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"Ja, das sagte ich"
So lange darüber reden, bis alle einverstanden sind: Populismus als Form der Vermittlung bereits entschiedener Fragen
VON NIELS WERBER

Den "herrschaftsfreien Diskurs", den Jürgen Habermas herbeizudeduzieren suchte, soll es einmal tatsächlich gegeben haben, am 5. 11. 1979 in der Kantine der Bayerwerke in Leverkusen. Dort führte der Ordinarius für Kunstgeschichte der Ruhr-Universität Bochum, Max Imdahl, mit Arbeitern und Angestellten Diskussions-Seminare über moderne Kunst durch, um "die moderne Kunst einfach mal vollkommen frei zu diskutieren. Jeder soll einfach sagen, was er meint!"

Das Projekt
Ist Populismus mehr als das Schüren von Affekten? Das Ausstellungsprojekt "Populism", das in vier Europäischen Städten statt findet, widmet sich dem Begriff als Phänomen mit vielschichtigen Bedeutungsebenen - ästhetischen, intellektuellen und politischen.

Der Frankfurter Kunstverein zeigt die Ausstellung ab dem 10. Mai und veröffentlicht dazu einen Reader. Für die Frankfurter Rundschau bearbeiteten die Autoren einzelne Texte, die wir in loser Folge abdrucken. hoh www.populism2005.com
Jene asymmetrische Rollendifferenzierung von Professor und Student mit all ihren Machteffekten, die in den modernen Welt jeder erlebt, der bei komplexen Problemen Experten wie Ärzte, Anwälte, Ökonomen, Heizungsinstallateure oder Vermögensverwalter konsultiert, sollte ersetzt werden durch die grundsätzliche Gleichheit von Menschen. Das "ehrliche", "ganz offene" Gespräch würde alle elitäre Herablassung des Experten zum Laien überflüssig machen, ja den Unterschied vergessen lassen. "Versuchen Sie das doch mal etwas zu erklären", bat Imdahl, "es kann ja gar nichts schiefgehen. Ich kann Ihnen nur sagen, ich weiß nicht mehr als Sie. Denn ich meine, hier braucht man gar nichts zu wissen. Also insofern sind wir alle gleich dumm oder gleich schlau vor dem Phänomen."

Genau das hatten sich schon die Romantiker erhofft, und genau diese Hoffnung hatte Jürgen Habermas 150 Jahre später revitalisiert: Wir sind keine Personen oder Rollenbündel, keine instrumentalisierten "Formulare", wie Schiller klagte, sondern Menschen, alle gleich, keiner weiß mehr. Imdahl behauptete immer wieder, im Verhältnis zu den Bildern von Max Bill, Victor Vasarely, Pablo Picasso oder Piet Mondrian bestehe zwischen ihm, dem Ordinarius für Kunstgeschichte, und ihnen, den Arbeitern und Angestellten der Bayer AG, keinerlei Differenz, da jeder dank seiner anthropologischen Grundausstattung in der Lage sei, "wirkliche Erfahrungen" bei der Rezeption moderner Kunst zu machen, wie immer auch diese Erfahrungen aussehen mögen.

Aller Gleichheits-Rhetorik zum Trotz offenbart das Seminar aber doch einen Unterschied zwischen Experten und Laien, denn die einen müssen den anderen die Sache vermitteln, wobei sich allerdings die Frage stellt, ob der vermittelte Sachverhalt nach der Vermittlung noch der gleiche ist wie vorher. Wenn jedoch das Ergebnis der Vermittlung feststeht, dann könnte man die rhetorische Herstellung von Gleichheit vielleicht auch Gleichschaltung nennen.

