Niels Werber

Franz Kafkas Roman "Der Proceß" (Vortrag, Siegen, 27. 5. 1997)

Meine Damen und Herren,

mein theoretisches Interesse an Kafkas Roman Der Proceß ist ein doppeltes: es ist zu einem Teil literaturwissenschaftlich, zum anderen eher soziologisch. Als Literaturwissenschaftler interessiert mich die Frage, warum es 100 Jahre dauerte, bis aus der Beobachtung der verwalteten Welt ein Roman werden konnte, der diese angemessen schildert; als Soziologe fasziniert mich die Frage, inwieweit Kafkas Roman eine Beschreibung der Gesellschaft birgt, für deren Explikation die soziologische Theorie weitere 50 Jahre braucht. Zum ersten Punkt:

I.

Schiller

Die sich im 18. Jahrhundert durchsetzende Differenzierung der Gesellschaft in nach eigenen Gesetzen autonom operierende Funktionssysteme zerlegt den Menschen in einen Plural heterogener Rollen. Dieser etwa von Luhmann beschriebene Vorgang wird bereits 1795 von Friedrich Schiller bemerkt. In seiner Schrift über die Ästhetische Erziehung des Menschen beschreibt Schiller die Ausdifferenzierung von systemspezifischen Leistungs- und Klientenrollen, deren Handhabung künftig allein über die Inklusion in die Systemkommunikation entscheidet, als einen Zerfall des als unteilbar gedachten ganzen Menschen in "Bruchstücke". Nur spezielle Kenntnisse und Eigenschaften, so bemerkt Schiller sensibel wie irritiert, werden jeweils kommunikativ von Personen abgefragt, wenn "der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten, der Genuß [und die] Arbeit", kurz: alle vordem in Stände, Zünfte und Großfamilien integrierten Funktionsbereiche, "auseinandergerissen wurden." Der moderne Mensch, so Schillers geniales Wort, ist nur noch ein "Formular", das je nach "Geschäft" ausgefüllt wird. "Gleichgültig gegen den Charakter" interessieren sich Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Religion allein für einen "fragmentarischen Anteil" des Menschen, für das, was für seine Rolle als Wähler, Käufer, Anwalt, Untertan, Täter, Patient, Steuerzahler oder Kirchgänger wissenswert ist. Die dazu nötigen "einzelnen Fertigkeiten" werden von den Systemen gepflegt, entwickelt und "zu einer ... großen Intensität ... getrieben". Leistungssteigerung durch Spezialisierung. Die Metapher vom Formular legt nahe, daß dieser Umbau der Gesellschaft in der Verwaltung am Augenfälligsten ist.

Hölderlin und Schlegel

Schillers Beobachtung hat auch innerhalb der Literatur Beachtung gefunden. Die Romane Friedrich Hölderlins und Friedrich Schlegels, Hyperion (1799) und Lucinde (1800), sind von Schillers Beobachtungen geprägt und versuchen, auf das Problem der Systemdifferenzierung eine Antwort zu geben:

Hölderlins Held Hyperion konstatiert in einem seiner Briefe an seinen Freund Bellarmin nach einem Besuch in Deutschland, daß dieses Land im Vergleich zur griechischen Welt zerrissen wirke. Gemeint ist auch hier das Verschwinden des Menschen in seinen ausdifferenzierten Rollen. Hyperion schreibt:

ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?

Ein jeder [erstickt jene] Kraft, [die] nicht [...] zu seinem Titel paßt, [ein jeder] ist [...] in ein Fach gedrückt, wo [...] der Geist nicht leben darf (S. 190).

Statt im "heiligen Zusammenklang" der Teile im Ganzen sei Deutschland von einer "toten Ordnung" geprägt (S. 191). Hyperion hat in seinen politischen Projekten und in seiner Liebe zu Diotima diese verlorene Einheit zu restituieren versucht – vergeblich.

Schlegels Julius ist da optimistischer, obschon er die Lagebeschreibung teilt. Gerade in einer Zeit, in welcher der Mensch erst in "Formulare" zerlegt und dann in "Fächer" abgelegt wird, schätzt Julius an seiner Geliebten Lucinde, daß ihr "Wesen [...] Eins und unteilbar" sei (S. 20). Julius sagt zu Lucinde: "und darum liebst du mich auch ganz und überläßt keinen Teil von mir etwa dem Staate, der Nachwelt oder den männlichen Freunden. Es gehört dir alles" (S. 20). Eine weitere Steigerung ist nicht mehr denkbar. Der Totalinklusion der ganzen Person in die Liebe entspricht die Totalexklusion aller möglicher Außenansprüche sachlicher Natur (Staat), zeitlicher Natur (Nachwelt) oder sozialer Natur (Freunde).

So wesentlich die Beobachtung der Funktionsdifferenzierung für die Poesie Schillers, Hölderlins und Schlegels ist, da sie auf dieser Grundlage ihre Entdifferenzierungsprogramme entwickeln, so sehr fällt auf, daß sie nicht erzählt wird. Wo immer in den beiden Romanen von der Multiplizierung des Menschen in Rollen die Rede ist, wird der Ton philosophisch-reflexiv – es gibt keine Transformation der pauschalen Beobachtungen in eine Narration. Dies hat mehrere Gründe:

  1. Zum einen verstehen sich die Romane Hölderlins und Schlegels als Versuche einer Antwort auf die Funktionsdifferenzierung. Erzählt wird daher nicht die Geschichte einer Person als Formular, wie Kafka dies tun wird, sondern die exemplarische Biographie einer Elite, denen ein Leben jenseits der Systemdifferenzierung doch gelingen soll. Ähnlich wie Schillers Ästhetik geht es auch den Romantikern um eine Therapie der Moderne.
  2. Zum zweiten könnte es daran liegen, daß um 1800 die Gesellschaft nur vom Modell der Interaktion her verstanden wird und deshalb an die Form des Romans für eine Literarisierung des Problems gar nicht gedacht wird. An dieser Konzeption der Gesellschaft liegt es auch, daß die Ausdifferenzierung vor allem als Spezialisierung auf Rollen wahrgenommen wird, deren Dramatisierung sich allenfalls anbieten würde. Herrschaft findet im Drama aber als Interaktion am Hofe statt, an der die Machtunterworfenen nicht teilnehmen. Bürokratische Herrschaft läßt sich so nicht darstellen, obschon man weiß, daß eine neue, vermittelte und vermittelnde Macht die sichtbare Beziehung von Herr und Knecht abgelöst hat. Fürst Pückler faßt in einem Brief diese Transformation in dem prägnanten Satz zusammen: "Die Bureaukratie ist an die Stelle der Aristokratie getreten", und zirkulierende Akten an die Stelle der Interaktion in Oberschichten. Die in intesimale Operationen zerlegte Verwaltungsarbeit, deren Rationalität aus Menschen Formulare macht, scheint nicht poesiefähig zu sein.
  3. Dies liegt nicht zuletzt an Hegel, dessen Ästhetik die Programmatik gerade der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Sein berühmtes Diktum lautet: "Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus" Unter der "Prosa der Verhältnisse" versteht Hegel die "Gegenwart unseres heutigen Weltzustandes und seiner ausgebildeten rechtlichen, moralischen und politischen Verhältnisse". Um diesen Zustand der Moderne zu beschreiben, wählt er das Beispiel eines "Justizbeamten", der "sich benimmt und handelt, wie es Amt und Pflicht erfordert", und damit "nur seine bestimmte, der Ordnung gemäße, durch Recht und Gesetz vorgeschriebene Schuldigkeit [tut]; was dergleichen Staatsbeamte dann noch weiter von ihrer Individualität hinzubringen, [...] ist nicht die Hauptsache [...], sondern das Gleichgültigere und Beiläufige." Hegel beobachtet die Differenz von Individualität und Rolle selbst am "Monarchen", der längst nicht mehr die Gesellschaft nach seiner Persönlichkeit präge, sondern alle Gewalt über "Recht", "Finanzen", "Ordnung und Sicherheit" an seine Behörden deligiert habe (S. 253f). Die Geschäfte des Staates hängen nicht von ihm ab. Es fällt daher schwer, jene "handelnden Individuen" anzutreffen, wie sie die Epen der Antike bevölkern (S. 292). Die Aufgabe des Romans kann daher allenfalls darin bestehen, innerhalb der "gewöhnlichen Weltordnung" das "Echte und Substantielle" herauszupräparieren. "Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse." Dies verweist auf jene Mischung von privaten Beziehungen und äußeren Umständen, wie sie etwa Fontane in zahlreichen Romanen verwirklicht hat. An eine Poesie, die den Justizbeamten in seinen prosaischen Verhältnisse nicht als "individuell lebendige Gestalt", sondern als "beschränktes Glied" der Gesellschaft schildert, wird nicht gedacht, sie wäre eine contradictio in adiecto. Poesie kann nicht Prosa zum Inhalt haben.
Knigge

