Wie die Fama will, brannte es einst in der Berliner Wohnung des Privatdozenten Bolz, der vom Bürgersteig hilflos mitansehen musste, wie Feuerwehrmänner die brennenden Gesamtausgaben der philosophischen Klassiker aus dem Fenster warfen. Das Buch, das Bolz danach veröffentlichte, hieß "Am Ende der Gutenberg-Galaxis" und verkündete die "Neuen Kommunikationsverhältnisse" des Cyberspace. Das "Manuskript", weiß das Gerücht, habe den Brand auf einer Diskette überstanden. Unbelastet vom Andenken der Tradition konnte Bolz seinem Ruf an den Lehrstuhl für Design der Universität-Gesamthochschule Essen folgen. Seitdem beschäftigt er sich mit dem "Abfackeln" - ein Lieblingswort - der veralteten Bestände und der Brandrettung mancher zeitgemäßer Fragmente.
So wurde gegen die Klassiker und mit ihnen der Schein gegen das Sein verteidigt, das Chaos gegenüber der Ordnung nobilitiert, die Oberfläche der Tiefe vorgezogen oder auch der Nonsens dem Sinn. Wenn es einen roten Faden in Bolz' Werk gibt, dann den der Umwertung der Werte. Was den 68ern heilig war, wird profaniert, und was Adorno diabolisch erschien, darf des Lobes gewiss sein.
Auch sein neuestes Buch verfährt so. Der Untertitel "Ende der Kritik" verrät, was demontiert werden wird, und man hat mit der Vermutung ganz Recht, dass all das Bolz' Beifall finden wird, was "die" Kritik verabscheut, verdammt und verreißt. "Der Markt korrumpiert, Trends sind oberflächlich, und der Zeitgeist ist nur der Medienherren eig'ner Geist - wer die Welt so sieht, gilt als unbestechlicher Mahner, der natürlich einen Ehrenplatz im Feuilleton verdient hat."
Bolz dagegen zeigt, dass heutzutage der Kommerz mit dem Kitsch à la Jeff Koons der negativen Ästhetik Adornos überlegen ist, dass heutzutage Trendforscher und Szenescouts das Inland viel genauer zu beobachten vermögen als die bornierten Mode- und Zeitgeistverächter, dass heutzutage der lustvolle Umgang mit (Benutzer-)Oberflächen den neuen Technologien viel angemessener ist als "kritisches Hinterfragen" oder die Konsumenten von Beavis & Butthead mehr Geschmack und Intelligenz beweisen als die Anhänger von Franz Alt und Lea Rosh.
Der Feind steht nicht links oder rechts, auch diese Koordinaten sind längst veraltet, Bolz' Gegner erkennt man an ihrer Langweiligkeit. Seine Polemik zielt auf die "Warner und Mahner", die "Betroffenheitsdarsteller und Bedenkenträger", die "kritischen Bewusstseine", die aus der Sicherheit ihrer uralten Überzeugungen heraus den Lauf der Dinge zur Bedrohung stilisieren. Universaler Verblendungszusammenhang oder Kulturindustrie lauteten die Formeln für das schlechte Ganze zu Adornos Zeiten, heute Waldsterben, Ozonloch, Wärmetod. Die Gewissheit der 68er, die Dialektik der Aufklärung führe zwingend zur Selbstvernichtung des Menschen oder doch zu dessen Entfremdung zu einer funktionierenden Maschine, lokalisiert Bolz heute im grünen Glauben an die Öko-Apokalypse. Wer früher gegen das "faschistische" Establishment demonstrierte, um die Gesellschaft zu verändern, unterstützt heute Greenpeace, um die Natur zu retten. In beiden Fällen versichert sich der Protest im Dagegensein eines festen Standortes, nur die Kritik "des" Systems gewährt die Möglichkeit, die dynamische, hochkomplexe, differenzierte Gesellschaft als Einheit zu beschreiben. Die Unübersichtlichkeit der Lage schwindet im "big picture", das Kritik und Protest von ihr zeichnen. Mit komplexen Verhältnissen muss sich nicht beschäftigen, wer in Shell Oil den bösen Buben entdeckt.
