Der
Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht erlebt die "Dinge dieser
Welt"
Eines
der schönsten Gedichte von Max Goldt geht so: "Ein Eimer Erbsen
mittelfein / steht mahnend an der Autobahn. / Woran gemahnt er? Wovor
warnt er? / Vor dem Atomtod. / Ach so." Auch ein "Stapel alter
Kinderschuh" gemahnt an den Atomtod. "Ach so, freilich", schließt
das Gedicht. Was Erbsen und Kinderschuhe für uns bedeuten,
verdanken sie ihrem Zeichencharakter. Ihre körperliche Anwesenheit
verschwindet hinter ihrer Bedeutung: Sie warnen vor dem Atomtod.
Max Goldts hochironisches "Freilich" lässt sich als
Verallgemeinerung verstehen: Nicht nur Erbseneimer und
Kinderschuhstapel warnen oder mahnen, sondern nahezu restlos alles. Die
"Dinge dieser Welt", wie Hans Ulrich Gumbrecht sie nennt, werden in
ihrer Präsenz übergangen und als Zeichen für etwas
anderes aufgefasst, als Symptom, als Spur, als Repräsentation.
Ihre sinnliche Qualität wird ignoriert, um statt dessen nach ihrem
Sinn zu fragen. Dinge, die nicht zugleich auch als Zeichen fungieren,
scheint es nun kaum mehr zu geben, erst recht nicht für
Geisteswissenschaftler. Denn deren Theorien haben die Welt in einen
Text verwandelt, dessen Bedeutung nicht in seiner Materialität
besteht, sondern im von ihm ausgedrückten Sinn, der sich hinter
den Lettern verbirgt und nur darauf wartet, vom Interpreten entdeckt zu
werden. Für die Welt und ihre Erscheinungen scheint man sich nicht
zu interessieren, es kommt auf ihre Textualität an. Alles, was
ist, steht für etwas anderes. Mit diesem Anderem hat man es dann
zu tun. Es geht um den Atomkrieg und nicht um Erbsen.
Kein
Jenseits der Zeichen
Zeichen stehen zwischen uns und der Welt, die laut Derrida für uns
zum Text geworden ist. Die Geisteswissenschaften haben uns gelehrt,
dass es kein Jenseits der Zeichen gibt. Aber ein Diesseits? In seinem
neusten Buch bringt Hans Ulrich Gumbrecht das unvermittelte Erleben der
Präsenz der Welt gegen ihre Repräsentation in Stellung.
Anders als die abendländische Tradition, die stets versucht,
hinter den unmittelbar gegebenen Phänomenen nach dem in der Tiefe
liegenden Sinn zu suchen und so die Phänomene selbst auf Abstand
zu bringen, richten sich "Präsenzeffekte" direkt an unsere Sinne.
Um diese "Produktion der Präsenz" geht es Gumbrecht. Von der
antiken Philosophie bis zum Strukturalismus werde die Welt, die uns
sinnlich gegeben ist, als Oberfläche abgewertet, hinter der sich
die "tieferen Bedeutungen" erschließen ließen, sei dies nun
die Substanz der Metaphysik, die Tiefenstruktur der Semiotik oder der
Sinn der Hermeneutik. Die "Dinge dieser Welt", wie Gumbrecht die in
ihrer "Präsenz verfügbaren Objekte" nennt, die unseren
Körpern und Sinnen unmittelbar gegeben sind, werden seit
Jahrtausenden nicht als solche aufgefasst, sondern als Ausdruck von
etwas anderem.
Es klingt nach "Seinsvergessenheit", wenn Gumbrecht den Verlust der
"Dinge dieser Welt und ihrer Präsenz" beklagt. Wer in das
Diesseits
der Hermeneutik eintreten und sich für Präsenzeffekte
sensibilisieren lassen will, muss lernen, die Dinge nicht gleich als
Repräsentationen zu betrachten und in Zeichen zu verwandeln,
sondern ihre Körperlichkeit, ihre Nähe und Intensität,
ihre Präsenz zu spüren. Gumbrecht möchte "dem Zeitalter
des Zeichens ein Ende" setzen, indem er das gesamte
geisteswissenschaftliche Begriffsrepertoire, das "uns nur zur
Sinndimension Zugang verschaffen kann", austauscht gegen Begriffe, "mit
denen man zumindest ansatzweise Präsenzphänomene erfassen
kann".
Es wäre verlockend, die Sinndimension der Phänomene einmal
links liegen zu lassen, um sich den Effekten ihrer Präsenz zu
widmen. Aber was heißt dies für die Wissenschaft? Gumbrecht
meint, es gelte Begriffe zu entwickeln, denen die Präsenz der
Dinge nicht immer schon entgeht, aber er weist auch darauf hin, dass
zwischen der "Weltaneignung durch Begriffe und der Weltaneignung durch
die Sinne" eine unüberbrückbare Differenz besteht.
Dies war schon Adornos Problem: Wie sollte man mit Begriffen, deren
Eigenschaft es ja immer ist, die Dinge auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen, Phänomenen gerecht werden, deren primäre
Qualität in ihrer Singularität und Unvergleichlichkeit
bestehen soll? Was immer man sinnlich erlebt haben mag, wenn man
beispielsweise tanzt, Sport treibt, Musik hört, wandert, einen
schönen Körper bewundert: Die Rede über das Erleben ist
nie das Erleben selbst. Die sinnliche Sensation der Präsenz bleibt
notwendig inkommunikabel und idiosynkratisch.
Gumbrecht wird folgerichtig sehr persönlich. "Es geht um mich." Er
habe "die wenigen Harmonie-Momente, die mir widerfahren, höchlich
zu schätzen gelernt". Gemeint ist, für einen Augenblick "im
gleichen Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt", ohne diesen
Moment gleich interpretieren zu wollen. Es geht ums Erleben, ohne dabei
Erfahrungen zu machen. Denn Erfahrung meint: vergleichen,
generalisieren, den einzigartigen Moment zum Exempel banalisieren.
Seine Studenten, wünscht sich Gumbrecht, sollen "Momente der
Intensität" mit ihm "mitempfinden", an denen "keine Botschaft"
ist, "nichts, was man aus ihnen lernen könnte".
Die
Fähigkeit des Erlebens
Man
möchte es ihnen wünschen, um ihretwillen. Ob sich an der
amerikanischen Eliteuniversität Stanford, an der Gumbrecht lehrt,
Noten und Abschlüsse für die Fähigkeit dieses Erlebens
finden werden, bleibt fraglich. Die Intensitäten, die ihnen
Gumbrecht erschließen will, haben womöglich keinerlei
direkten akademischen Nutzen, wohl aber psychophysischen. Wer so
erlebt, lebt, aber ob die kalifornischen Surfer enorme
Studiengebühren zahlen müssen, um zu lernen, im Rhythmus mit
den Dingen dieser Welt zu schwingen, darf doch bezweifelt werden. Aber
vielleicht sind eher die Kollegen gemeint, die vollkommen vergessen
haben, dass ein Kunstwerk, ein Gedicht, eine Melodie nicht nur etwas
repräsentieren und bedeuten, sondern dass sie sich auch und zuerst
an unsere Sinne, unseren Körper, unsere Seele wenden. Es wäre
zu wünschen, diese "Präsenzdimension des ästhetischen
Erlebens" zumindest nicht zu verleugnen.