Die Reduktion sozialer Prozesse auf Rollen und die damit im Regelfall verbundene vereinfachende Zurechnung sozialer Problemfelder auf die Charaktere der Akteure wird zumindest ansatzweise in einem Text überwunden, der ausgerechnet dem standes- und rollengemäßen Umgang mit Menschen gewidmet ist. Am Beispiel der Verwaltungen hat auch der Freiherr von Knigge das unvermeidliche Kompexitätsgefälle zwischen Leistungs- und Klientenrollen beschrieben. In seinem heute noch berühmten wie ungelesenen Ratgeber Über den Umgang mit Menschen (1788) heißt es über die Juristen, die gewöhnlich die "öffentlichen Ämter" bekleiden:

Ihr barbarischer Styl, ihre bogenlangen Perioden, ihre Gabe, die einfachste, deutlichste Sache weitschweifig und unverständlich zu machen, erfüllt Jeden, der Geschmack und Gefühl für Klarheit hat, mit Ekel und Ungeduld. Wenn Du auch nicht das Unglück erlebst, daß Deine Angelegenheit einem eigennützigen, partheyischen, faulen oder schwachköpfigen Richter in die Hände fällt, so ist es schon genug, daß Dein oder Deines Gegners Advocat ein Mensch ohne Gefühl, ein gewinnsüchtiger Gauner, ein Pinsel oder ein Chicaneuer sey, um bey einem Rechtsstreite, den jeder unbefangene Kopf in einer Stunde schlichten könnte, viele Jahre lang hingehalten zu werden, ganze Zimmer voll Acten zusammengeschrieben zu sehn und dreymal so viel an Unkosten zu bezahlen, als der Gegenstand des ganzen Streits werth ist. (S. 354) Diese Beschreibung erinnert an das, was Kafkas Herren K. im Process wie im Schloß zu erleben haben, wenn auch noch Akteure dafür mitverantwortlich gemacht werden. Doch Knigge zeigt sich überzeugt, daß selbst im günstigsten Fall, nämlich wenn "Richter und Sachwalter geschickte und redliche Männer" sind, ein Verfahren so langwierig ist, "daß man Methusalems Alter erreichen muß, um das Ende eines Processes zu erleben." Grund dafür sei die Formalisierung der Verfahren, die nicht mehr am Gut der Gerechtigkeit, sondern an der Korrektheit ihrer Operationen interessiert sind. Knigge empört sich über den Triumph der Legitimität als Verfahren (Luhmann) über die Gerechtigkeit als Wesen der Dezision: Da wird die gegründeteste Forderung wegen eines kleinen Mangels an elenden Formalitäten für nichtig eklärt. (S. 355) Von Amts wegen "privilegierte Diebe" profitieren, wenn sie nur "die Kunst besitzen, Rechnungen aufzustellen, die der Form nach richtig sind." (S. 355) Knigge rät zur Vermeidung von Prozessen um fast jeden Preis. Und hat uns doch "der böse Feind zu einem Processe verholfen" (S. 355), dann solle man "äußerst vorsichtig" sein "im Schreiben, Reden, Versprechen und Behaupten gegen Rechtsgelehrte", denn sie "kleben am Buchstaben" (S. 356), was bedeutet, daß sie in der Lage seien, jedem gewöhnlichen Sinn eines Textes eine "andere Auslegung" zu verleihen. Nichts anderes wird der Kaplan im Dom Herrn K. über die Türhüterlegende sagen. Auf die "Meinungen", so der Geistliche, die über die Bedeutung der Legende bestehn und sich widersprechen, die dennoch aber alle mehr oder minder plausibel sind, solle K. "nicht zuviel [...] achten. Die Schrift ist unveränderlich" (S. 230). Nur die Schrift steht fest, nicht ihre Auslegung. "Schrift" und "Meinung" verhalten sich zueinander wie Gesetz und Urteil in der gleichlautenden Abhandlung von Carl Schmitt.

Zurück zu Knigge, der uns rät: "Einen besseren Rath weiß ich nicht zu geben als den: Man hüte sich, mit seinem Vermögen oder seiner Person in die Hände der Justiz zu fallen!" Knigge weiß aber selbst, daß dieser Rat von niemandem befolgt zu werden vermag, da das Rechtssystem bereits die Totalinklusion aller Bürger in spezifischer Hinsicht durchgesetzt hat. Spätestens mit dem Testament muß auf die Rechtsförmigkeit der Klauseln geachtet werden, will man nicht seinen "Erben" die "Wahrscheinlichkeit eines gerichtlichen Zwistes hinterlassen." (S. 355) Also selbst diejenigen, die einen Prozeß vermeiden wollen, müssen seine "gebräuchlichen Formen" antizipieren, um Schriftstücke möglichst vor künftigen "Verdrehungen" zu schützen. Jeder ist ein Rechtssubjekt. Knigge weiß dies, auch wenn er noch "den bösen Feind" als Urheber des "Processes" benennt (S. 355). Aber nicht der Teufel, die Bürokratie ist unser Schicksal.

Kein Roman

Ich wiederhole die Frage, warum man nicht den Protagonisten eines Romans dieses Schicksal erdulden lassen kann? Allein Knigges Skizze von der Gerichtsbehörde und ihren Klienten böte schon genug Stoff dafür. Vielleicht liegt dies auch an narratologischen Gründen. Luhmann hat die Bürokratie nüchtern als die "ökologische Relation zwischen Verwaltung und Publikum", zwischen "hochkomplexer" Organisation und "relativ einfacher" Abfrage von Dienstleistungen definiert. Wollte man dieses Verhältnis dramatisieren, dann müßte man sich auf die Interaktionen zwischen den einzelnen Beamten und einzelnen Klienten beschränken, was die Komplexität der Organisation und damit auch das Komplexitätsgefälle zum Klienten erheblich reduzieren würde. Man würde sich auf das "relativ einfache" der Interaktionen beschränken und die "hochkomplexe" Bürokratie dahinter bestenfalls andeuten können. Ich vermute, daß erst die Entwicklung des personalen Erzählers der Literatur eine Technik zur Verfügung stellt, die dieses Darstellungsproblem lösen kann. Die von einem Großteil der Interpreten festgestellte Mehrdeutigkeit und Multiperspektivität der literarischen Sprache Kafkas, deren Reflexionstheorie die Türhüterlegende enthält, sein durchgängig inszeniertes Mißtrauen gegen die Eindeutigkeit der Schrift, die radikale Perspektivik der Erzählsituation werden der Aufgabe erstmals gerecht, einen "Process" ohne erhebliche Simplifikation seiner Struktur zu erzählen. Knigge konnte seinen Verdacht gegen die Schriftform nur als Warnung formulieren und den Dienst der Behörden nur pauschal als formale Vergewaltigung natürlicher Vernunft denunzieren, doch bleibt es bei auktorialen Feststellungen und Mahnungen; die Ich-Erzähler Hölderlins und Schlegels begnügten sich mit philosophischer Reflexion und polemischen Exkursen. Zum Thema eines Romans wird die Bürokratie erst bei Franz Kafka.