So weit, so gut. Am polemischen Teil des Buches lässt sich allenfalls bekritteln, dass er zum guten Teil offene Türen einrennt. Bolz ist wahrlich nicht der erste, der über die Political Correctness herzieht, Gutmenschen verspottet oder den sakralen und autoritären Gestus der Frankfurter Schule enttarnt. Man könnte überdies versucht sein - "autologisch", wie Bolz anmerken würde - zu fragen, ob die Kritik an der Kritik nicht auch der kritisierten Simplifizierung aufsitzt und so zu Pauschalstatements wie dem vom ewig mahnenden Feuilleton führt. Zur "Autologie" seines Textes gehört es vielleicht auch, dass er fünfmal verkündet: "Konsens ist Nonsens", um dann weitere fünfmal so zu beginnen: "Heute ist wohl unstrittig, nicht mehr kontrovers, dass ...". In kritischen Zeiten hätte man dies einen performativen Selbstwiderspruch genannt.
Der Text will aber nicht nur polemisieren, sondern widmet sich erneut der "Beobachtung und Beschreibung" - nicht der Kritik - der "neuen Kommunikationsverhältnisse". Dieser Versuch einer Bestandsaufnahme zeichnet sich durch eine intensive Luhmann-Rezeption und die Extensität des Gegenstandsbereiches aus. Luhmann liefert allerdings wenig mehr als die Stichworte, um Beliebiges zu thematisieren: Mode und Trends, die Zukunft der Universitäten und der Kunst, die Rolle der Unternehmensberater und Theoriedesigner, die Moral der Massenmedien, die Wiederkehr des Rituals, der Rhetorik und des Pathos, das Ende des Geschmacks und des Parlamentarismus.
Des Allerneuesten wird hier gedacht, dem cellular phone, der "Harald Schmidt Show", dem Schröderismus, der Rhetorik des Cyberspace - bisweilen originell und überraschend, manchmal erwartbar und gesucht. Nicht in seiner Wortwahl, wohl aber in der Konstruktion seiner Thesen erweist sich Bolz hier eher als Schüler des Anthropologen Arnold Gehlen denn als Systemtheoretiker. Die analysierten Phänomene der Gegenwart, vom Ritual bis zur Talkshow, dienen, so die Generalthese, der Kompensation. Der Kult des Ichs kompensiere die Entmündigung des Einzelnen durch autopoietische Systeme, die Sehnsucht nach Ganzheit kompensiere die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die postmoderne Kunst tröste den Menschen über seine Entfremdung hinweg, die Rhetorik halte uns die "tödliche Unmittelbarkeit des Realen" vom Leib und "für jeden Franz Alt" gebe es im TV einen "Ingolf Lück ". Harald Schmidts "wunderbar stereotype Polenwitze" und die Einlage "Konfuzius sagt ..." erhalten größtes Lob, weil ihr Nonsens die Zuschauer von den Sinnzumutungen und Denkverboten der "Heiligen Allianz der Warner, Mahner und Betroffenheitsdarsteller" entlaste.
"Lachen ist gesund, denn es hat therapeutische Effekte." So steht es denn gar nicht allzu schlimm um die Nation, denn wo immer Hermeneuten nach Sinn suchen, bleibt auch eine entsprechende Kompensation fabelhaft oberflächlich, wo immer jemand negiert, sagt ein anderer ja, und wo Prinzipienreiter kritisieren, singt Bolz das Lied vom "Opportunismus als Sinn für nichtlineare Dynamiken der modernen Gesellschaft". Bolz hat Koons gegen Adorno antreten lassen, um den Sieg des Kitsches zu feiern. Die Stunde ist günstig, das Ende der Kritik steht auf der Tagesordnung, die "trübe Suppe der metaphysischen Tiefe" ist endlich ausgelöffelt. "Und in genau diesem Sinne hat sich in Deutschland in den letzten Jahren etwas zum Guten gewendet. Wir sind mediterraner geworden." Solche Statements sind nicht zu falsifizieren, aber man könnte ja einmal darüber plaudern, vielleicht in Positano, bei Minestrone und Prosecco.
Norbert Bolz: "Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik". Fink Verlag, München 1999, 202 S., 38 DM
taz Nr. 5927 vom 1.9.1999 Seite 16 Kultur 232 Zeilen
Kommentar Niels Werber