Tages-Anzeiger
Publikations-Datum: 19990621
Seite: 55

Kultur

Instant-Soziologie als Überlebenswissenschaft

Heinz Bude hat seine aktuellen Betrachtungen zur "Ironischen Nation" der Nachwendezeit nun als Buch veröffentlicht.


Autor: Von Niels Werber

Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist längst zu einem Zentrum für eine Wissenschaft geworden, die in laufende Debatten eingreift oder sie - wie im Falle der "Wehrmachtsausstellung" - selbst anzettelt. Heinz Bude, der dort den Arbeitsbereich Politik und Gesellschaft der alten und neuen Bundesrepublik leitet, möchte dies auch; sein neues Buch "Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose" will nicht nur beobachten, sondern "sich einmischen", will nicht nur den gelehrten Diskurs fortsetzen, sondern "den Kontakt zu den Deutungsbedürfnissen der Leute und den Ausdrucksformen der Gruppen" halten.

Während die "Soziologie ratlos am Ende ihres Jahrhunderts" stehe und besonders die Systemtheorie nur noch hilflos konstatieren könne, dass "die Differenzierung des gesellschaftlichen Ganzen in verschiedene Funktionsbereiche und Handlungssphären eine Bedingung der Moderne wie der Barbarei" sei, möchte Bude der Soziologie eine echte "Aufgabe" zurückgewinnen: und zwar als "Zeitdiagnose", als "Gegenwartsdefinition", als "Überlebenswissenschaft".

Niklas Luhmanns unterkühltem Programm einer Abklärung der Aufklärung stellt Bude sein anspruchsvolles Projekt einer reaktionsschnellen und interventionsfähigen "soziologischen Aufklärung" entgegen. Dieser Programmatik entsprechen seine elf kurzen Aufsätze mit ihrer Themenwahl durchaus. Es geht in ihnen um die Lage nach dem Ende der deutsch-deutschen Teilung, vor allem auch nach dem damit zusammenfallenden "Ende der ironischen Nation der Bundesrepublik", deren "kollektive Selbstverständnisse" nicht in die Berliner Republik hinüberzuretten seien. Die alte BRD habe im Schatten ihrer selbstverständlichen Westbindung ein zurückhaltendes Verständnis ihrer Souveränität gepflegt, im Staat vor allem eine Instanz gleichsam technischer Problemlösung gesehen, sei insgesamt "ohne grossen Sinn und ohne Ernstfall" gewesen.

Sozial erstarrte Gesellschaft

Vierzig Jahre erfolgreicher Demokratisierung und Entwicklung des "Wohlfahrtsstaates und des Massenkonsums" hätten zu einer "sozial erstarrten Gesellschaft" geführt. Die "deutschen Eliten" scheinen die neuen "Herausforderungen" nach 1989 nicht erkannt zu haben, sondern weiterzuwursteln wie bisher. Ein Ausdruck der Fantasielosigkeit wenigstens der politischen Führung sei das "leichtfertig zum Staatsziel erhobene Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse", das in "Ostdeutschland" zu einer "Akteurfiktion" geführt habe, die mit Drohungen agiere: "Wenn der Westen nicht in bisherigem Masse bereit ist, den Osten zu alimentieren, dann ist zwischen Werra und Oder mit Rechtsradikalismus, kollektiver Verstocktheit und noch anderen, möglicherweise gefährlicheren Formen sozialer Defensive zu rechnen." Vielfach sind die Anzeichen für "die Wiedererstehung der Differenz nach der Einheit". Identität vermag eine solche "Nation" kaum zu stiften, sie wird nun regional oder gruppenweise erzeugt mit einer Vergleichstechnik, die Eigenes gegen Fremdes profiliert. Darin liege die Bedeutung der "Kultur", die "längst die Funktion als Identitätsgarant" übernommen habe, indem sie eigene Regional- und Subkulturen von anderen unterscheide. Wo man bislang nur die multikulturelle Vielfalt gelobt hat, macht Bude gefährliche Varianten aus, wie etwa einen rechten "Ethnopluralismus", der "Deutschland den Deutschen und die Türkei den Türken" zuweise.

Manches bleibt banal

Solche Beobachtungen sind interessant, und es gibt keinen Mangel an ihnen; das Problem von Budes Soziologie als Zeitdiagnose ist jedoch, dass sie zwar sensibel auf aktuelle "Konjunkturen" bestimmter Probleme reagiert, aber oft keine Auskunft darüber zu geben vermag, warum sie etwa so sieht, wie sie es sieht. Es fehlt Bude ausgerechnet an Ironie, verstanden als methodisch reflektierte Distanz zum Gegenstand oder als Sinn für die Perspektivität der eigenen Beobachtungen. Die Aufsätze, allesamt bereits in Zeitschriften publiziert, sind inspiriert vom Zeitgeschehen und getragen von der Gelegenheit; eine einheitliche soziologische Perspektive aber geht ihnen ab, obschon sich vielleicht sagen liesse, dass Budes Vorstellung von der Gesellschaft vor allem eine politische ist. Dazu passt jedenfalls seine Verwechslung von Staat und Gesellschaft, die etwa darin ihren Ausdruck findet, dass aus der systemtheoretischen Auffassung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme geschlossen wird, der "Staat" sei "ohne Zentrum und ohne Spitze". Gemeint ist mit der Funktionsdifferenzierung aber, dass die Gesellschaft kein Zentrum habe, das für alle verbindliche wirtschaftliche, politische, religiöse, ästhetische oder wissenschaftliche Operationen etwa in "Verhandlungssystemen" koordinieren könne.

Was im Übrigen als Soziologie auftritt, könnte oft genauso gut der Kulturwissenschaft, der Ethnologie oder der Politologie entstammen und bleibt bisweilen so banal wie die "systematische Schlussfolgerung", dass die "unterschiedlichen Effekte sozialdemokratischer Politik" auch von den jeweiligen "ökonomischen Ausgangsbedingungen" abhängen, oder die These, dass der "Bürger im ewigen Wechsel seiner Präferenzen" sich einmal seinen "privaten Interessen" zuwende und ein andermal wieder dem "öffentlichen Wohl". Dies alles mag von verschiedenen soziologischen Schulen auch unterschiedlich gesehen werden; schlechthin indiskutabel sind aber Fehler wie die Verwechslung der rousseauschen "volonté générale" mit einer ominösen "volunté générale" oder die Behauptung, nur deutsche Staatsbürger könnten "die sozialen und ökonomischen Wohlfahrtsrechte" in Anspruch nehmen, als bezögen nicht alle, die an Arbeitslosen- oder Krankenversicherungen Beiträge entrichtet hätten, auch entsprechende Leistungen. Angesichts des Anspruchs, mit einer "ratlosen Soziologie" einen Weg zu weisen, wirken solche Passagen ärgerlich. Als Marginalien im "Merkur" dagegen hatten Budes oft inspirierenden Essays ihren angemessenen Ort.

Heinz Bude: Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose. Hamburger Edition 1999. 186 S., 31 Fr.

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