II.

Der Proceß

Wenn Elias Canettis Diktum zutrifft, Kafka sei "der größte Experte der Macht", und Gilles Deleuze und Félix Guattari Recht mit ihrer Präzisierung haben: "Kafka ist der größte Theoretiker der Bürokratie", dann liegt die Frage nahe, aus welchen Quellen er schöpft. Friedrich Balke hat natürlich ganz recht, wir haben es beim Proceß nicht mit einer "Theorie der Bürokratie" zu tun, aber man könnte sagen, daß Kafka mit seinem Roman auf dasselbe Problem reagiert, mit dem sich die zeitgenössische Rechts- und Sozialwissenschaft gleichfalls konfrontiert. Und das gemeinsame Bezugsproblem, das diese Autoren literarisch oder soziologisch beschäftigt, ist das der bürokratischen Herrschaft.

Alfred Weber

Dazu nun Details aus dem Aufsatz Der Beamte von Alfred Weber aus dem Jahre 1910, den Kafka aller Wahrscheinlichkeit nach kannte. Weber beschreibt die Bürokratie als Organisationsform, statt als Interaktionssystem von Bürokraten – dies ist meiner Ansicht nach eine Voraussetzung sowohl für Kafkas narrative Technik wie für ihren Inhalt.

Weber konstatiert ein allgemeines, noch vages "Kulturgefühl", welches gleichsam spürt, "wie sich ein riesenhafter ‘Apparat’ in unserem Leben erhebt, wie dieser Apparat die Tendenz besitzt, sich immer weitergehend über früher [...] frei und natürlich gewachsene Teile unserer Existenz zu legen, sie in seine Kammern, Fächer und Unterfächer einzusaugen". Man könne bemerken, wie ein dem Apparat eigentümliches "Gift der Schematisierung, der Ertötung alles ihm fremden,/ individuellen, selbstgewachsenen dabei von ihm ausstrahlt, wie er an Stelle dessen ein riesenhaftes rechnerisches Etwas setzt, ein System, das mit einem toten Vor- und Nacheinander, brockenweisen Miteinander, seelenlosen Füreinander sich über alle Arbeit, alles Schaffen breitet." (S. 1321f) Dieses System und seine Wirkungen wird nun nicht mehr wie im 18. Jahrhundert auf die Charaktere von Amtsinhabern bezogen, vielmehr wird umgekehrt die Ausprägung von Personenrollen durch die Organisation des Systems beschrieben.

Weber beobachtet die Machtübernahme eines seelenlosen Apparates, der unsere individuelle Existenz zerschlägt und deren Splitter in die Unterabteilungen seiner arbeitsteiligen Mechanik einsaugt. Er spricht "mit Entsetzen" davon, wie "die Psyche der Bevölkerung sich diesem ‘Apparat’ anpaßt, wie sie in seine Kammern, Fächer und Unterfächer einkriecht", motiviert von der "Sehnsucht nach Versorgtsein" und dem "Streben nach Karrieremachen in dem Apparat" (S. 1322). Was er hier mit ähnlichen Metaphern wie Knigge und Schiller ausdrückt, kann er im Gegensatz zu den Autoren des 18. Jahrhunderts soziologisch beschreiben als Verwandlung der Oberschichten in Beamte, ein Prozeß, in dem er die "ungeheuerste geschichtliche Veränderung der äußeren Einfügung des Menschen in das Leben" (S. 1323) erkennt.

In der Proletarisierung der Unterschichten und der Bürokratisierung der Oberschichten, der Verwandlung von wirtschaftlicher Freiheit in angestellte Abhängigkeit, sieht Weber "der Sache nach" denselben "Prozeß" am Werke (S. 1325). Doch die "Streichung" aller "Elemente der Unabhängigkeit" (S. 1326) greife auf die Seele selbst zu und betreffe ausschließlich den Beamten. Denn während die "unteren Schichten" ihre Identität außerhalb der ihnen für sich gleichgültigen Arbeit suchen (S. 1326), kommt diese Möglichkeit für die "zu Beamten und Angestellten transformierten mittleren und oberen Schichten" nicht in Frage, denn der Apparat bietet Sicherheit und Karriere, Titel und Ansehen nur im Tausch gegen den ganzen Menschen, ja "seine ‘Seele’". Man verlangt die "Lebensbindung an den Apparat" im Sinne einer Involvierung, die über die bloße Abschöpfung der "Arbeitskraft" deutlich hinausgehe (S. 1327). Für die oberen Schichten besteht daher die "Gefahr", "daß sie vergessen sich von dem Apparat zu distanzieren" (S. 1327). Sie identifizieren sich mit ihm und verwechseln seinen "toten leeren Geist", seinen "Mechanismus" mit dem "Interesse ihres Lebens" (S. 1327). Sie werden zu Bürokraten. Das Problem Schillers, daß der Mensch in untereinander unzusammenhängende Rollen zerfalle, wird in der Sicht Webers so auf bedrohliche Weise gelöst. Die Totalinklusion des Menschen in die Apparate wäre die Antwort auf seine Zersplitterung in einen Plural von "Formularen". Der Mensch bedeutet nichts als solcher, "alles aber als Beamter: er wird angeredet nur mit seinem Titel, rangiert nur nach seiner Stellung, ästimiert nach seinem Rang". Und sollte einmal jemand versuchen, "nur Mensch zu spielen", dann werde es ihm "herzlich übel gehn" (S. 1332).

Joseph K.

Einer, dem es übel ergeht, ist der Herr Prokurist Joseph K. Der Roman beginnt mit seiner plötzlichen Verhaftung:

"Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." (S. 9) Das Außerordentliche dieses Morgens macht sich ihm zuerst bemerkbar als Abweichung von der Routine: man hat ihm nicht, wie "jeden Tag gegen acht Uhr früh", das Frühstück gebracht: "Das war noch niemals geschehen." Es herrscht der Ausnahmefall. Als er nach der Bedienung "läutete", betrat statt der Köchin ein fremder Mann seine Wohnung. "Wer sind Sie?", fragt K. vergeblich. Der ehrgeizige Prokurist, der schon ein gutes Stück auf dem Karriere-Zug mitgefahren ist, gerät aus dem gewohnten Gleis. Mit jener "Kleinlichkeit der Psyche und Ängstlichkeit des Daseins" (S. 1330), die Weber für die psychische Ausstattung des Beamten hält, reagiert K. auf den Hausfriedensbruch. Denn obschon sich der Unbekannte nicht legitimiert, erkennt K. "gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden" an (S. 10). Man hindert ihn - ohne daß Gewalt nötig wäre -, seinen Tag wie gewöhnlich zu beginnen und teilt ihm endlich mit, daß er nicht "weggehen" dürfe, da er "ja gefangen" sei. Auf die Frage nach der Rechtsgrundlage reagiert der Mann in der klassischen Manier des Bürokraten, der sich für nicht-zuständig erklärt: "Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen." (S. 11).

