Technik strebt zum Körper hin

Synästhetische Erregung: K. Ludwig Pfeiffer ergründet die Lust in den Medien

Von Niels Weber

Eine der wichtigsten Denkfiguren der Anthropologie ist die der Entlastung: Weil der Mensch ein Mängelwesen sei, schaffe er sich Instrumente und Institutionen. Die Kleidung ersetze das fehlende Fell, die Kochkunst das Raubtiergebiss, und Institutionen, so Arnold Gehlen, böten "Entlastung von allzu vielen Entscheidungen, einen Wegweiser durch die Fülle von Eindrücken, von denen der weltoffene Mensch überflutet wird". Eine anthropologische Reflexion über die Anthropologie käme dann wohl zu der These, sie selbst diene der Entlastung, denn sie vermag die Probleme der kompliziertesten Lage umzuformulieren in Fragen nach der Grundausstattung des Menschen.

Dass unsere Lage besonders komplex, ja unübersichtlich ist und dass daran die Neuen Medien einen großen Anteil haben, gilt als sicher. Die Attraktivität einer "kulturanthropologischen Medientheorie", an der K. Ludwig Pfeiffer sich versucht, besteht wohl darin, die historisch so rasanten Veränderungen der kulturellen und medialen Umwelten auf konstante Bezugspunkte wie den "Körper" oder "biologisch-physische, emotionale und kognitive Ebenen der Aufmerksamkeit" rückzukoppeln. Die "im hohen Grade" variierenden "Formen und Medien" können so als vergleichbare Manifestationen bestimmter "anthropologischer Tendenzen" gedeutet werden. Pfeiffer widmet sich dem Kämpfer in der antiken Arena, dem Boxer oder Extremsportler, dem Besucher einer griechischen Tragödie, eines Stierkampfes, einer Music Hall, einer Oper, eines Kinofilms - denn sie alle sind Menschen und machen daher vergleichbare Erfahrungen: Sie lassen sich fesseln.

Versucht man, das 600 Seiten starke, argumentativ mäandernde Werk auf eine These zu reduzieren, dann ist es die, dass Kulturen "Medien" und "Künste" brauchen, die "packende, faszinierende Erfahrungen" ermöglichen. Künste, Medien, Musik- und Sportspektakel legt Pfeiffer fest auf die Erzeugung ästhetischer Erfahrungen im weitesten Sinn, Erfahrungen, die den Körper und das Bewusstsein des Menschen erreichen. "Anthropologisch" wird unterstellt, dass "das Verlangen nach Spannungserlebnissen ständig auf der Pirsch ist" und im Laufe der Geschichte in immer neuen "Medien" zu "ästhetisch-performativer Prägnanz" findet.

Die genaue Definition von Medien und Künsten erspart Pfeiffer sich zu Gunsten der Beschreibung ihrer Effekte im Menschen. So gewinnt er einen denkbar weiten Vergleichshorizont, was sich in monografiestarken Kapiteln zum Roman, zur Oper, zur japanischen Theatralik und zum Sport niederschlägt. Kunst erregt - Körper, Geist, Kultur, und sie tut es um so intensiver, desto intermedialer sie operiert. In der Oper, beim Boxen und im Kabuki-Theater verbinden sich visuelle, auditive, motorische und literarische Effekte zu einem Gesamtmedienkunstwerk, welches das Bedürfnis "nach gesteigerter Körpererfahrung" und synästhetischer Erregung von "Körper, Seele und Geist" so gut befriedigt wie "Film und Rockmusik".

"Medienkonfigurationen" gelinge dies eher als "Einzelmedien" wie dem Roman, der die sinnlichen Potenziale "austrockne", während Medienverbünde "Denken, Fantasie und Sinne zugleich fordern und intensivieren". Deshalb versuche der Roman mediale Effekte in sich hineinzukopieren, um seine "Visibilitäts- und Performanzdefizite" zu überspielen. Deshalb behandelt der Wilhelm Meister das Theater oder Rainald Goetz den Rave. Die "thematisierte Intermedialität" tilge die "schriftlich unterdrückten Dimensionen der Performativität": Wer still und einsam in der Kammer liest, fantasiert dafür von tanzenden Paaren. Die Figur der Entlastung ist hier derartig virulent, dass Pfeiffer eigens betont, er laufe nicht in die "Fallstricke einer Kompensationstheorie".

Pfeiffers weite Auffassung ästhetisch-medialer Erfahrung führt zu einem äußerst sympathischen Kunstbegriff, der sich alle Dünkel spart und Popmusik und Krimis genauso dazuzählt wie Opern und Epen. Schade ist nur, dass Pfeiffer nicht verrät, warum Kulturen, Medien, Künste der Erregung benötigen. Gewiss, ohnedem würde die Kultur verarmen, doch was lässt die Medien immer wieder der "Verarmung kulturell-performativer Kompetenz entgegensteuern"? Ist etwa der Mensch so disponiert, dass er das "Austrocknen" seiner Kultur nicht aushielte?

Pfeiffer, der die Systemtheorie mit Hunderten von Seitenhieben bedenkt, stellt sich nicht der Herausforderung ihrer Funktionstheorie, die diese Frage soziologisch beantwortet: Die gleichsam folgenlose Fesselung der Aufmerksamkeit durch Kunst diene, so die Systemtheorie, der Unterhaltung freier Zeit. Kunst - vom Groschenheft bis zum Blockbuster - verwandle Muße in Kurzweil und Freizeit in spannende Unterhaltung. Die Dynamik der Künste vermeide Langeweile und löse so ein gesellschaftliches Problem. Diese These setzt zwar Menschen voraus, die hören und sehen können, enthält sich aber aller Vermutungen über ihre körperlichen und psychischen Erfahrungen.

Pfeiffer dagegen spricht vom Flow, den Intensitäten, vom glücklichen Erleben überwältigender Synästhesien, vom rauschartigen Genuss. Aber wie wäre denn die "Realität" dieser "Erfahrungen", denen sich die Systemtheorie verschließe, anders zu beobachten als an ihren Thematisierungen in der Kommunikation? Wie der Roman Medien behandelt, können wir lesen, aber wie Menschen Medien erfahren? So überzeugend Pfeiffers Lektüren (!) den Wunsch nach fesselnder Unterhaltung und synästhetischer Erfahrung nachweisen, so fraglich bleibt seine These, dass dies anthropologische Gründe habe.

K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 620 Seiten, 78 DM.
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 15.10.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 16.10.1999