. Die Situation verbleibt in einer semantischen, politischen und rechtlichen Zone der Unbestimmtheit, und der Nicht-Krieg, der im Nahen Osten tobt, kann, wie an vielen Orten der Welt, fortgesetzt werden.

Dass diese "neuen" oder "asymmetrischen Kriege" nicht mehr Krieg heißen, sondern Konflikt, militärische Operation oder Kampf, könnte man für einen euphemistischen Etikettenschwindel halten, um störende Hegungen wie die Genfer Konventionen, die Ächtung bestimmter Waffen oder die Haager Landkriegsordnung zu umgehen, aber es geht um viel mehr: Mit der Unterscheidung von Krieg und Frieden geht ein Begriffspaar verloren, das seit der Antike der Selbstbeschreibung der Kulturen gedient und das Selbstverständnis der Gesellschaften orientiert hat. Für die große Bedeutung solch einer begrifflichen Umwälzung gibt es einige Vorbilder: Wenn etwa die Natur nicht mehr auf Gott bezogen und als Schöpfung verstanden wird, sondern vom menschlichen Geist unterschieden wird, der sie ergründet und beherrscht, ist nicht nur ein "Gegenbegriff" (Reinhart Koselleck) ausgetauscht worden, sondern die Gesellschaft, die sich mit diesem veränderten Begriff von Natur verständigt, ist eine andere geworden. Sie hat sich säkularisiert.

Derartige begriffliche Beben kündigen epochale Verschiebungen nicht nur seismographisch an, sondern es ist die Veränderung in der Selbstbeschreibung, die Epoche macht. Genau dies geschieht zur Zeit mit dem Begriffsfeld von Krieg und Frieden, das nicht mehr passt, weil es keinen Frieden mehr gibt, der diesen Namen als echter Gegenbegriff zum Krieg wirklich verdient. Die Differenz hatte zuvor Jahrtausende als zentrales Ordnungsmuster gedient. Ein römischer Bürger befand sich entweder "zu Hause" oder "im Felde", zu Hause aber herrschte erwartbar Friede und im Felde Krieg.

Klassische Vertreter der politischen Theorie wie Thomas Hobbes oder der Kriegskunst wie Carl von Clausewitz haben Krieg und Frieden als scharf gegeneinander profilierte Gegensätze behandelt. "Die Zeit aber, in der kein Krieg herrscht, heißt Frieden", definiert Hobbes im Leviathan. Der "Zweck des Krieges ist der Frieden", und wenn dieser erreicht sei, ende "das Geschäft des Krieges" schreibt Clausewitz in seinem Werk Vom Kriege. Entweder - oder. Diese Logik schließt alles Dritte aus und versorgt die Gesellschaft mit überzeugenden Selbstbeschreibungen. Die zahlreichen Nicht-Kriege machen dem ein Ende, und die Unterscheidung verliert ihren Sinn. Nach dem Beben der Begriffe wird es friedlos.


Die Karriere des "Nicht-Kriegs"

Die erfolgreiche Karriere des Nicht-Kriegs erschüttert nicht nur die Begriffsarchitektur der Völker- und Menschenrechte, sondern eröffnet eine neue Epoche gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, die ohne den Gegensatz von Krieg und Frieden auskommen müssen. Nach den alten Regeln wird nicht mehr gespielt, ob es neue gibt, ist noch unklar. Der vollständige Verlust an begrifflicher, rechtlicher, politischer und kultureller Bestimmtheit, wie sie dem alten Begriffspaar Krieg und Frieden einmal zukam, verweist auf eine Lage, in der "Interventionen", "Maßnahmen", "Special Operations" und "Preemptive Strikes", "rechtsfreie Zonen", "Ausnahmezustände" oder Fälle wie die von Murat Kurnaz oder Alexander Litwinenko niemanden mehr überraschen können. Die Gesellschaft, die sich an die Effekte des allenthalben und allerorten geführten Nicht-Krieg gewöhnt hätte, wäre eine andere. Sie wäre "entsichert" (Tom Holert/Mark Terkessidis). Der Friede wäre ihr unbekannt.

Niels Werber lehrt Medienkultur an
der Bauhaus-Universität/Weimar.
Am 10.-11. Februar wird im Goethehaus
Weimar eine öffentliche Tagung zum
Thema "Nicht-Krieg" stattfinden.
www..ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/



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Dokument erstellt am 02.02.2007 um 16:24:01 Uhr
Letzte Änderung am 02.02.2007 um 16:43:41 Uhr
Erscheinungsdatum 03.02.2007