Es heißt, Sprecher der "Tagesschau" würden von großen Teilen der Bevölkerung für Regierungssprecher gehalten, so seriös wirken sie. Kein Wunder, dass mittlerweile die Regierungspartei auf ihren Pressekonferenzen das Design der Nachrichtensendung kopiert und alles in ein helles, von Optimismus und Entscheidungsfreude vibrierendes Blau taucht. Der "Tagesschau"-Sprecher ist ein wichtiger Teil dieses Designs. Sein Anzug, seine ernsthafte Mimik und reduzierte Gestik, seine überartikulierte Aussprache und sein bestimmter Tonfall machen den Inhalt der Nachrichten erst zu dem, was sie in den Augen vieler Zuschauer sind: zu Wahrheiten.
Die Wahrheit hat ein Gesicht: Auf dem Schirm sehen wir Jan Landers, seine perfekt sitzende Krawatte, die modisch frisierten Haare, das braune, matt schimmernde, gepuderte Gesicht. Er ist in den Dreißigern, der Jüngste im Team, und liest die 20-Uhr-Nachrichten seit zweieinhalb Jahren. Er sah "gut aus, und es war wichtig, dass er gut aussah, denn er gehörte zur Form. Wie das spezielle Blau, das ,Tagesschau'-Blau, ein kühles Hamburger Blau, das Licht, härter als das Licht der Privaten, schärfere Konturen, höhere Seriosität, die Grafiken, die Schriften und eben er, Landers, seine Haltung, seine Mimik, seine Frisur, seine Stimme, seine Augen. Form."
Im Zeitalter der Oberflächen kommt dem Auftritt die entscheidende Bedeutung zu. Landers spricht, das heißt, er betont die Worte richtig, die er abliest, "was sie sagten, war ihm egal". Auf die Form kommt es an, nicht auf den Inhalt. Ohnehin sei das, was etwa Politiker an Neuigkeiten anzubieten haben, von erheblicher Redundanz. Dafür, dass daraus dennoch News werden, sorgt Jan Landers in dem Moment, wo er eine seiner mattgelben Seiten umblättert und zu lesen beginnt. Hinter dem Schirm verbirgt sich der Betrieb. Schon Landers selbst ist nur eine Blue-Box-Projektion in einem virtuellem Studio. Er ist verkabelt, ein Ohrhörer verbindet ihn mit der Regie, die Anzahl der Todesopfer kann so noch während der laufenden Sendung von neun auf zehn erhöht werden. Er, dem alle alles glauben, trifft "keine einzige Entscheidung" selbst - außer vielleicht der wirklichen wichtigen, welche Krawatte zu welchem Anzug passt.
Landers hängt an den "Fäden" der Regisseure und Techniker "wie eine Marionette". Natürlich sind auch "Regie, Beleuchter, Tonassistenten, Wortredakteure, Bildredakteure" keine selbstbestimmt handelnden Individuen, sondern selbst Puppen verborgener, wichtiger Spieler: der Intendanten, Politiker, Finanziers ... - und der Stasi? Die "Tagesschau": ein Marionettentheater. Oder regiert schlicht das Kalkül, die Statistik von Nachricht und Quote? Man muss sich aufs Publikum einstellen, und das "war berechenbar wie eine Schafherde", bis "auf die Kommastelle", zugleich aber überaus stur: Es war nicht dazu zu bringen, etwa italienische Debatten einem Flugzeugabsturz vorzuziehen. Gibt es einen Hirten dieser Herde, oder geht der gesamte Nachrichtenbetrieb auf in einer großen Feedback-Schleife von Meinungsumfragen, Einschaltquotenstatistik und Programmopportunismus? Welchen Anteil hatte er, Jan Landers, an der Quote. "Hatte er den kleinsten Einfluss?"