Die bessere rhetorische Strategie

Der Begriff meint meist die Medien, und die Anhänger des herrschaftsfreien Diskurses halten gerade die Massenmedien ohnehin für "vermachtete" Räume, in denen nicht das bessere Argument, sondern die bessere rhetorische Strategie obsiegt. Aber entgegen aller Bekundungen und Mühen greift auch die Interaktion unter Anwesenden zu populistischen Techniken, um der Stimme der Wahrheit Gehör und Gehorsam zu verschaffen. Imdahls Diskurs unterstellt zwar, dass jeder das Phänomen in gleicher Weise rezipiert. Aber er unterschlägt die Vermittlung, die in seinem Seminar die Gestalt einer mehr oder minder raffinierten Gesprächführung annimmt. Gibt er doch nicht nur die Bilder vor, welche gemeinsam erfahren und beschrieben werden sollen, sondern stellt die Fragen und selektiert die Antworten.

Seine Reformulierung dieser Antworten führen dann zu den gewünschten Ergebnissen, auf denen dann die weitere Diskussion aufbaut. Wenn ein Teilnehmer etwa über Picassos Der Traum sagt, es handele sich um eine Person, die "träumt und dabei meinetwegen an ihre Schwester oder an ihre Mutter denkt", dann greift Imdahl diese Ansicht begeistert auf ("Finde ich gut, was Sie da sagen..."), um die Äußerung dann solange umzuformulieren, bis er dann eine ganz andere Formulierung als Rekapitulation ausgeben kann: "Darf ich das mal eben wiederholen, was hier gesagt wurde, denn das ist sehr wichtig. Die Dargestellte träumt von ihrem eigenen Ich, das sie selbst sein möchte. Jetzt weiter!" Der Teilnehmer, der etwas ganz anderes gesagt hat, bestätigt nun: "Ja, das sagte ich."

Nur solche Artikulation von Erfahrungen werden von Imdahl für seine Reformulierungen und Abschluss-Statements ausgewählt, die mit seinen theoretischen Überzeugungen in Einklang zu bringen sind. Die vox populi ist eben nur dann auch vox veritatis, wenn es dem Experten konveniert: Als anschlussfähig erweisen sich längst nicht alle Artikulationen von ästhetischer Erfahrung, sondern nur jene Beiträge, die zu einer dezidierten Theorie der modernen Kunst passen.

Man kann diese Moment, in dem der Teilnehmer in Imdahls kunsthistorischer These seine eigene Bemerkung wiederzuerkennen glaubt, als Übergang zu populistischen Formen der Vermittlung verstehen. Populistisch nicht etwa deshalb, weil hier Volkes Stimme vertreten würde. Populistisch vielmehr daher, weil der Seminarist dazu gebracht wird, eine bestimmte Expertenthese als Produkt seiner eigenen Stimme zu halten. Die populistische Kunst der Vermittlung bringt den Laien dazu zu sagen: "Ja, das sagte ich", wenn der Experte ihm sagt, seine These sei "letztlich" nichts anders, als was der Laie gesagt habe.


Wir können jetzt generalisieren. Populismus vermittelt bereits entschiedene Fragen so an ein Publikum, dass dieses glaubt, es selbst habe so entschieden oder so entscheiden wollen. Die Entscheidung ist bereits in elitärem Kreis gefallen, von der Hartz-Reform über die Nullrunde bei VW bis zur Schließung von Karstadt-Filialen oder Bundeswehr-Standorten, sie muss der Masse nur noch vermittelt werden.

Der Versuch der Vermittlung ist in diesem Zusammenhang immer ein Versuch der Steuerung. Das, was vermittelt werden soll, wird den Massen unter Einsatz populärer Medien "eingebrannt". Selbst die ambitioniertesten Versuche, die Voraussetzungen des Populismus (Asymmetrie der Rollen, Differenz zwischen Elite und Masse, "One-to-many-Broadcasting") zu unterlaufen und einen herrschaftsfreien Diskurs unter Gleichen zu führen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht auf ihr Ziel verzichten wollten: auf die Vermittlung.

Der Populismus greift also keineswegs notwendiger Weise auf irgendeine Volksmeinung (vox populi) zurück, um sie dann, der Zustimmung gewiss, prominent zu vertreten; vielmehr ist es umgekehrt: Eine Idee, eine Meinung, eine Haltung werden im Publikum, unter den Massen, im Volk so implementiert, dass diese annehmen, es sei immer schon die ihre gewesen.

