So lange darüber reden, bis alle einverstanden sind: Populismus als Form der Vermittlung bereits entschiedener Fragen
Den
"herrschaftsfreien Diskurs", den Jürgen Habermas herbeizudeduzieren
suchte, soll es einmal tatsächlich gegeben haben, am 5. 11. 1979 in der
Kantine der Bayerwerke in Leverkusen. Dort führte der Ordinarius für
Kunstgeschichte der Ruhr-Universität Bochum, Max Imdahl, mit Arbeitern
und Angestellten Diskussions-Seminare über moderne Kunst durch, um "die
moderne Kunst einfach mal vollkommen frei zu diskutieren. Jeder soll
einfach sagen, was er meint!"
Jene asymmetrische Rollendifferenzierung von Professor und Student mit
all ihren Machteffekten, die in den modernen Welt jeder erlebt, der bei
komplexen Problemen Experten wie Ärzte, Anwälte, Ökonomen,
Heizungsinstallateure oder Vermögensverwalter konsultiert, sollte
ersetzt werden durch die grundsätzliche Gleichheit von Menschen. Das
"ehrliche", "ganz offene" Gespräch würde alle elitäre Herablassung des
Experten zum Laien überflüssig machen, ja den Unterschied vergessen
lassen. "Versuchen Sie das doch mal etwas zu erklären", bat Imdahl, "es
kann ja gar nichts schiefgehen. Ich kann Ihnen nur sagen, ich weiß
nicht mehr als Sie. Denn ich meine, hier braucht man gar nichts zu
wissen. Also insofern sind wir alle gleich dumm oder gleich schlau vor
dem Phänomen."
Genau
das hatten sich schon die Romantiker erhofft, und genau diese Hoffnung
hatte Jürgen Habermas 150 Jahre später revitalisiert: Wir sind keine
Personen oder Rollenbündel, keine instrumentalisierten "Formulare", wie
Schiller klagte, sondern Menschen, alle gleich, keiner weiß mehr.
Imdahl behauptete immer wieder, im Verhältnis zu den Bildern von Max
Bill, Victor Vasarely, Pablo Picasso oder Piet Mondrian bestehe
zwischen ihm, dem Ordinarius für Kunstgeschichte, und ihnen, den
Arbeitern und Angestellten der Bayer AG, keinerlei Differenz, da jeder
dank seiner anthropologischen Grundausstattung in der Lage sei,
"wirkliche Erfahrungen" bei der Rezeption moderner Kunst zu machen, wie
immer auch diese Erfahrungen aussehen mögen.
Aller
Gleichheits-Rhetorik zum Trotz offenbart das Seminar aber doch einen
Unterschied zwischen Experten und Laien, denn die einen müssen den
anderen die Sache vermitteln, wobei sich allerdings die Frage stellt,
ob der vermittelte Sachverhalt nach der Vermittlung noch der gleiche
ist wie vorher. Wenn jedoch das Ergebnis der Vermittlung feststeht,
dann könnte man die rhetorische Herstellung von Gleichheit vielleicht
auch Gleichschaltung nennen.
Die bessere rhetorische Strategie
Der
Begriff meint meist die Medien, und die Anhänger des herrschaftsfreien
Diskurses halten gerade die Massenmedien ohnehin für "vermachtete"
Räume, in denen nicht das bessere Argument, sondern die bessere
rhetorische Strategie obsiegt. Aber entgegen aller Bekundungen und
Mühen greift auch die Interaktion unter Anwesenden zu populistischen
Techniken, um der Stimme der Wahrheit Gehör und Gehorsam zu
verschaffen. Imdahls Diskurs unterstellt zwar, dass jeder das Phänomen
in gleicher Weise rezipiert. Aber er unterschlägt die Vermittlung, die
in seinem Seminar die Gestalt einer mehr oder minder raffinierten
Gesprächführung annimmt. Gibt er doch nicht nur die Bilder vor, welche
gemeinsam erfahren und beschrieben werden sollen, sondern stellt die
Fragen und selektiert die Antworten.
