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Supermans Erben

Vororte zu Wagenburgen: Ein neuer amerikanischer Trend

Von Niels Werber

Unendliche Weite oder klaustrophobische Enge, Marlboro Country oder Großstadtdschungel. Die von Hollywood und der Werbewirtschaft kultivierten amerikanischen Mythen haben zwei Extreme: die wilde, aber freie Landschaft der Western, die keine dauerhafteren Spuren der Zivilisation trägt als die Abdrücke der Planwagen oder Jeeps; und die Großstadt des Action- und Krimi-Genres als Käfig aus Asphalt, Stahl und Beton, unter deren grauer Dunstglocke, umzingelt von Hochhäuserblocks, sich die viel zu vielen auf engstem Raum ballen.

Der ungezügelten Freiheit des Cowboys wird die rigideste architektonische und soziale Zügelung des urbanen Massenmenschen entgegengestellt, aus der im Kino nur Psychopathen und ihre Jäger auszubrechen pflegen. Wenn in diesen Bildern der Massenmedien Auskunft über das kollektive Unbewußte einer Kultur zu erhalten ist, dann fällt ein zentraler Unterschied zwischen den us-amerikanischen und deutschen Befindlichkeiten ins Auge, welcher der geläufigen These von der Nivellierung kultureller Eigentümlichkeiten durch den weltweiten Einheitsbrei der Film- und Fernsehproduktionen widerspricht: Es ist der Raum, der in den USA vollkommen anders inszeniert wird als hierzulande, mit entsprechenden Folgen für die Anfertigung sozialer Selbstbeschreibungen.

Unsere kleine Stadt

In Deutschland fehlt es nicht nur an Fluchträumen, in denen Individualisten dem zivilisatorischen Behaviorismus der Ballungsräume entkommen, sondern auch an jenem paranoiden Dickicht aus U-Bahn-Röhren und Häuserschluchten, deren geheimer Zweck nur in der Erzeugung und Entladung von Aggressionen zu liegen scheint. Wenn in Deutschland diese beiden Extreme medialer Phantasien - nomadische Freiheit und großstädtische Einsperrung - nicht anzutreffen sind, liegt es nahe, daß hierzulande auch jene Utopie nicht gepflegt wird, in die man flüchtet, um dem gesetzlosen Anarchismus der Nomaden und der anonymen Massengesellschaft der Millionenstädte zu entkommen.

Es ist der Vorort, der die Vorzüge des Landes mit denen der Metropolen kombiniert und die Nachteile draußen zurückläßt. Die Infrastruktur (Straßen, Shops, Telekommunikation) ist städtisch - aber übersichtlich und ohne bedrohliche Enge. Drogen, Gewaltverbrechen, Zivilisationskrankheiten, Ghetto-Aufstände oder Kinderprostitution gibt es nicht hier, sondern woanders.

Die in den USA vielbeschworene "Community" hat hier genauso ihren eigentlichen Ort wie der Kommunitarismus, dessen Tugenden wie "eheliche Treue, die Liebe zur eigenen Familie und Verwandtschaft, Freundschaft und die Loyalität zu Institutionen wie Schulen oder Cricket- oder Baseball-Clubs" (Alasdair McIntyre) allesamt voraussetzen, daß man den Anderen kennt, mit ihm verwandt, befreundet oder im gleichen Club ist. Aus der Kleinstadt schlechthin, aus Smallville, kommt nicht zufällig der Ultrakommunitarist und Großmeister der political correctness: Superman, der täglich die gigantische Metropolis vor dem Verderben an sich selbst rettet.

Selbstverständlich ist auch Smallville eine Fiktion, die selbst in den Produkten der Traumfabrik längst als bloße Fassade dekonstruiert wurde. Doch gerade als bedrohte Utopie entfaltet das massenmediale Bild von unserer kleinen Stadt eine besondere Attraktivität. Die sozialen Kräfte, die von diesen Phantasmen in Bewegung gesetzt werden, sind allerdings überaus real.