K. ist frappiert ob dieser so völlig ungewöhnlichen Form seiner Verhaftung und versucht, sich "Klarheit über seine Lage" (S. 12) zu verschaffen. Er fragt sich, welcher "Behörde" die Personen wohl angehörten, schließlich lebe K. "in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?" Die allgemeine Lage ist also normal, es herrscht kein Ausnahmezustand. Könnte gerade der Normalfall sich als Verhängnis erweisen, wie dies schon Knigge vermutet hat?

K. legitimiert sich vor seinen Wächtern, ohne darum gebeten zu werden, mit seinem "Geburtsschein" (S. 13) und fordert im Austausch mit diesem Beweis seiner Existenz nun auch von seinen Wächtern Ausweise und "vor allem den Verhaftbefehl" (S. 14), als nehme er an, daß eine Eingabe jederzeit auch eine Ausgabe bewirken müsse – als sei die Behörde eine Trivialmaschine. Gegen alle Gewohnheit der schriftförmigen Behördenkommunikation zeigt man ihm nichts dergleichen, sondern rät ihm, sich in seine "Lage zu fügen". Ungehalten über K.s Penetranz erinnert einer der Wächter K. daran, daß sie nur "niedrige Angestellte" seien, "die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die in ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden" (S. 14). Man erklärt sich nicht-zuständig in allem, was K. zu wissen begehrt. Die "hohen Behörden" hätten schon ihre guten Gründe, "eine solche Verhaftung zu verfügen". Aus diesem Verweis auf den verantwortlichen, aber nicht greifbaren Vorgesetzten resultiert: "Es gibt darin keinen Irrtum." Das von Max Weber beschriebene "Prinzip der Amtshierarchie, d.h. die Ordnung fester Kontroll- und Aufsichtsbehörden für jede Behörde mit dem Recht der Berufung oder Beschwerde" (S. 125), wird hier zitiert - und pervertiert.

Die Unmöglichkeit eines Irrtums wird auch damit begründet, daß nicht das Gesetz nach Schuld suche, sondern im Gegenteil "von der Schuld angezogen" werde - ich erinnere an Alfred Webers ganz ähnliche Metapher vom Sog, der von den Apparaten ausgehe. Da K. die Wächter angezogen habe, müsse er schuldig sein. Die Behörde wird ihn später noch zu Untersuchungen vorladen, eine Vorladung, deren Ort und Termin man ihm nicht mitteilt, der er aber gemäß der Anziehungskraft des Gerichtes dennoch wie "zufällig" nachkommt (S. 45). Der Text suggeriert allerdings durch die Häufung dieser "Zufälle", daß es sich in Wahrheit um eine Vorwegkoordination der Organisation handeln muß.

K. beruhigt sich über seine Lage damit, daß er es bisher nur mit den "niedrigsten Organen" der Behörde zu tun habe und ein Gespräch mit "einem mir ebenbürtigen Menschen" wohl alles "unvergleichlich klarer machen" werde (S. 15). Auch er nimmt die Personen seiner Umwelt nach ihrer Stellung wahr, von niedriggestellten Wächtern sei also nichts zu erwarten, außer das ihre stupide Pflichtauffassung ihn von seinem "Dienst" in der "Bank" abhält, was allerdings "bei der verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm, leicht entschuldigt" sei (S. 16). Noch ist also sein Dienst und damit nach Weber seine Existenz nicht gefährdet - ein hoher Rang kann von einem kleinen Versäumnis nicht in so kurzer Zeit zu Fall gebracht werden. K.s Fall, anders als bei jedem Drama, dauert ein ganzes Jahr. Schließlich will der "Aufseher" K. sprechen, der erwartet, nun endlich mit einem höheren Beamten und daher "vernünftigen Menschen" zu sprechen. Auch den Aufseher befragt K.: "von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren?" (S. 20) Ohne Erfolg. "Diese Herren hier", erklärt der Aufseher, "und ich sind für ihre Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen von ihr fast nichts." Das einzige, was K. mit Sicherheit erfährt, ist, daß er "verhaftet" worden ist: "das ist richtig" (S. 20). Erstaunt muß K. nun zur Kenntnis nehmen, daß er trotz seiner Verhaftung seinem Beruf nachgehen solle. Der Aufseher macht auf den Unterschied zwischen Verhaftung und Einsperrung aufmerksam: "Sie haben mich mißverstanden, Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll sie nicht hindern Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein." (S. 23) Was als plötzlicher Einbruch in den Alltag von K.s Leben tritt, soll an dessen Routine nichts ändern. Gerade dies ist aber schwer vorstellbar, denn der "Proceß" gegen K. wird seine Kräfte derart absorbieren, daß an eine auch nur genügende Erfüllung des Dienstes nicht mehr zu denken ist: ihm wird die Kraft dazu fehlen (S. 209f). Die Konsequenz wäre die Vernichtung der Existenz K.s, nach Max Webers Feststellung, daß der "einzelne Beamte" seiner gesamten "materiellen und ideellen Existenz" nach in den Apparat integriert sei. K.s Integration in den Apparat und damit seine "materielle und ideelle Existenz" werden im Laufe seines Prozesses nahezu vollständig zerstört.

Routine und Ausnahme

Wir erfahren mehr über das Leben Joseph K.s: Arbeit "bis neun Uhr im Bureau", dann Spaziergang und Bierstube, wo "gewöhnlich" ein Stammtisch stets dieselben, "meist ältern Herren" versammelt. Einmal wöchentlich geht es zu seiner Geliebten Elsa, einer Kellnerin (S. 26). Es ist ein Leben in der Routine, der festen Gewohnheiten, der regelmäßig wiederkehrenden Ereignisse. Noch am Stammtisch, der "fast ausschließlich aus Richtern, Staatsanwälten und Advokaten" (S. 254) besteht, wird K. deswegen geschätzt, weil er es versteht, "zwischen den Rangabstufungen der Herren richtig zu unterscheiden und jeden seinem Range gemäß zu behandeln." (S. 257) Der gewohnten, routinierten Organisation seiner Existenz entsprechend erlebt K. den Einbruch des Ausnahmezustandes zeitlich als Plötzlichkeit, sachlich als Chaos und sozial als Verwirrung der Rangabstufungen. Auf diese Herausforderung reagiert K., indem er sich energisch daran macht, "die Ordnung wieder herzustellen", um so jede "Spur jener Vorfälle" auszutilgen (S. 26). In einem Gespräch mit seiner Wirtin vertritt K. die Auffassung, daß seine ganze Verhaftung in Wahrheit "nichts" zu bedeuten habe und überhaupt nur deshalb zu einem Ereignis werden konnte, weil er "überrumpelt" worden sei und sich von seiner üblichen Art, den Morgen zu begehen, habe abbringen lassen: "kurz, hätte ich vernünftig gehandelt, es wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig vorbereitet". Daß K. nicht vorbereitet gewesen sei, lag seiner eigenen Ansicht nach daran, daß er in seinen privaten Räumen verhaftet worden ist und nicht an seinem Arbeitsplatz. Er erklärt:

