Als wenn Gott es
geordnet hätte Ein
medienwissenschaftlicher Aufsatzband untersucht die Zusammenhänge
zwischen Popularität, Wahrheit und des "Volkes Stimme" VON
NIELS WERBER
Dass die Stimme
des Volkes die Stimme Gottes oder die der Wahrheit sei, wird in der
Diskussion der Staatsformen von den Fans der Demokratie seit
Jahrtausenden immer wieder angeführt: vox populi, vox
Dei
- diese Formel wird selbst zum Topos des Populären. Das Argument
dahinter ist quantitativ. Wenn etwas "von allen gebilliget wird", dann
sei es "gleichsam, als wenn es Gott geordnet hätte, und wird
notwendig
dafür gehalten, dass es gilt und gerecht sei", erläutert
Agrippa von
Nettesheim im Jahre 1530. Was der "Menge" einleuchtet, was das "Volk"
beschließt, gereiche meistens zum Besten aller, während die
"Großen"
oder "Könige" ihre ehrgeizigen Ziele oft unabhängig vom Wohle
des
Volkes verfolgten.
Kommt diese Form des Populären gleichsam "von
unten", so versteht man um 1800 Popularisierung umgekehrt als
"Herablassung". Eine Elite der Gelehrten wendet sich an das Volk, nicht
sie bedürfen der Popularität, aber "alle Nichtgelehrten"
schon. Dagegen
müssen sich Experten aller Art mit Techniken der Popularisierung
vertraut machen, um die Masse der Laien zu erreichen. Aber warum
sollten sich Fachleute überhaupt an Ungelehrte wenden?
Schließlich
haben sich die weltlichen wie geistlichen Wissenseliten Jahrhunderte
lang damit begnügt, sich innerhalb ihrer engen Zirkel
auszutauschen,
ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, eine Frage der Scholastik
oder des jus gentium mit "dem Volk" zu diskutieren.
Alle sollen
Leser werden
Exemplarisch
für diesen Band der Reihe Mediologie sind Antworten, die
soziologische
und medienwissenschaftliche Überlegungen zusammenführen.
Zunächst
einmal hat die Einführung des Buchdrucks vor allem
volkssprachlicher
Schriften einen "enthierarchisierenden" Effekt gezeitigt. Gedruckte
Kommunikation, etwa in Form der Flugschriften Luthers,
überschreitet
die engen Grenzen der Stände und Zünfte und wendet sich an
"alle
stende", alle "Teütschen" oder alle "brüder in Christo".
Der
Grund für diesen Wunsch nach Inklusion, den zahlreiche
Beiträge
konstatieren, liegt aber nicht an den neuen technischen
Möglichkeiten
allein, sondern am Umbau der einst ständisch differenzierten
Gesellschaft in Richtung funktionaler Differenzierung. Anders als die
grundsätzlich exklusiven Ordnungen der Stände und Zünfte
- Bauern sind
nicht adelig, Schuster keine Mönche - sind Funktionssysteme wie
Religion, Kunst oder Wissenschaften inklusiv, sie wollen sich, wie
Niklas Luhmann einmal schreibt, "niemanden entgehen" lassen. Alle
sollen Konsumenten, Gläubige, Kunstliebhaber oder Leser werden,
doch
wissen die Experten recht wenig über die Masse ihrer Rezipienten,
die
ihnen als Leser, später dann als Hörer oder Zuschauer
massenmedialer
Formate stets anonym gegenüberstehen.
Der Frage, wie die
einzelnen Funktionssysteme diesem Inklusionswunsch nachkommen, ist
Luhmann kaum nachgegangen; Holger Dainat, Urs Stäheli, Jens
Ruchatz,
Günter Butzer oder Nicolas Pethes zeigen, mit welchen Verfahren
der
Popularisierung versucht wird, "alle" zu erreichen: durch Herablassung
zum Volk oder durch seine Heraufbildung; durch eingängige
Fallgeschichten und "trojanische Pferde", die nach dem barocken Vorbild
der süßen Zuckerhülle bitterer Arznei Anspruchsvolles
angenehm
verpacken; durch neue, kürzere und illustrierte Formate oder durch
Experimente mit allgemein verständlichen Universalsprachen.
Die
von den Cultural Studies vertraute Unterstellung, das Populäre als
subversive, dissidente, antihegemoniale Kraft der "people" aufzufassen
und aus der Fundamentalopposition zu den herrschenden Mächten zu
verstehen, wird hier dekonstruiert und ad acta gelegt, um das
Populäre
funktional auf Inklusionsprobleme der Gesellschaft zu beziehen.
Schiller und Bürger debattieren genauso die Inklusionschancen der
deutschen Poesie wie nord-nigerianische Neuverfilmungen indischer
Premakes auf Zustimmung der breiten, fundamentalistisch ausgerichteten
Massen zielen.
Inklusion und
Exklusion
Aber
jeder Versuch der Inklusion erzeugt Exklusion, und zwar nicht nur in
Indien oder Nigeria. Zeitschriftenprojekte, Radioprojekte, Filmvorhaben
oder Videoproduktionen, die sich an "alle", an das "Volk", an eine
Gemeinschaft oder Kultur oder gar an "die Menschheit" wenden,
produzieren einerseits ganz bestimmte Zugangsbedingungen, die auf den
Betrachter normalisierend wirken. Man muss sich anpassen, um dazu zu
gehören. Andererseits werden all jene ausgeschlossen, die den
Programmatiken der von den Eliten vorgesehenen und von den Massenmedien
umgesetzten Popularisierungsverfahren nicht entsprechen.
Wer die vox
populi
nicht hört, steht außerhalb der Wahrheit. Wer Bürgers
"volksmäßige"
Poesie nicht mag, gehört nicht zum "Volk", sondern zum
"Pöbel". Wer
sich in das Gästebuch der Walhalla nicht eintragen mag, ist kein
Bayer.
Auch global angelegte Popularisierungsversuche wie die Hollywoods oder
Bollywoods generieren neben Utopien universaler Verständigung
stets
auch Homogenisierungsphobien. Vor einer elektrisch fernsehenden,
globalen Esperanto-Zivilisation ekelte sich schon der stets
distinguierte Thomas Mann.
Einem kleinen Detail hat sich keiner
der Beiträger dieses anregenden Sammelbandes gewidmet: Neuerdings
ist
es populär geworden, "unpopuläre" Maßnahmen
anzukündigen - ganz
offenbar um damit Wählerstimmen zu gewinnen. Welche
Maßnahmen das sein
werden, wissen die Eliten. Der Genitiv vox populi muss dann
anders übersetzt werden: als Stimme der Wahrheit, die dem Volk die
Richtung weist. Diese aktuelle Inklusionsdimension des Unpopulären
wäre
noch zu erforschen.