Das Cover des Romans "Die Nachrichten" von Alexander Osang zeigt die Weltkarte in verwischten Blautönen. Es erinnert an den Katalog der Videoinstallation "News" von Julian Rosefeldt und Piero Steinle, die in ihrer Arbeit Ausschnitte aus Nachrichtensendungen so zusammengeschnitten haben, dass das täglich Neue als Wiederkehr des Immergleichen erscheint: Politiker schütteln sich die Hände, Autos stehen im Stau, Flugzeuge starten und landen, die Börse schließt fest oder tendiert leicht - und Nachrichtensprecher sprechen immer dieselben Formeln zu immer denselben Ereignissen. Der Nachrichteneffekt - alles ist aktuell, einzigartig, wichtig - wird so als Oberflächenerscheinung entlarvt, und es liegt nahe, nach dem "Dahinter" zu fragen.
An dieser Frage entlang spinnt Osang den roten Faden seines Romans. Allerdings setzt der Journalist der Berliner Zeitung und des Spiegel und Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises dabei eine ganz andere Pointe als die Künstler Rosefeldt und Steinle: Wo "News" mit kühler Lakonie die Gesetze der medialen Konstruktion von Wirklichkeit beobachtet, widmet sich Osang dem Entlarven von gesellschaftlichen Interessen, welche die Sendung oder Unterdrückung bestimmter Nachrichten motivieren. Wenn der Roman sich also medientheoretisch lieber an die Frankfurter Schule hält statt an die von Niklas Luhmanns Konstruktivismus belehrten Zyniker und Ironiker, dann hat das den guten narratologischen Grund, dass man die Agenten und Drahtzieher "hinter" den Fernsehschirmen personalisieren und über sie und ihre Opfer eine Geschichte erzählen kann.
Romane brauchen Protagonisten. Vielleicht wird die Tradition der kritischen Theorie, die vom Kulturindustriekapitel in der "Dialektik der Aufklärung" auf den Weg gebracht worden ist, allein schon deshalb nie an kultureller Relevanz einbüßen, weil ihr Beobachtungsschema (Oberfläche/Realität, Manipulierte/Manipulatoren) sich so ausgezeichnet in Form von Narrationen darstellen lässt. Dass die Manipulatoren dabei bisweilen unter die Manipulierten fallen, wie es in Osangs Roman häufig der Fall ist, gehört zur Dialektik dieses Schemas.
Die Story ist die: Jan Landers kommt aus dem Osten, der Stern hat eine großen Aufmacher mit dem Titel "Der Osten kommt" gebracht, der Spiegel muss nun nachziehen. Spiegel-Redakteurin Doris Theyssen (Ost) bekommt von Büroleiter Berlin, Henckel (West), den Auftrag, einen Artikel zu verfassen, dessen Ergebnis naturgemäß feststeht: Der Osten ist wunderbar integriert, ohnehin gebe es "drei Ostler beim Spiegel".
Theyssen macht sie an die Arbeit, und das heißt zunächst, sie überprüft ihre Promi-Liste auf eine eventuelle Stasi-Vergangenheit. Über Landers gibt es in Neubrandenburg, wo er bei der NVA gedient hatte, eine Akte. Der Bundesbeauftragte Bernd Blöger (Ost) ist nicht nur ein guter Freund der Theyssen, sondern hat auch ein massives Interesse daran nachzuweisen, dass seine Behörde nicht nur Steuergelder verschwendet, sondern wichtige Aufklärungsarbeit verrichtet: Ein Stasi-IM, der als "Tagesschau"-Sprecher die öffentliche Meinung macht, belegte unmissverständlich, dass der Kampf noch nicht vorbei ist, zumal er gegen einen nahezu unsichtbaren Gegner geführt wird, dem man nicht ansieht, dass er der Feind ist. "Landers, ich hätte schwören können, er ist ein Wessi. Der Feind ist untergetaucht.