Alle überwachen alle

Ihr ganz handgreiflicher Fluchtpunkt ist die Abschottung der Neighborhoods von ihrem Umland, die Verwandlung einer zufälligen Ansammlung von Häusern und Bewohnern zu einer "Wagenburg", die von einer verschworenen Gemeinschaft verteidigt wird.

Verteidigen heißt: Neighborhood watch. Selbst wenn es die Sicherheit und Geborgenheit, die Freundlichkeit und Harmlosigkeit der Kleinstadt nie gegeben hätte - diese Eigenschaften werden entschlossen verteidigt. Ein Reisender bemerkt dies sofort an Schildern, auf denen Neighborhood watch steht, oder an Checkpoints der Zugangsstraßen zum Vorort, wo bewaffnete Grenzposten Auskunft darüber verlangen, was man in der Siedlung zu suchen habe.

Die Erfahrung, von einer Patrouille aus Anwohnern bei einem Spaziergang durch ihre Kommune aufgegriffen zu werden, wird man vermutlich in West-Europa nirgendwo machen können. Da der Staat nach Überzeugung vieler Amerikaner seiner Kernaufgabe, überall auf seinem Territorium für "Ruhe, Sicherheit und Ordnung" (Carl Schmitt) zu sorgen, nicht länger gewachsen ist - und dies ist angesichts sinkender Kriminalitätsstatistiken vermutlich eine Folge massenmedial genährter Angst -, greifen die Bürger zur Selbsthilfe.

Fast in jeder Kleinstadt wird dazu aufgerufen, gemeinsam mit den Nachbarn ein Neighborhood watch team zu gründen, das dafür Sorge trägt, daß der Anarchismus in der Prärie und die Kriminalität in der Großstadt verbleiben. Eine Homepage in Santa Monica verspricht: "Statistiken und Verbrecher bestätigen gleichermaßen, daß auf die Organisation der Nachbarschaft eine drastische Reduzierung der Kriminalität folgt."

Nur eine echte Gemeinschaft kann solche Wunder bewirken, denn der gefürchtete Eindringling fällt nur dann auf, wenn jeder jeden kennt. Neighborhood watch bedeutet zuerst: permanente Überwachung aller durch alle, weil erst dann dem wachsamen Nachbarn alles Ungewöhnliche und Fremde auffallen muß: "ungewöhnliche Geräusche", "dubiose Vorgänge in Häusern oder Geschäften, deren rechtmäßige Eigentümer nicht zu Hause sind", "Fremde, die in Autos sitzen und etwa Kinder ansprechen", "entwendete Autos". Diese Liste der Gemeinde Eureka kann nur dann Orientierung bieten, wenn man alles über seine Nachbarn weiß - wer ist wo zu Hause oder im Urlaub, wer erwartet wen wann zu Besuch, wer hat ein neues Auto etc. Der Kommunitarismus vertritt die Ansicht, eine Community entstehe auf Basis geteilter Tugenden und Werte.

Hier sieht man dagegen: die Gemeinschaft der Nachbarschaft verdichtet sich über die gemeinsame Abwehr des alien intruder. Obschon Neighborhood Watch eigentlich als Verteidigung der Community gedacht ist, stellt sie diese also erst wirklich her. Erst sie integriert die sonst gleichgültig nebeneinander herlebenden Bewohner eines Viertels zu einer Gemeinschaft. Neighborhood Watch funktioniert nur, wenn es gelingt, "alle Nachbarn zu involvieren".

Die Anleitung in Santa Monica "How Do I Start a Neighborhood Watch?" liest sich daher wie eine Checkliste zum Aufbau einer kommunitaristischen Gemeinschaft: Man solle sich gut kennenlernen und niemanden ausschließen, ein Wir-Gefühl erzeugen, gemeinsame Picknicks und Parties veranstalten. Vielfältige soziale Aktivitäten würden einen "Kohäsionseffekt" auslösen, der die Nachbarn zu einer Gruppe mit "Gemeinschaftssinn" zusammenschweiße. Wer hier nicht gleich mitmachen will, wird mit Hinweisen auf die "jüngsten kriminellen Aktivitäten in der Gegend" in die Wagenburg hineingeholt.