Seine Reformulierung dieser
Antworten führen dann zu den gewünschten Ergebnissen, auf denen dann
die weitere Diskussion aufbaut. Wenn ein Teilnehmer etwa über Picassos
Der Traum sagt,
es handele sich um eine Person, die "träumt und dabei meinetwegen an
ihre Schwester oder an ihre Mutter denkt", dann greift Imdahl diese
Ansicht begeistert auf ("Finde ich gut, was Sie da sagen..."), um die
Äußerung dann solange umzuformulieren, bis er dann eine ganz andere
Formulierung als Rekapitulation ausgeben kann: "Darf ich das mal eben
wiederholen, was hier gesagt wurde, denn das ist sehr wichtig. Die
Dargestellte träumt von ihrem eigenen Ich, das sie selbst sein möchte.
Jetzt weiter!" Der Teilnehmer, der etwas ganz anderes gesagt hat,
bestätigt nun: "Ja, das sagte ich."
Nur solche Artikulation von
Erfahrungen werden von Imdahl für seine Reformulierungen und
Abschluss-Statements ausgewählt, die mit seinen theoretischen
Überzeugungen in Einklang zu bringen sind. Die vox populi ist eben nur
dann auch vox veritatis, wenn es dem Experten konveniert: Als
anschlussfähig erweisen sich längst nicht alle Artikulationen von
ästhetischer Erfahrung, sondern nur jene Beiträge, die zu einer
dezidierten Theorie der modernen Kunst passen.
Man kann diese
Moment, in dem der Teilnehmer in Imdahls kunsthistorischer These seine
eigene Bemerkung wiederzuerkennen glaubt, als Übergang zu
populistischen Formen der Vermittlung verstehen. Populistisch nicht
etwa deshalb, weil hier Volkes Stimme vertreten würde. Populistisch
vielmehr daher, weil der Seminarist dazu gebracht wird, eine bestimmte
Expertenthese als Produkt seiner eigenen Stimme zu halten. Die
populistische Kunst der Vermittlung bringt den Laien dazu zu sagen:
"Ja, das sagte ich", wenn der Experte ihm sagt, seine These sei
"letztlich" nichts anders, als was der Laie gesagt habe.
Wir können jetzt generalisieren. Populismus vermittelt bereits
entschiedene Fragen so an ein Publikum, dass dieses glaubt, es selbst
habe so entschieden oder so entscheiden wollen. Die Entscheidung ist
bereits in elitärem Kreis gefallen, von der Hartz-Reform über die
Nullrunde bei VW bis zur Schließung von Karstadt-Filialen oder
Bundeswehr-Standorten, sie muss der Masse nur noch vermittelt werden.
Der
Versuch der Vermittlung ist in diesem Zusammenhang immer ein Versuch
der Steuerung. Das, was vermittelt werden soll, wird den Massen unter
Einsatz populärer Medien "eingebrannt". Selbst die ambitioniertesten
Versuche, die Voraussetzungen des Populismus (Asymmetrie der Rollen,
Differenz zwischen Elite und Masse, "One-to-many-Broadcasting") zu
unterlaufen und einen herrschaftsfreien Diskurs unter Gleichen zu
führen, sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht auf ihr Ziel
verzichten wollten: auf die Vermittlung.
Der Populismus greift
also keineswegs notwendiger Weise auf irgendeine Volksmeinung (vox
populi) zurück, um sie dann, der Zustimmung gewiss, prominent zu
vertreten; vielmehr ist es umgekehrt: Eine Idee, eine Meinung, eine
Haltung werden im Publikum, unter den Massen, im Volk so implementiert,
dass diese annehmen, es sei immer schon die ihre gewesen.
Die
vermittelte Sache erscheint dann als die eigene. "Ja, das habe ich
gesagt." Das Volk erkennt die vermittelte Wahrheit als die seine an.
