Frank Böckelmanns Essays entwerfen eine Archäologie deutscher
Identitätsbildung. Bösartige, scharfsinnige Analysen.
Autor: Von Niels Werber
Dank sei den Jubiläen! Ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer widmet
man sich nun gründlich der neu vereinten deutschen Nation. Heinz Bude
beschreibt die "Ironische Nation", Norbert Bolz mokiert sich über
das "Pathos der Deutschen", Ernst-Wolfgang Böckenförde situiert
sie zwischen "Staat, Nation, Europa", Frank Böckelmann aber bedenkt
in sechs Essays die "Deutsche Einfalt".
"Edle Einfalt und stille Grösse" hatte Johann Joachim Winckelmann als "vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterwerke" benannt, aber Karriere macht diese Formel erst als Selbstbeschreibung der Deutschen, die sich in Verlegenheit um eine eigene Identität ohnehin gern als Griechen sahen. Im 18. Jahrhundert versuchen sich die Deutschen mit einer Auf- oder Umwertung: Ja, wir sind einfältig, aber auf edle Weise, gewiss, still sind wir, aber darin liegt Grösse. Der Eindruck der Einfältigkeit hat sich festgesetzt im Vergleich, vor allem mit den Franzosen, deren Esprit, Raffinesse, Eleganz und Pracht den Deutschen verstummen lässt. "Auf die Frage, was die Deutschen seien", gibt Böckelmann "nach der Lektüre deutscher Klassiker die Antwort, dass sie einfältig sind, genauer: sich beharrlich für einfältig halten" - einfältig im Gegensatz zur französischen Lebensart. Mit einem gewissen trotzigen Stolz wird dieses Gefühl blöder Unterlegenheit umgewertet zum Ausdruck souveränen Schweigens vor dem welschen Geschwätz, ein Topos, der sich noch in der Abwertung eines Derrida oder Lacan durch deutsche Gelehrte findet, oder man schlüpft, verlegen über die deutsche Einfalt, in die Haut des Anderen, spricht französisch, trinkt Champagner und gibt sich à la mode - eine Variante, die man heute in der distanzlosen Kopie eines Derrida oder Lacan durch deutsche Gelehrte wieder findet.
Einfalt und Tiefsinn
Die Geschichte der deutschen Einfalt reicht bis ins 8. Jahrhundert
zurück, in dem sich germanische Heeresverbände "tiudisk" nennen
im Gegensatz zu den "welschen" Heeresgruppen romanischer Provenienz. Die
Bezeichnung "tiudisk" ("dem Eigenen zugehörig") macht aber nur Sinn,
wenn man weiss, wer nicht dazu gehört: die Welschen nämlich.
Die Deutschen sind die, die keine Italiener oder Franzosen sind, sie bilden
eine negative Identität aus, die ihre Gestalt in der Abgrenzung vom
Anderen findet. Und wenn der andere geistreich und leichten Sinnes ist,
dann charakterisiert der Deutsche sich eben durch Einfalt oder Tiefsinn.
Friedrich Nietzsche hat in der Liebe zur Einfalt eine "niaiserie allemande" gesehen und vor ihren Folgen gewarnt: "Hüte dich vor der heiligen Einfalt! Alles ist ihr unheilig, was nicht einfältig ist; sie spielt auch gerne mit dem Feuer - der Scheiterhaufen." Böckelmann geht in dem Essay "Judenvernichtung" der unglücklichen Tradition deutscher Negation nach. Die Deutschen, das waren für die Nazis die "Artverwandten" oder "Arier" im Gegensatz zum Juden. Wir sind wir, weil wir nicht sind wie die anderen. Der Andere galt als leicht zu erkennen, so anders, so "artfremd" war er: "Die Nationalsozialisten erachteten es für eine Binsenweisheit, dass die Angehörigen der «jüdischen Rasse» auf den ersten oder spätestens auf den zweiten Blick identifizierbar seien." Rassenbiologen verfassten den jüdischen Steckbrief: herabhängende, fleischige Nase, hängende Unterlippe, kleinwüchsig etc. Das Bild gibt sich wissenschaftlich. Das Anthropologische Institut der Universität Wien etwa verkündet, dass "bei jüdischen Kindern schon am ersten Tag ihres Lebens die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse feststellbar" sei. Doch entsprechen die Juden diesem Stereotyp natürlich nicht, und die Rassenforscher scheitern daran, den Anderen an anthropologischen Merkmalen zu erkennen. So wird das Judentum nicht ethnisch, sondern durch "willkürliche, bürokratische Kriterien" bestimmt: Stammbäume, Religionszugehörigkeit, Familiennamen. Ab 1938 sind die Juden, die einen Judenstern tragen, nicht aber "jüdische Nasen". Der Rassismus predigt den Augenschein der rassischen Unterschiede und bezweifelt ihn zugleich. Da Nicht-Juden genauso aussehen wie Juden, verpflichtet das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes" jeden Deutschen, nachzuweisen, nicht jüdisch zu sein: "Somit stehen jeder Deutscher und jeder sonstiger Europäer im Verdacht, Jude bzw. Judenmischling zu sein, solange sie nicht das Gegenteil glaubhaft gemacht haben." Viele halten sich "für möglicherweise jüdisch kontaminiert". Namen werden geändert, Urkunden verschwinden oder werden gefälscht, wer es vermag, "weist seine untadelige Abstammung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nach". Zugleich tragen, typisch deutsch aussehende Personen einen Judenstern und machen die "Nichtsichtbarkeit des Jüdischen sichtbar". Die Eugeniker gehen nun davon aus, dass das Judentum längst im deutschen Wirtskörper aufgegangen ist, man spricht von einer "Blutvergiftung", von "parasitärem Befall". Diese Metaphern verweisen auf ein "intimes", symbiotisches "Verhältnis". Der Jude ist nicht der Andere, sondern das andere im Deutschen. "Wir werden gesunden, wenn wir den Juden eliminieren", verspricht Himmler. Die Judenvernichtung als "innere Reinigung" der Deutschen vom Anderen. Böckelmann deutet vor diesem Hintergrund die "Endlösung" und den "totalen Krieg" als Versuch, mit dem vergifteten Wirt auch den so schwer auszumachenden Parasiten zu zerstören. Die "Judenverfolgung" führte so in den "Beginn einer unbeendbaren Selbstzerstörung". Hitler sieht 1945 im aussichtslosen Vernichtungskrieg eine "radikale Entgiftungskur" Europas.
Positives Bild
Die Essays über die BRD vor und nach der Einheit sind bösartig
und scharfsichtig genug, das fatale Erbe der negativen Identitätsbildung
bis heute weiterzuverfolgen. Um sie fortzusetzen, genüge heute der
Verweis auf "Auschwitz", denn er macht plausibel, warum die deutsche Nation
anders als alle anderen ist. "Auschwitz" verhindere so die politische Definition
"spezifisch deutscher Ziele" und den Entwurf eines "positiven Bildes".
Stattdessen folge Deutschland willenlos seinen Verbündeten oder betreibe
seine Selbstaufhebung in "Europa, Nato und Uno", der Zivil- oder "Weltgesellschaft".
Die "deutsche Selbstverneinung" mache die Deutschen wieder "unberechenbar
und orientierungslos". Böckelmann scheint es für ungefährlicher
zu halten, wenn sie begännen, "im eigenen Namen zu handeln".
Frank Böckelmann: Deutsche Einfalt. Betrachtungen über ein
unbekanntes Land. Hanser Verlag. München 1999. Edition Akzente, 263
S., 39,90 Fr.