In der Bank z.B. bin ich vorbereitet, dort könnte mir etwas derartiges unmöglich geschehn, ich habe dort einen eigenen Diener, das allgemeine Telephon und das Bureautelephon stehn vor mir auf dem Tisch, immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte; außerdem aber und vor allem bin ich dort immerfort im Zusammenhang mit der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es würde mir geradezu ein Vergnügen machen dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu werden. (S. 29) Ist K. außerhalb seines Burös verletzlich und hilflos, so fühlt er sich im Büro unüberwindlich. Gestützt auf seine eigene Organisation und das ihm zur Verfügung gestellte technische Equipment würde er der Herausforderung durch eine andere Behörde gelassen entgegensehen. Doch der "Proceß" betrifft nicht eine Auseinandersetzung zwischen Organisationen, sondern das typisch asymmetrische Verhältnis einer Gerichtsbehörde zu einem Einzelnen. Daß K. ein hoher Bankbeamter ist, beeindruckt im Gerichtsapparat niemanden, ein Untersuchungsrichter hält ihn gar für einen "Zimmermaler" und nicht - so empört sich K. - für den "ersten Prokuristen einer großen Bank" (S. 50). Die Behörde operiert, wie Schiller es formulierte, "gleichgültig gegen den Charakter", also ohne Ansehen der Person. K. stellt sich stets als "Prokurist Joseph K." vor, wird aber nur außerhalb des Gerichtes auch so behandelt. Angesichts des üblen Verlauf seines Verfahrens und der langsamen, aber sicheren Demontage seiner Stellung in der Bank freut K. sich schließlich darüber, daß der Portier seiner Bank noch "tief die Mütze zog". "K. war also doch noch einer der obersten Beamten der Bank, wollte er es leugnen, würde ihn der Portier widerlegen" (S. 275). Nur der Pförtner versichert ihn noch seiner Stellung.

Der Apparat

K. hält vor einer "Untersuchungskommission" eine längere Ansprache nicht über seine Verhaftung, sondern über die Behörde:

Es ist kein Zweifel, daß hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält mit dem zahllosen unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und andern Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort nicht zurück? Und der Sinn dieser großen Organisation, meine Herren? Er besteht darin, daß unschuldige Personen verhaftet und gegen sie ein sinnloses und meistens wie in meinem Fall ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen, die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das ist unmöglich, das brächte auch der höchste Richter nicht einmal für sich selbst zustande. (S. 56) K. kann den Aufbau der Organisation beschreiben, ohne daß er schon genauere Informationen über die Gerichtsbehörde bekommen hätte, mit denen er erst später von seinem Anwalt Huld, vom Gerichtsmaler Titorelli und vom Angeklagten Block versorgt wird. K. kann hier seine eigenen Kenntnisse über die übliche Struktur von behördlichen Apparaten verwerten, schließlich verfügt er selbst über eine ähnliche Logistik und ist in eine ähnliche Hierarchie eingespannt.

Die Frage drängt sich nun geradezu auf, wozu eine solche "große Organisation" errichtet wird, wenn die Verfahren, die sie einleitet, "sinnlos" und "ergebnislos" sein sollen. Diese "Sinnlosigkeit", die K. unterstellt, erscheint ihm aber nur so, da er keinerlei Kausalität zwischen sich und seinem Prozeß entdecken kann. Dennoch erscheint gerade ein aus der Sicht des erlebenden Angeklagten sinnloses Verfahren vom Standpunkt der handelnden Behörde aus als völlig rational, da sie ohne Verfahren nicht existieren könnte. Wie Knigge schon bemerkt hat, ist es für die interne Operation der Behörden völlig unerheblich, ob Verfahren sinnvoll oder unsinnig erscheinen, da sie in jedem Falle die bürokratischen Organe in Tätigkeit halten. Dies gilt auch für K.s "Verhör", das ohne weiteres ‘Räume mit Akten‘ füllen hilft und damit jene Daten schafft, aus denen die Behörde besteht und sich reproduziert. Der Untersuchungsrichter "schreibt sehr viel", erläutert die Frau eines Gerichtsdieners, er "schreibt so viel Berichte", die er "nach oben liefert". (S. 65) Die Frau schließt von der Menge und Länge der Berichte auf ihre Bedeutung: "Solch lange Berichte können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein." (S. 66) Damit wird dem Verfahren exakt die Rationalität unterstellt, die ihm zukommt. Diese Beobachtung läßt sich am Roman Das Schloß überprüfen, wo K. systematisch vorgeführt wird, daß Übertragungs- und Speichermedien keinesfalls dem Informationsimport der Behörde und ihrer Kommunikation mit ihren Klienten dienen, sondern beinahe ausschließlich dem Selbstkontakt des bürokratischen Systems. Mit einer Formulierung Friedrich Balkes zu sprechen: "Nicht ein wie immer geartetes Ergebnis ist das ‘Ziel’ der Behörde, sondern die unendliche Fortsetzung ihrer Operationen."

Der Sachgüter- und Aktenapparat der Behörde bildet ein von allem Privaten getrenntes Büro, liest man bei Max Weber (S. 551). Für alle Behörden und ihre Beamte gelte das Prinzip der "vollen Trennung" der "Amtsbetriebsstätte (Bureau) von der Wohnstätte." (S. 126) Dieser Grundsatz, dem K. selbst bis zum Tag seiner Verhaftung vollständig entspricht, wird seltsamerweise von der anklagenden Behörde nicht erfüllt, deren Beamte nicht nur "fast unaufhörlich in den Kanzleien" arbeiten, sondern auch dort "schlafen" (S. 82). K. wundert sich darüber, daß die "Gerichtskanzleien" auf dem "Dachboden" residieren, wo die armen Bewohner der Mietskaserne ihren "unnützen Kram" hinwerfen, und folgert: "In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte." (S. 71) K.s Position ist die typische eines "legalen Machthabers", der seine Position als "Beamter" gegenüber dem "Bürger" nicht nur einer bestimmten Rechtsform verdankt, sondern, wie Carl Schmitt zuerst festgestellt hat, auch einer sichtbaren Raumordnung: Der "Macht-Raum" regelt den Zugang zum Machthaber, das Problem der Macht läßt sich reduzieren auf die "Frage des Zugangs zur Spitze" und die Verfügung über die "Korridore", die dort hinführen. Früher war dieser Macht-Raum die Antichambre, das Vorzimmer der Herrscher, heute sind es das "Büro": der "Vorraum aus Schreibmaschine, Telephon und Sekretärin". Wenn K. betont, er habe einen Vorraum, verfüge über eine Sekretärin und habe ein Telephon, dann bedeutet das genau soviel, als würde er sagen: ich verfüge über Macht. Er verkennt allerdings vollständig die Verhältnisse, wenn er deshalb seine "Stellung" für eine der Gerichtsbehörde überlegene hält, und daß dies so ist, macht Kafkas Unterschied zur zeitgenössischen Soziologie aus.