Die Stadt im Staate

Wer sich diesem Inklusionssog dennoch entziehen will, wird ausgeschlossen und aus der Neighborhood herausgedrängt. Der nächste Schritt dieser Wohngegenden, deren Grenzen gesichert und deren Inland überwacht sind, ist die Übernahme von Hoheitsrechten des Staates. Gegenwärtig diskutiert man in den USA über das Recht solcher Enklaven, Steuern zu kassieren, die bisher noch den Kommunen zufließen, deren Leistungen sie schließlich längst übernommen haben.

Ein kommunitaristischer Sozialvertrag für die Stadt im Staate: Kein (Stadt-) Staat ohne Verfassung. Das Institute for the Study of Civic Values hat eine verfaßt: den "New Social Contract". Die Autoren stellen ihn als unmittelbaren Nachfolger der in Philadelphia unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung vor. Den wahrhaft "distinctly American values" verpflichtet, würde er die "Community in the American Tradition" erneuern. Als Unterzeichner sind bestimmte Einwohner Philadelphias vorgesehen, nämlich die Leiter (block captains), Unterstützer und Mitglieder der Neighborhood Watch-Assoziationen.

Aus dem Geist der Wagenburgen entsteht der Kontrakt, deren Unterzeichner geloben, ihre Community zu einem "attraktiven, sicheren, ökonomisch wertvollen und rundum netten Ort zu machen", an dem es sich lohnt, "zu leben und Kinder groß zu ziehen". Diese Mittelstandssiedlungen verfügen über eine gute Infrastruktur, Parks und Erholungsmöglichkeiten, gute Schulen. Die Community sorgt für innere Sicherheit und entsorgt vereint alles, was dem Geist der Gemeinschaft widerspricht - vom "herumliegenden Müll" bis zum "Graffiti", von "Drogenabhängigen" bis zu "Gang-Mitgliedern". Bei einem Erfolg dieses Vorhabens würde Philadelphia endlich zu dem Ort werden, den sich sein puritanischer Gründer, der Quäker William Penn, erträumt hatte: eine Gemeinde.

Von außen betrachtet, muten diese Nachbarschaften, die sich oftmals nur "wenige Blöcke entfernt" von den verwahrlosten "Kriegsgebieten" der Innenstädte befinden, wie exterritoriale Zonen an. Wohnen kann hier nur, wer es sich leisten kann, und wer über die Mittel verfügt, verläßt die Großstadt und zieht in eine "guarded community". Sie verkaufen sich als Inseln in einem Meer der Gewalt und staatlicher Inkompetenz. Nicht die Polizei, sondern Security-Firmen und Freiwillige sorgen für Sicherheit, kein Bürgermeister, sondern ein Management sorgt für Effizienz der Verwaltung. Die Rechte der Bewohner sind in Verträgen geregelt, ihre Ansprüche haben sie sich durch Geld erworben. Mitten in den USA entstehen so Exklaven, die Teile des staatlichen Gewalt- und Steuermonopols zu übernehmen trachten und wohlmöglich das Modell des Nationalstaates ablösen werden.

Dieses Produkt wird bald Exportreife erreichen, und man wird sehen, ob das vor Migrantenströmen und grenzenloser Kriminalität zitternde Europa ein guter Kunde werden wird für das Versprechen sicherer Lebensräume hinter nie bewachten Grenzen.

Im Internet lassen sich unter folgenden Adressen weitere Informationen zur Neighborhood watch und zum New social contract finden:

http://redwood.northcoast. com/~eurekapd/looking.htm

http://santamonicapd.org/prevent/safearea.htm

http://www.tnews.com/text/sabin.html

http://www.libertynet.org/~edcivic/socintro.html

http://santamonicapd.org/prevent/neighbor.htm .

 

[ dokument info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 1998
Dokument erstellt am 26.04.1998 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 27.04.1998

 

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