Im gleichen Rhythmus schwingen
Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht erlebt die "Dinge dieser Welt"
VON NIELS WERBER

Eines der schönsten Gedichte von Max Goldt geht so: "Ein Eimer Erbsen mittelfein / steht mahnend an der Autobahn. / Woran gemahnt er? Wovor warnt er? / Vor dem Atomtod. / Ach so." Auch ein "Stapel alter Kinderschuh" gemahnt an den Atomtod. "Ach so, freilich", schließt das Gedicht. Was Erbsen und Kinderschuhe für uns bedeuten, verdanken sie ihrem Zeichencharakter. Ihre körperliche Anwesenheit verschwindet hinter ihrer Bedeutung: Sie warnen vor dem Atomtod.

Max Goldts hochironisches "Freilich" lässt sich als Verallgemeinerung verstehen: Nicht nur Erbseneimer und Kinderschuhstapel warnen oder mahnen, sondern nahezu restlos alles. Die "Dinge dieser Welt", wie Hans Ulrich Gumbrecht sie nennt, werden in ihrer Präsenz übergangen und als Zeichen für etwas anderes aufgefasst, als Symptom, als Spur, als Repräsentation. Ihre sinnliche Qualität wird ignoriert, um statt dessen nach ihrem Sinn zu fragen. Dinge, die nicht zugleich auch als Zeichen fungieren, scheint es nun kaum mehr zu geben, erst recht nicht für Geisteswissenschaftler. Denn deren Theorien haben die Welt in einen Text verwandelt, dessen Bedeutung nicht in seiner Materialität besteht, sondern im von ihm ausgedrückten Sinn, der sich hinter den Lettern verbirgt und nur darauf wartet, vom Interpreten entdeckt zu werden. Für die Welt und ihre Erscheinungen scheint man sich nicht zu interessieren, es kommt auf ihre Textualität an. Alles, was ist, steht für etwas anderes. Mit diesem Anderem hat man es dann zu tun. Es geht um den Atomkrieg und nicht um Erbsen.

Kein Jenseits der Zeichen

Zeichen stehen zwischen uns und der Welt, die laut Derrida für uns zum Text geworden ist. Die Geisteswissenschaften haben uns gelehrt, dass es kein Jenseits der Zeichen gibt. Aber ein Diesseits? In seinem neusten Buch bringt Hans Ulrich Gumbrecht das unvermittelte Erleben der Präsenz der Welt gegen ihre Repräsentation in Stellung. Anders als die abendländische Tradition, die stets versucht, hinter den unmittelbar gegebenen Phänomenen nach dem in der Tiefe liegenden Sinn zu suchen und so die Phänomene selbst auf Abstand zu bringen, richten sich "Präsenzeffekte" direkt an unsere Sinne.

Um diese "Produktion der Präsenz" geht es Gumbrecht. Von der antiken Philosophie bis zum Strukturalismus werde die Welt, die uns sinnlich gegeben ist, als Oberfläche abgewertet, hinter der sich die "tieferen Bedeutungen" erschließen ließen, sei dies nun die Substanz der Metaphysik, die Tiefenstruktur der Semiotik oder der Sinn der Hermeneutik. Die "Dinge dieser Welt", wie Gumbrecht die in ihrer "Präsenz verfügbaren Objekte" nennt, die unseren Körpern und Sinnen unmittelbar gegeben sind, werden seit Jahrtausenden nicht als solche aufgefasst, sondern als Ausdruck von etwas anderem.

Es klingt nach "Seinsvergessenheit", wenn Gumbrecht den Verlust der "Dinge dieser Welt und ihrer Präsenz" beklagt. Wer in das Diesseits der Hermeneutik eintreten und sich für Präsenzeffekte sensibilisieren lassen will, muss lernen, die Dinge nicht gleich als Repräsentationen zu betrachten und in Zeichen zu verwandeln, sondern ihre Körperlichkeit, ihre Nähe und Intensität, ihre Präsenz zu spüren. Gumbrecht möchte "dem Zeitalter des Zeichens ein Ende" setzen, indem er das gesamte geisteswissenschaftliche Begriffsrepertoire, das "uns nur zur Sinndimension Zugang verschaffen kann", austauscht gegen Begriffe, "mit denen man zumindest ansatzweise Präsenzphänomene erfassen kann".

Es wäre verlockend, die Sinndimension der Phänomene einmal links liegen zu lassen, um sich den Effekten ihrer Präsenz zu widmen. Aber was heißt dies für die Wissenschaft? Gumbrecht meint, es gelte Begriffe zu entwickeln, denen die Präsenz der Dinge nicht immer schon entgeht, aber er weist auch darauf hin, dass zwischen der "Weltaneignung durch Begriffe und der Weltaneignung durch die Sinne" eine unüberbrückbare Differenz besteht.

Dies war schon Adornos Problem: Wie sollte man mit Begriffen, deren Eigenschaft es ja immer ist, die Dinge auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, Phänomenen gerecht werden, deren primäre Qualität in ihrer Singularität und Unvergleichlichkeit bestehen soll? Was immer man sinnlich erlebt haben mag, wenn man beispielsweise tanzt, Sport treibt, Musik hört, wandert, einen schönen Körper bewundert: Die Rede über das Erleben ist nie das Erleben selbst. Die sinnliche Sensation der Präsenz bleibt notwendig inkommunikabel und idiosynkratisch.

Gumbrecht wird folgerichtig sehr persönlich. "Es geht um mich." Er habe "die wenigen Harmonie-Momente, die mir widerfahren, höchlich zu schätzen gelernt". Gemeint ist, für einen Augenblick "im gleichen Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt", ohne diesen Moment gleich interpretieren zu wollen. Es geht ums Erleben, ohne dabei Erfahrungen zu machen. Denn Erfahrung meint: vergleichen, generalisieren, den einzigartigen Moment zum Exempel banalisieren. Seine Studenten, wünscht sich Gumbrecht, sollen "Momente der Intensität" mit ihm "mitempfinden", an denen "keine Botschaft" ist, "nichts, was man aus ihnen lernen könnte".

Die Fähigkeit des Erlebens


Das Buch
Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übers. von Joachim Schulte. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 190 Seiten, 10 Euro.

Man möchte es ihnen wünschen, um ihretwillen. Ob sich an der amerikanischen Eliteuniversität Stanford, an der Gumbrecht lehrt, Noten und Abschlüsse für die Fähigkeit dieses Erlebens finden werden, bleibt fraglich. Die Intensitäten, die ihnen Gumbrecht erschließen will, haben womöglich keinerlei direkten akademischen Nutzen, wohl aber psychophysischen. Wer so erlebt, lebt, aber ob die kalifornischen Surfer enorme Studiengebühren zahlen müssen, um zu lernen, im Rhythmus mit den Dingen dieser Welt zu schwingen, darf doch bezweifelt werden. Aber vielleicht sind eher die Kollegen gemeint, die vollkommen vergessen haben, dass ein Kunstwerk, ein Gedicht, eine Melodie nicht nur etwas repräsentieren und bedeuten, sondern dass sie sich auch und zuerst an unsere Sinne, unseren Körper, unsere Seele wenden. Es wäre zu wünschen, diese "Präsenzdimension des ästhetischen Erlebens" zumindest nicht zu verleugnen.