Die vermittelte Sache erscheint dann als die eigene. "Ja, das habe ich gesagt." Das Volk erkennt die vermittelte Wahrheit als die seine an. Die Vermittlung bereits entschiedener Sachen, erkannter Wahrheiten oder erprobter Meinungen setzt die Richtigkeit der Gesinnung stets voraus und blendet die Komplexität und Kontingenz der Entscheidungsfindung, die Möglichkeit alternativer Positionen aus. "Komplexität erzeugt immer Selektionsdruck und Kontingenzerfahrung", stellte Luhmann 1984 fest. Man muss aus mehreren Möglichkeiten auswählen (Selektion), und wer die Wahl hat, weiß um die Alternativen (Kontingenz). Der Populismus der Vermittlung nimmt uns beides ab. Was vermittelt wird, steht nicht in Frage. Die öffentliche Sache wird gar nicht ergebnisoffen diskutiert, sondern alles steht schon fest und wird dann mit oder ohne Erfolg "verkauft".

"Sind Sie etwa für Sozialabbau?"

Erfolgversprechend im Bereich der Politik ist hier der Bezug auf Werte, am besten auf Grundwerte, denn hier kann unterstellt werden, dass "jedermann sie akzeptiert". Wer wäre denn nicht für "Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit" oder Gesundheit? Werte ersetzen sachliche Komplexität, die Trivialität der Wertsprache lässt den beunruhigenden modernen Dual von Selektionsdruck und Kontingenzerfahrung erst gar nicht aufkommen. Die Frage des Beitritts der Türkei zur EU wird über Werte abgewickelt. Wer dafür ist, ist für Integration, wer dagegen ist, ist ausländerfeindlich. Die einzige Alternative zum Wert bleibt der Unwert, aber wer will schon für Krieg, Unsolidarität, Ungerechtigkeit oder Unsicherheit eintreten?

"Sind Sie etwa für Sozialabbau?", fragt mich eine Aktivistin, die Unterschriften "gegen Hartz-IV" einsammelt. Wer sich auf Werte berufen kann, erspart sich die sachliche Komplexität, deshalb haben Werte überall dort Konjunktur, wo Politik nur noch vermittelt werden soll, statt als res publica betrieben zu werden.

Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Wissenschaft operieren wertneutral und undemokratisch, und es geht gar nicht anders. Über Profitabilität oder Wahrheit wird nicht in der Aktionärsversammlung oder im Hörsaal abgestimmt, sondern auf dem Markt oder im Labor entschieden. Dass ein Ordinarius sein Wissen vermittelt, ist selbstverständlich, merkwürdig nur, wenn er dies leugnet. Anders verhält es sich mit politischen Diskursen, die ausdrücklich auf Partizipation und Mitbestimmung aufgebaut sind. Von demokratischer Politik darf man verlangen, dass sie nicht die in den Hinterzimmern der Fachausschüsse getroffene Entscheidungen als Volkes Wille verkauft und allenfalls mit Werten garniert, wenn sie nicht gleich auf massenhafte Akzeptanz stoßen. Demokratische im Unterschied zu populistischer Politik würde bedeuten, den Staats- und Wahlbürger über die Optionen aufzuklären, die zur Entscheidung stehen, statt nur Ergebnisse zu "verkaufen".

Genau dies meinte Kant mit Mündigkeit- eine politische Tugend, die man nicht von jedem Patienten oder Kunden fordern muss, jedoch unbedingt vom Bürger. Aber das Kant-Jahr 2004 ist vorbei, und die Parteipolitik der Pragmatiker hält es weniger mit der Mündigkeit der Bürger als mit machiavellistischen Machttechniken, wie sie einem Fiesko oder Franz Moor zu Gebote stehen. Man muss sich eben bemühen, "den Pöbel unter dem Pantoffel zu halten." Es sind eben nur "Einzelne, wenige", die unter all den "Nieten" zählen. 2005 ist Schiller-Jahr. Die Politik feiert bereits.



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Dokument erstellt am 04.04.2005 um 15:52:37 Uhr
Erscheinungsdatum 05.04.2005