Die Vermittlung bereits entschiedener Sachen, erkannter Wahrheiten oder
erprobter Meinungen setzt die Richtigkeit der Gesinnung stets voraus
und blendet die Komplexität und Kontingenz der Entscheidungsfindung,
die Möglichkeit alternativer Positionen aus. "Komplexität erzeugt immer
Selektionsdruck und Kontingenzerfahrung", stellte Luhmann 1984 fest.
Man muss aus mehreren Möglichkeiten auswählen (Selektion), und wer die
Wahl hat, weiß um die Alternativen (Kontingenz). Der Populismus der
Vermittlung nimmt uns beides ab. Was vermittelt wird, steht nicht in
Frage. Die öffentliche Sache wird gar nicht ergebnisoffen diskutiert,
sondern alles steht schon fest und wird dann mit oder ohne Erfolg
"verkauft".
"Sind Sie etwa für Sozialabbau?"
Erfolgversprechend
im Bereich der Politik ist hier der Bezug auf Werte, am besten auf
Grundwerte, denn hier kann unterstellt werden, dass "jedermann sie
akzeptiert". Wer wäre denn nicht für "Freiheit, Gleichheit,
Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit" oder Gesundheit? Werte
ersetzen sachliche Komplexität, die Trivialität der Wertsprache lässt
den beunruhigenden modernen Dual von Selektionsdruck und
Kontingenzerfahrung erst gar nicht aufkommen. Die Frage des Beitritts
der Türkei zur EU wird über Werte abgewickelt. Wer dafür ist, ist für
Integration, wer dagegen ist, ist ausländerfeindlich. Die einzige
Alternative zum Wert bleibt der Unwert, aber wer will schon für Krieg,
Unsolidarität, Ungerechtigkeit oder Unsicherheit eintreten?
"Sind
Sie etwa für Sozialabbau?", fragt mich eine Aktivistin, die
Unterschriften "gegen Hartz-IV" einsammelt. Wer sich auf Werte berufen
kann, erspart sich die sachliche Komplexität, deshalb haben Werte
überall dort Konjunktur, wo Politik nur noch vermittelt werden soll,
statt als res publica betrieben zu werden.
Funktionssysteme wie
Wirtschaft oder Wissenschaft operieren wertneutral und undemokratisch,
und es geht gar nicht anders. Über Profitabilität oder Wahrheit wird
nicht in der Aktionärsversammlung oder im Hörsaal abgestimmt, sondern
auf dem Markt oder im Labor entschieden. Dass ein Ordinarius sein
Wissen vermittelt, ist selbstverständlich, merkwürdig nur, wenn er dies
leugnet. Anders verhält es sich mit politischen Diskursen, die
ausdrücklich auf Partizipation und Mitbestimmung aufgebaut sind. Von
demokratischer Politik darf man verlangen, dass sie nicht die in den
Hinterzimmern der Fachausschüsse getroffene Entscheidungen als Volkes
Wille verkauft und allenfalls mit Werten garniert, wenn sie nicht
gleich auf massenhafte Akzeptanz stoßen. Demokratische im Unterschied
zu populistischer Politik würde bedeuten, den Staats- und Wahlbürger
über die Optionen aufzuklären, die zur Entscheidung stehen, statt nur
Ergebnisse zu "verkaufen".
Genau dies meinte Kant mit
Mündigkeit- eine politische Tugend, die man nicht von jedem Patienten
oder Kunden fordern muss, jedoch unbedingt vom Bürger. Aber das
Kant-Jahr 2004 ist vorbei, und die Parteipolitik der Pragmatiker hält
es weniger mit der Mündigkeit der Bürger als mit machiavellistischen
Machttechniken, wie sie einem Fiesko oder Franz Moor zu Gebote stehen.
Man muss sich eben bemühen, "den Pöbel unter dem Pantoffel zu halten."
Es sind eben nur "Einzelne, wenige", die unter all den "Nieten" zählen.
2005 ist Schiller-Jahr. Die Politik feiert bereits.