Die Gerichtsbehörde ist K.s eigener Organsiation überlegen, weil sie einen neuen Typus der Macht repräsentiert, die Leib und Seele erfaßt. Mit Michel Foucault könnte man diese auch den Körper erfassende und disziplinierende Macht "Bio-Macht" nennen. K. muß dies schon bald nach seinem herablassenden Vergleich zwischen den schmutzigen Dachbüros und seinem hellen Arbeitszimmer erfahren, als er körperlich unter der Atmosphäre der Büros zu leiden beginnt, obschon er doch "auch Beamter und Bureauluft gewöhnt" sei (S. 81). Zuerst hat er "ein wenig Schwindel", was aber "hier nichts Außergewöhnliches" sei, wie man ihm erklärt (S. 79). Wenn man sich an die kaum atembare Luft gewöhnt habe, so eine Gerichtsangestellte zu K., "werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren." Als K. diesen Grund seiner Übelkeit erfährt, ging es ihm aber gleich "noch ein wenig schlechter", als ahnte er, daß nur die völlige psycho-physische Assimilation an die Behörde der Preis dafür sein würde, das "Drückende" nicht mehr zu "spüren". Ein Beamter, der die Szene beobachtet, "lachte laut" über K., dem "nur hier nicht wohl" sei und eben "nicht im allgemeinen" (S. 81). K. selbst ist es, als sei er "seekrank", er glaubt "auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand." (S. 84)

Er ist gleichsam an Bord eines modernen "Leviathan" gegangen, jenes Meerungeheuers, das in der Bibel als gefürchteter Agent des Chaos gilt (Psalm 74, 13f, Hiob 40, 25), bei Thomas Hobbes dann als Symbol des Souveräns einer vertragsrechtlichen Ordnung, und der nun, bei Kafka, als Symbol einer neuen Machtform dienen könnte, die den Souverän verabschiedet hat, ohne deshalb ins Chaos eines Krieges aller gegen aller zurückzufallen. Ein Indiz für diese Deutung von K.s Seekrankheit läßt sich in Kafkas kurzer Erzählung Poseidon finden, die den Herrscher der Meere am "Arbeitstisch" zeigt, am dem er "rechnete".

Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, so viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Eine "Stellung außerhalb des Wassers", die man Poseidon anbot, lehnte er trotz seiner Mühsal ab, ihm wurde "schon von der Vorstellung übel", ja er "schwankte" schon beim Gedanken daran. Poseidon verwaltet also weiter die Gewässer, das einzige, was ihn wirklich "ärgerte", waren die "Vorstellungen", die "man sich von ihm machte, wie er immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschierte", wo er doch unentwegt "hier in der Tiefe des Weltmeeres" saß und "ununterbrochen rechnete". Die Macht hat nicht mehr die klassische Form einer repräsentierbaren Souveränität - der König hat seinen Dreizack abgegeben, um ganz in seiner Verwaltung aufzugehen.

Poeseidon und die Angestellten der Gerichtsbehörde verlassen ihr Element nicht, weil sie schon physisch von einer neuen Machtform geprägt sind, an die K. sich noch nicht gewöhnt hat. Diese Einsicht weist über die Gebrüder Weber hinaus. Gerade in den Fällen, in denen Kafka die Bürokratietheorien seiner Zeit nicht nur zitiert, sondern variiert und pervertiert, entwirft er eine Machtform, die Carl Schmitt unter den Motti der Occasio und des Endes der Souveränität beschrieben hat und deren Raison Michel Foucault mit den Kategorien der Disziplin und der Überwachung umrissen hat. Die Behörde, so zeigt Kafka deutlich, greift nicht nur auf die Körper aus, sondern folgt den postsouveränen Prinzipien des Panoptismus. K. stößt überall auf die Präsenz der Behörden. Er gelangt deshalb immer wie zufällig zu den Kanzleien des Gerichtes, weil die Behörde die gesamte Stadt mit ihrem Geflecht von Büroräumen und Korridoren überzieht. Selbst die "Rumpelkammer" in seiner Bank wird vom "Prügler" der Behörde zum Vollzug seiner Strafe genutzt (S. 87ff). Auch bei seinem Besuch des Gerichtsmalers Titorelli stellt K. fest, daß dessen Atelier einen Ausgang besitzt, der direkt zu den Behörden führt, obschon diese nach K.s Kenntnis in einem ganz anderen Stadtteil liegen müßten. Die "Gerichtskanzleien", so erläutert der Maler dem erstaunten K., "sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen?" (S. 173) Die Kanzleien des Gerichts sind nicht konzentriert in öffentlichen, repräsentativen Gebäuden, sondern durchziehen die Dachböden der ordinären Mietshäuser der Bürger.

In den Kanzleien, die alle Häuser der Stadt - im Gegensatz zum Land - überziehen, könnte man eine Entsprechung zu Max Webers Diktum von der "Schicksalhaftigkeit der Bureaukratie" shen, die die moderne Welt wie ein "Rahmen" oder "Gehäuse" umspanne, und eine Anspielung auf Alfred Webers Auffassung, der bürokratische Apparat umgebe den modernen Menschen wie ein "Käfig".

Diese Metaphorik besagt aber nur, daß man beständig an die Wände, Grenzen oder Stangen der Bürokratie stößt. Bei Kafka erhält diese Omnipräsenz aber noch einen anderen Aspekt. K. begreift nach der Episode bei Titorelli nämlich, daß das Gericht potentiell überall und jederzeit da sein könnte (S. 173), eine "Grundregel", die er erst nun erworben und bislang "immer wieder" vernachlässigt hatte (S. 173). Immer und überall präsent - diese Regel verweist über Weber & Weber hinaus auf eben den Aspekt moderner Macht, den Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen als "Panoptismus" bezeichnet hat; Panoptismus, in Anlehnung an Benthams Gefängnisarchitektur, die im Gefangenen den Eindruck ständiger Überwachung erzeugt, obschon aus der Möglichkeit der Überwachung nicht unbedingt ihre Wirklichkeit resultiert. Die Überwachungskamera genügt um abzuschrecken, sie muß nicht eingeschaltet sein. Entscheidend sind nicht die Gitterstäbe des "Käfigs", sondern seine Transparenz. K. hat diese Spielregeln des Panoptismus gelernt und nimmt sich vor, "sich niemals überraschen zu lassen", wenn er irgendwo auf Gerichtsorgane trifft, was nichts anderes bedeutet, als daß er permanent mit ihrer Anwesenheit rechnet und sein Verhalten daran orientiert. Das Leben wird geführt wie unter ständiger Überwachung.

Kommen wir nun zur Form des Occasionellen: K.s Anwalt Huld macht sich mit größtem Fleiß an die Verfassung einer sogenannten "Eingabe". Diese erste "Eingabe", die einen besonders guten Eindruck machen solle, weise allerdings den Nachteil auf, daß sie von der Behörde "gewöhnlich verlegt" werde oder "gänzlich verloren gehe" (S. 120). Die Aktenform ist zwar obligate Geschäftsgrundlage des Verfahrens, doch stehen die Akten niemals zur Verfügung. Das "Gesetz" schreibe ohnehin "Öffentlichkeit", also Publizität nicht vor.

Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichtes, vor allem die Anklageschrift dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann eigentlich nur in zufälliger Weise etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. (S. 120) Statt strenger Kausalität herrscht der Zufall, mit den Worten Carl Schmitts könnte man vom Verfall der Causa sprechen, die der Herrschaft der Occasio vollständig Platz gemacht habe. In der Politischen Romantik, die wie Kafkas Proceß 1925 zuerst erscheint, hat Schmitt beschrieben, wie der klassische Staat, dessen Ratio die Causa gewesen sei, von einer "occasionellen Haltung" (S. 24) abgelöst wurde, dessen Prinzip die "magische Hand des Zufalls" sei (S. 25). Dieser Haltung könne "wirklich alles zum Anlaß für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar" (S. 24). Das Prinzip der "Anschlußfähigkeit" (N. Luhmann) übernimmt das Zepter des Souveräns, der einst aus seiner Autorität heraus die Sache entscheiden konnte. Diese Beschreibung der Occasio, die sich wie eine Paraphrase der Ausführungen des Advokaten Hulds ausnimmt, "verneint", so Schmitt, "den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm". Die Occasio löse alle Kausalität, sei dies mechanisch oder juristisch gemeint, auf. Entscheidung und Norm verlieren ihren Zusammenhang. Stattdessen wird das "Gelegentliche und das Zufällige zum Prinzip" (S. 22). Wenn Huld sagt, er könne für die "Sache" nur "zufälliger Weise" etwas erreichen, dann erklärt er wie Schmitt die Ablösung der Causa durch die Occasio zur Geschäftsgrundlage. Der Einfluß auch der besten Anwälte auf die Beamten ist ebenfalls rein zufällig. Die "Auskunft" über die Einschätzung des Prozesses, die befreundete Beamte Anwälten wie Huld erteilen, kann schon am nächsten Tag die "entgegengesetzte" Folge haben (S. 123). Nichts ist erwartbar, alles ist möglich. Daran ändern auch informelle Kontakte nichts, die normalerweise Einfluß erzeugen. Nur "überraschend" und "plötzlich" kommt es zu einer Übereinstimmung der Interessen der Anwälte oder Angeklagten mit den der befreundeten, einflußreichen Gerichtsfunktionäre. Zu dieser Kontingenz kann man sich eigentlich nur noch ästhetisch verhalten.