Obwohl es keinerlei Beweise dafür gibt, dass Landers jemals ein IM gewesen wäre, ruft Blöger den "Tagesschau"-Chefredaktuer Grundmann an, um sich zu erkundigen. Damit war ein "Gerücht" in der Welt, aber "aus dem Munde des Sonderbeauftragten klang ein Gerücht wie eine Tatsache". Dass Jan versichert, er sei absolut unschuldig, ist irrelevant: Ein der inoffiziellen Mitarbeit Verdächtiger gilt solange als schuldig, bis seine Unschuld nicht mehr bewiesen werden kann. Der Sonderbeauftragte hatte den "zwanghaften Wunsch, gebraucht zu werden". Seine Behörde musste IMs enttarnen, der Spiegel konnte sie dann vernichten: "Erfolgreich und ostdeutsch heißt für die Spiegel-Redakteure Stasi. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand im Osten Erfolg hatte, ohne bei der Stasi gewesen zu sein. Sie sind noch im Krieg. Die DDR muss vernichtet werden; sie werden erst Ruhe geben, wenn bewiesen ist, dass auch die Erfinder des grünen Pfeils IMs waren."
Osang scheint es darauf anzulegen, dass seine Leser nach Parallelen in den 30er- und 40er-Jahren Ausschau halten. Die Beschreibungen der Außenstelle Neubrandenburg klingen nach Gestapo; Journalismus als Kriegsführung kennt man vom Stürmer. Dann wären qua Analogie IMs die Juden des wiedervereinigten Deutschlands. Aber Stasi-Oberst reimt sich auf SS, und über Landers Familie hat ein Verwandter Berichte verfasst: "Familienverband fest. Moralische Defizite, aber keine negativ-feindlichen Bestrebungen bei Jan L." Also ist die Stasi die Gestapo der DDR gewesen? Und die Blöger-Behörde ihre Rechtsnachfolgerin? Immerhin hat die Behörde Akten, Gebäude und Mobiliar einfach übernommen, und die Sachbearbeiter der Außenstelle sehen aus, "als hätten sie in ihrem früheren Leben schon einmal hier gearbeitet".
Aber das sind alles nur die verschiedenen Meinungen der Protagonisten des Romans, der Enthüllungsjournalisten, Führungsoffiziere, Stasi-Opfer, Stasi-Mitarbeiter, Nachrichtensprecher und Parteipolitiker, die Osang kunstvoll in diesen Fall Landers verwickelt. In der Installation von Steinle und Rosefeldt war kein formaler Unterschied mehr zu erkennen zwischen "Aktueller Kamera" und "Tagesschau"; ganz ähnlich lassen sich in "Die Nachrichten" Formunterschiede zwischen Stasi und Aufarbeitungsbehörde kaum mehr feststellen. Die Gräben, so könnte eine These lauten, sind also gar nicht so tief, herrscht doch gewissermaßen eine operative Kontinuität. Osang zeigt jedenfalls, wie man die geografische Differenz Ost-West auf die historische Achse projizieren kann und umgekehrt.
Gelungen erscheint mir auch die Schilderung der Probleme, die sich den
Ossis bei der Anpassung an den Westen stellen. Welche Kunst sollte man
aufhängen? Welchen Wein trinkt man auf einer Sommerparty? Was bedeutet
es, wenn man sich für einen Anlass nicht förmlich kleiden solle?
Welcher Frauentyp passt zu einem Nachrichtensprecher, über den "Max"
eine Homestory bringt? Osang führt hier in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte
der Wiedervereinigung ein. Auf dieser Ebene trennen feine Unterschiede
Ost und West, aber die Gräben sind tief. Kein Solidaritätszuschlag,
keine Tarifanpassung kann hier Brücken schlagen. Aber vielleicht sind
die Differenzen zwischen Osten und Westen auch nicht größer
als zwischen Hamburg und Friesland oder zwischen Köln und der Eifel.
Damit könnte man leben.
Alexander Osang: "Die Nachrichten". Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2000.
384 Seiten, 39,90 DM
taz Nr. 6256 vom 27.9.2000, Seite 13, 332 Zeilen, Kommentar NIELS WERBER