Publikations-Datum:
20000417
Seite: 54

Kultur

Das ewige Bedürfnis nach
ästhetischer Faszination

DAS BUCH

Die Medienanthropologie von Karl Ludwig Pfeiffer
behauptet, dass hinter den neuen Medien ein altes
Bedürfnis steht: Die Lust auf intensive Erfahrungen.
 

Autor: Von Niels Werber

Preisfrage: Was haben die Besucher einer Oper, eines
Fussballspiels und eines Kinofilms gemeinsam? Antwort:
Sie machen ästhetische Erfahrungen. Eine Arie, ein
Doppelpass, ein Filmschnitt faszinieren gleichermassen die
Wahrnehmung des Zuschauers - und nichts anderes heisst
ja Ästhetik. Die Erfahrung dieser Wahrnehmung bei der
Rezeption von Kunst, Events oder Spektakeln gilt dem
Medientheoretiker Karl Ludwig Pfeiffer daher als der
gemeinsame Nenner der schier unendlichen Vielzahl von
Medien und Genres. Da nun alle Menschen seit
Jahrtausenden über denselben Wahrnehmungsapparat
verfügen, sei die ästhetische Erfahrung ein Fall für die
Anthropologie.

Nach genau diesen "Dimensionen kulturanthropologischer
Medientheorie" fragt der Professor für Anglistik und
Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen
in seiner neuesten Publikation "Das Mediale und das
Imaginäre". Laut Pfeiffer steht hinter aller Kunst- und
Mediengeschichte seit der Antike das Bedürfnis des
Menschen nach "starker Erfahrung" und ästhetischer
"Faszination". In den Kampfspielen und Tragödien haben
die Alten dasselbe gesucht und gefunden wie die
Modernen in der Malerei oder der Oper und wir
Postmodernen in den Multimediamaschinen des
Cyberspace - und deshalb haben alle diese Medien genau
eines gemeinsam: die Befriedigung des menschlichen
Erlebnisbedarfs. In einer Epoche, in der in immer
schnellerem Rhythmus ein neues Medium das andere
abzulösen pflegt, bietet diese Anthropologie eine
Perspektive von beruhigender Beharrlichkeit. Denn da
sich das "menschliche Nervensystem" durch den
"Zeitvertreib im Cyberspace" nicht verändern werde, finde
sich hier, in der Wahrnehmung des Menschen, ein
archimedischer Punkt im Strom der Evolution.

Ständig auf der Pirsch

Medial verfasst ist solche Anthropologie, weil sie
annimmt, dass durchsetzungsstarke Erfahrungen
vornehmlich in und durch Medien "inszeniert" werden.
Tanz, Drama, Roman oder Rockmusik bereiten mediale
Angebote, die auf einen kulturellen "Vermittlungsbedarf
ästhetischer Erfahrung" antworten. Pfeiffer unterstellt nun,
"dass das Verlangen nach Spannungserlebnissen
gleichsam ständig auf der Pirsch ist". Der Mensch verlangt
nach immer neuer Spannung, die vom selben Angebot
aber nur einmal befriedigt werden kann. Daher ist dieses
Verlangen "auf der Pirsch" und dient als Motor aller
Medien- und Kunstevolution. Denn weil die
"Inszenierungsbedürfnisse" sich keineswegs immer auf
dieselbe Art zufrieden stellen lassen, müssen die Medien
oder Künste immer wieder eine neue Antwort geben, um
die "Aufmerksamkeit" des Bewusstseins zu fesseln. Und
da Aufmerksamkeit knapp ist, muss man bei einer Vielzahl
von Medien von einem Konkurrenzverhältnis ausgehen.

Die Künste und Medien - und hier hat Pfeiffer gewiss
Recht - buhlen mit unterschiedlichen Mitteln um unsere
Aufmerksamkeit. Dabei räumt Pfeiffer den
"Medienkonfigurationen" mit hohem performativem Gehalt
und grosser sinnlicher Bandbreite die grössten Chancen
ein. Denn er geht davon aus, dass jene Angebote den
Bedarf am besten befriedigen, welche den Körper und
seine Sinne möglichst vollständig einbeziehen (also eher
Oper als Buch). Zudem glaubt Pfeiffer, dass "Kulturen"
aller Zeiten und Orte von der Antike bis zur Gegenwart,
vom fernen Osten bis zum vertrauten Westen "Medien -
traditionell: Künste" brauchen, die "packende,
faszinierende Erfahrungen" ermöglichen, "ohne welche
soziale wie private Lebensformen imaginativ austrocknen".

Ohne Medien, deren Erfahrung fasziniert, erkranke eine
Kultur. Weil diese "Erfahrungsmedien" also "quasi-ewige
und in meinem Sinne anthropologische Formen des
Begehrens" befriedigen, bedient jede Kultur diese
Bedürfnisse - bei Strafe ihres Siechtums. Im Falle eines
"Verlusts imaginär-vitaler Handlungsketten", die dem
Menschen ästhetische Erfahrungen erschliessen, würden
die "Kulturen irgendwann auch ihre «Handlungsfähigkeit»
verlieren".

Doch kommt anscheinend dem "Austrocknen" der Kultur
und den damit drohenden "Verlusten" immer die List der
anthropologischen Vernunft zuvor. Pfeiffer zeigt an vielen
Beispielen, dass die kulturellen Transformationen der
Moderne zwar mit einem "ästhetischen Sensibilitätsverlust"
einhergingen, der zu einer "tief ge- und verstörten
Lebensform" geführt habe, doch seien deren Folgen stets
in anderen Medien kompensiert worden. So zieht sich
durch Pfeiffers Buch die optimistische Gewissheit, dass
uns die intensiven, aktivierenden Effekte immer neuer
enervierender und stimulierender Medienkopplungen für
die Einschränkungen der Monomedien entschädigen. Jede
"mediale Verengung" findet, laut Pfeiffer, ihren Ausgleich.
Der Roman etwa simuliere Formen der Kommunikation,
Interaktion und kulturellen Performanz früherer
"poetischer Medien", um dafür zu entschädigen, dass er
nur ein Monomedium ist. "Die Differenzierung der
Systeme, Diskurse und Rationalitäten" beschädige
"überlieferte Codierungen des Körpers und der Affekte"
und wecke das Bedürfnis nach einer Geselligkeit, die
affektiven Codes Raum gibt. Die schmerzhaften
Differenzierungen der Moderne würden so "neutralisiert".

Wechselseitige Kompensationen

Die "kulturanthropologisch interessierte Medientheorie"
Pfeiffers geht also davon aus, statt dies erst einmal
nachzuweisen, dass Medien die "Bedürfnisse" nach
"entlastender Erregung ausbalancieren". Mensch, Kultur
und Medien bilden ein prästabilisiertes System
wechselseitiger Kompensation. Alles findet einen
Ausgleich: Jede "Verarmung kulturell-performativer
Kompetenz" werde sofort von neuen
Medienkonfigurationen aufgefangen. Dass dem so sei,
versucht Pfeiffer zwar mit reichem Material zu belegen,
doch gelingt ihm das nur so weit, wie unbestimmt bleibt,
was Künste und Medien eigentlich genau sind. So kann er
dann die unterschiedlichsten Phänomene von A bis Z, von
Arien über Fernsehen, Fussball, Film bis hin zu Zen auf
die Bedürfnisse des Menschen beziehen. Er wird immer
das eine oder andere Multimedium finden, das die Kultur
vor dem Austrocknen rettet, damit der Mensch bekommt,
was er braucht.

Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre.
Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999. 618 S., 78 Fr.