Auch die Interaktion unter Freunden zeitigt nur kontingente Effekte (S. 127), die gleichwohl von Onkel und Anwalt ungeheuer wichtig genommen werden. Kafka verwendet viele Zeilen darauf, die Unzurechnungsfähigkeit herauszustellen, die zwischen den internen Operationen der Behörde und den Handlungen der Personen außerhalb der Behörde besteht. "Grundsätze" für das Verhalten der Organe, die ihr Handeln erwartbar machen würden, "gibt es kaum" - ja eigentlich gar nicht. "Nichts" erscheint einem hier "sicher" (S. 127). Vorhersagen über den Prozeßverlauf, so muß K. hören, oder auch nur Einschätzungen der momentanen Lage seien unmöglich (S. 129). Diese Behörde ist mit Max Weber, der als die wichtigste Qualität der Bürokratie die "Berechenbarkeit" ihrer Entscheidungen herausgestellt hat, nicht mehr zu beschreiben - sie entspricht vielmehr der Schmittschen Kategorie des Occasionellen oder Luhmanns Begriff der Anschlußfähigkeit. Von Schmitts Wort vom Anlaß ist es nicht weit zu Huld, der ausführt: "ein solcher Proceß rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab und braucht nur hier und da einen Anstoß" (S. 124).

Der Roman schildert Herrn K. als Aktenvorgang, dessen Verlauf nicht von ihm selbst abhängt, sondern von der Fähigkeit der Behörden, Eigenkomplexität aufzubauen und Informationen über ihre Umwelt in diese Komplexität einzubauen. K. muß dazu nur seine Identität bestätigen: "Josef K., fragte der Aufseher. [...] K. nickte." Alles weitere läuft wie von selbst. Die Beschreibung, die Huld von der Behörde gibt, nähert sich daher sehr dem Bild eines sich selbst organisierenden, operativ geschlossenen Systems. Das Besondere an der Behörde ist ihr Prinzip der dynamischen Stabilisation, das jede externe und interne Irritation absorbiert. Huld erklärt K. daß

dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt und selbst abstürzen kann, während der große Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an einer anderen Stelle - alles ist doch in Verbindung - Ersatz schafft und unverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was sogar wahrscheinlicher ist, noch geschlossener, noch aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. (S. 126) Die Theorie dieser Behörde wäre die eines Systems, dessen Elemente nicht länger aus Menschen bestehen, denn diese können aus der Organisation "hinausfallen", sondern aus einem selbstsubstitutiven, evolutionsfähigen Netzwerk von Operationen, deren Anschlußfähigkeit nur im System und nach dessen Regeln hochwahrscheinlich ist, außerhalb des Systems aber als kontingent erlebt wird. Dies entspricht der immemsen Komplexität der Behörde, die durch niemanden mehr adäquat beobachtet zu werden vermag: "Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes", so Huld, "sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar." (S. 124)

Da von der Seite der Angeklagten aus der Ausgang der Verfahren nicht zu prognostizieren ist, verlegen sich viele "auf den Aberglauben". So glaubt man etwa unter den Angeklagten, die baldige Verurteilung K.s an der Form seiner Lippen ablesen zu können, obschon an diesen Lippen "nichts besonderes" zu erkennen sei (S. 184). "Die abergläubischen Meinungen bestehen schon seit altersher und vermehren sich förmlich selbst" (S. 185). Der Aberglaube hat die Aufgabe, unbestimmbare Komplexität in bestimmte Komplexität zu überführen oder Unabsehbares erwartbar zu halten - und sei es als Abweichung von der Erwartung. Wir befinden uns hier auf dem Gebiet religiöser Kommunikation. Alfred Weber hat von der "Theokratisierung" der Apparate und vom "Götzendienst vor dem Beamtentum" gesprochen, der eine eigene verquere "Mystik" ausgeformt habe (S. 1333). Kafka zeigt, daß es gar nicht anders geht. Wo die Kausalität fehlt, muß der Aberglaube herhalten. Dies bestätigt auch der Bericht Titorellis zur Legendenbildung im Anwaltskreis. Gerade auch die "abschließenden Entscheidungen des Gerichtes werden nicht veröffentlicht", von den letztinstanzlichen Urteilen der "alten Gerichtsfälle" haben sich "nur Legenden erhalten", die zwar "sehr schön" seien und eine "gewisse Wahrheit" enthielten, aber eher zum Bereich des Kunst gehören als zu dem der Jurisdiktion, denn vor Gericht kann man sich nicht "auf diese Legenden berufen" (S. 162).

Der Gerichtsmaler Titorelli erläutert K. die "drei Möglichkeiten" der "Befreiung": "nämlich die wirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung." Auf den ersten Fall, die wirkliche Freisprechung, habe er, Titorelli, keinen Einfluß, allein die "Unschuld" des Angeklagten sei dafür "wahrscheinlich" maßgebend. Doch wissen wir schon, daß das Gericht nur im Falle der Schuld tätig wird, und Titorelli fügt hinzu, daß er noch niemals von einer "wirklichen Freisprechung" gehört habe (S. 161), obschon es "unwahrscheinlich" sei, daß in "so vielen Fällen" niemand unschuldig gewesen sei (S. 161). Angesichts dieser Einschätzung bemerkt K., ein "einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen" (S. 162), und formuliert so mit aller Prägnanz den Wechsel von der Macht als Dezision zur Macht als unendliches Prozedere.

Es bleiben die anderen beiden Möglichkeiten, die "scheinbare Freisprechung und die Verschleppung" (S. 164). Erstere bewirkt durch eine "Bürgschaft" und eine Sammlung einer "genügend große Anzahl von Unterschriften der Richter" (S. 166), daß das Verfahren zu den Akten gelegt wird. K. wäre frei - allerdings nur "für den Augenblick", bis eine höhere Instanz das Verfahren wieder aufnimmt, was allerdings in keiner Weise vorhersehbar sei. Nach einer abermaligen Verhaftung könne man erneut einen vorläufigen Freispruch erwirken: "dem zweiten Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung und so fort" in perpetuum (S. 168). Da die letzte Instanz unerreichbar ist, kann man unendlich mit diesem Aufschub der Verurteilung fortfahren.

Anschließend läßt sich K. das "Wesen der Verschleppung erklären" (S. 168), das darin bestehe, den "Proceß dauernd im niedrigsten Proceßstadium [zu] erhalten" (S. 168). Man überredet niedere Beamte zum berüchtigten "Dienst nach Vorschrift", der Behördenvorgänge wirksam zu blockieren und Entscheidungen abzuwehren vermag. Der "Angeklagte [sei] vor einer Verurteilung" nun "fast ebenso gesichert", "wie wenn er frei wäre", was allerdings mit seiner tatsächlichen Freiheit nicht zu verwechseln sei. Schließlich könne "der Proceß nicht stillstehn", auch wenn man ihn ohne Kraft weiterführt, so daß "von Zeit zu Zeit" die eine oder andere Anordnung getroffen, das eine oder andere Verhör abgehalten würde. Ausschließlich im Selbstkontakt vermag auch diese Behörde nicht zu prozessierern, sie benötigt ab und an ein paar neue Akten - sie ist also operational geschlossen und zugleich umweltoffen. Dies führe aber nur zu "Unannehmlichkeiten" (S. 169), die man sich so gut wie möglich erleichtern könne, etwa durch Terminabsprachen für Verhöre "lange Zeit im voraus" (S. 170). "Die Vorteile und Nachteile" beider Strategien seien "haarfein. Man muß alles genau abschätzen." (S. 170)

Ein wirklicher Freispruch wäre eine Entscheidung in der Sachdimension - entschieden wird "ohne Ansehen der Person"! Bei einer scheinbaren Freisprechung, die, wie Titorelli betont, vor allem von der sachlich nicht vorhersehbaren "Stimmung des Richters" (S. 170) abhängt, läge die Priorität dagegen in der Sozialdimension. Der Richter würde nicht in seiner Funktionsrolle, sondern als guter "Bekannter" adressiert. Die Unterschriftensammlung für die Bürgschaft betont diese Akzentsetzung noch - der anerkannte gute Name Titorellis soll den Erfolg verbürgen. Im Falle der Verschleppung handelt es sich um eine Manipulation auf der Ebene der Zeit. Titorelli betont hier, daß diese Variante Planung ermöglicht und Überraschungen unwahrscheinlich werden läßt. K. läßt sich auf beide Möglichkeiten nicht ein und erzwingt so, im Gegensatz zum lebenslänglich wartenden Landmann vor dem Gesetz, doch noch eine Entscheidung.

Das Ende

Da der Roman Fragment geblieben ist, läßt sich nicht genau sagen, wie K. es gelingt, seinen Prozeß so schnell zu einem abschließenden Ende zu bringen. Im Fragment, das in der kritischen Ausgabe von Malcolm Paisley den Titel "Zu Elsa" trägt, findet sich aber ein Hinweis. K. wird abends "telephonisch angerufen und aufgefordert sofort in die Gerichtskanzleien zu kommen" (S. 261). Davor, "ungehorsam" zu sein, wird er ausdrücklich gewarnt. Man fragt ihn am Telephon, ob er es etwa zu "Gewaltmaßregeln" kommen lassen wolle, "mit denen man ihn bisher verschont habe?". Speziell seine Bemerkungen, er wolle "telephonische und schriftliche Einladungen nicht beachten und Boten aus der Türe werfen", seien "protokolliert" und hätten ihm bereits "geschadet". Die Behörde reagiert empfindlich auf die Ankündigung, ihre Medientechniken zu ignorieren, denn ohne Vermittlung funktioniert der Apparat nicht.

K. kündigt an, er werde trotzdem nicht kommen, worauf ihm Sanktionen angedroht werden: "Man pflegt die Machtmittel des Gerichtes nicht auf sich zu hetzen", erklärt man ihm am Telephon mit freilich "schwächer werdender und schließlich vergehender Stimme" (S. 262). Die Stimme wird schwächer, je mehr sie droht, denn ausgeübte Macht ist geringe Macht. Macht ist darauf angewiesen, daß man die Wechsel auf Gewalt, die sie ausstellt, nicht einzulösen pflegt, denn sonst kommt es wie bei den Bankguthaben, die alle auf einmal abheben wollen, zum Crash. Macht ist nicht ausgeübte Macht, sondern gerade die Überflüssigkeit der Anwendung von "Gewaltmitteln". Macht wird – nach der Auskunft Luhmanns - gerade "durch aktuelle Ausübung, durch Anstoßen der Körper, annulliert". K. will das Gericht in kaum zu überbietener Weise herausfordern, indem er sagt, er wolle doch einmal "versuchen die Machtmittel kennen zu lernen" (S. 262). Macht funktioniert aber nur als Drohpotential, als Vermeidungsalternative, nicht durch Gewalt oder Zwang. Erst "mangels Macht" wird "Zwang" ausgeübt. Statt zum Gericht, fährt K. "ohne zu zögern" zu Elsa (S. 262). Mit Max Webers Worten könnte man sagen, daß K. seine "Chance" auf "Zwang" zu erzwingen sucht. Er verweigert sich, und wir sprechen weiter mit Webers Worten, der "Disziplin", jenem Selbstzwang, der in modernen Gesellschaften die sichtbare Anwendung von "Zwang" ersetzt hat (S. 440). Dieser Normalfall wird von K. bestritten, er will die Machtmittel sehen, über die man verfügt. Wenn man aber dem Machtzentrum ins Angesicht sehen will, muß man nach der Ansicht Carl Schmitts den Ausnahmezustand befragen. "Im sog. Ausnahmezustand tritt [...] das jeweilige Zentrum des Staates offen zutage." Der "Justizstaat" aber habe für diesen Fall das "Standrecht" reserviert.

Am "Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages [kommen] zwei Herren in K.’s Wohnung", die ihn zu seiner Exekution geleiten werden. Rasch erreicht man einen Steinbruch vor der Stadt, K.s Körper wird auf einem Block arrangiert, man zieht ein "langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser" (S. 241). K. denkt an einen möglichen Ausweg aus seiner Lage. "Gab es Einwände, die man vergessen hatte? gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der Leben will, widersteht sie nicht." Bei diesen Gedanken sticht ihm einer der Herren das Messer ins Herz. "Wie ein Hund!", sagte K., und "es war, als sollte die Scham ihn überleben." (S. 241)

Joseph K. ist tot, den Souverän hat er nicht zu Gesicht bekommen, obschon er ihn mit seinen letzten Worten benennt. Franz Kafka dagegen hat uns in diesem Roman erstmals sein neues, vielgestaltiges Gesicht unübertroffen gezeigt. Es ist ein Gesicht, das gleichsam aus zwei Schichten zu bestehen scheint, die sich teils gegenseitig überlagern, teils miteinander vermischen. Die eine Schicht haben wir mit Alfred und Max Weber als bürokratische Herrschaft beschrieben, doch haben wir gesehen, daß Kafkas Text auf diese gleichzeitigen Theorien nicht zu reduzieren ist. Die zweite Schicht könnte man als Deformation der ersten Schicht bezeichnen, doch wird man ihr damit nicht gerecht. Denn sie ist nicht allein als eine Abweichung von den rationalen Mustern der bürokratischen Herrschaft zu verstehen, in der man bisweilen auch eine Satire auf die österreich-ungarische Bürokratisierung gesehen hat, sondern ihr kommt eine eigene Logik zu, deren theoretische Formulierung mit Weber nicht möglich wäre und stattdessen auf die avanciertesten Thesen Carl Schmitts und vor allem auf Michel Foucault vorausweist, der die "tiefgreifende Transformation" der "Machtmechanismen" von der "alten Form" des "Souveräns" zur modernen "Lebensmacht" beschrieben und als ihre Elemente "Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation" benannt hat. 1914, als die Könige noch auf den Thronen sitzen, hat Kafka bereits einen Roman über die nachsouveräne Form der Macht geschrieben, unter deren Zeichen wir noch heute alle stehen.